Von Martin Mengden. Bild Simon Hegenberg.
Alles begann mit der Freilegung des Bachs 2015: Der Beschluss der Stadt, den Wellritzbach am Platz der deutschen Einheit und anderswo an die Oberfläche zu legen und so allgemein nutzbar zu machen, war der Samen, aus dem alsbald der erste Spross der Separation keimte. Damals, 2015, überwarfen sich zwei Strömungen innerhalb der Stadt zum ersten Mal: Als einige Stadtbewohner begannen, nach ihren Vorlesungen an der Hochschule oder nach der Arbeit in der Agentur an dem neuen Bach zu picknicken, häuften sich im gleichen Maß die Beschwerden anderer Bevölkerungsgruppen. Besonders nahmen diese Anstoß daran, dass die Bachbenutzer immer häufiger Parkplätze nutzten, um dort Fahrräder abzustellen. Sie wurden als „lächerliche Radler“ beschimpft, die wohl keine Arbeit hätten, zu der sie fahren müssten.
Es folgte eine Reaktion, die heute als Vorläufer der „velophilen Revolte“ bezeichnet wird: Die Wut und die Angst der immer größer werdenden Fahrradszene war nicht zuletzt infolge der Beschimpfungen so dringlich geworden, dass ihre vormals friedlichen Demonstrationen immer gewaltsamer verliefen. Die Gewalt eskalierte schließlich, als bekannt wurde, dass ein älterer Herr einer jungen Fahrradfahrerin seinen Gehstock zwischen die Speichen gerammt hatte, weil sie aus Angst vor dem Straßenverkehr auf dem Gehweg gefahren war. Solidarisch flogen seither Speichen-Reflektoren und Luftpumpen gegen Windschutzscheiben, Webseiten wurden errichtet, auf denen man besonders aggressive Autofahrer und militante Fußgänger listete. Ein extremer Flügel der sich abgekürzt „Vevos“ nennenden Revolutionäre setzte seine kratzenden Fahrradschlüssel bald auch gegen bislang unauffällig gebliebene SUVs ein. Im Gegenzug wurden systematisch Fahrradreifen zerstochen, Bremsbacken demontiert und Radgabeln angesägt. Um das Jahr 2025 war es unter Autofahrern üblich geworden, keinen Wagen unterhalb einer gewissen Größe zu kaufen. Nur selten wurde noch weniger als sechzig Stundenkilometer gefahren, an Ampeln wurde nicht mehr gehalten.
Der Streit um einen kleinen Bach hatte sich zu einem Bürgerkrieg entwickelt. Schlichtungsversuche wurden unternommen, doch die Vevos ließen sich von ihren Forderungen nicht abbringen: Sie bestanden auf ein flächendeckendes Radwegnetz, das viele Parkplätze kostete. Später verlor das Zerwürfnis mehr und mehr von seinem Fahrradbezug. Die Vevos drängten jetzt auf nichts weniger als eine ordnungs- und wirtschaftspolitische Neuausrichtung der Stadt. Sie forderten unter anderem die Förderung privat organisierter Straßenfestkultur, Urban Gardenings, Sharing Economics etc. Zaghafte Angebote seitens Politik wurden als faule Kompromisse abgetan.
Daraufhin ereignete sich etwas, das von heutigen Stadthistorikern als „weiche Separation“ bezeichnet wird: Vevo-nahe Bürger zogen massenhaft in die Stadtteile Westend, Rheingauviertel, Bergkirchenviertel, Sympathisanten der Konter-Revolution flüchteten sich in die verbliebenen Stadtteile.
Der separatistische Flügel der Vevos hatte in „ihren“ Stadtteilen nun die Überhand gewonnen. Im Jahr 2030 startete die groß angelegte Unabhängigkeitskampagne „Raus aus den 50ern – rein in die eigene Stadt“. Das anschließende Referendum unter den Bewohnern Vevo-naher Stadtteile ging mit 73% zugunsten der Unabhängigkeit aus. Damit war es besiegelt: Die Stadt „Wies“ war geboren. Schon um nicht länger die Bezeichnung der Feinde im Namen zu tragen, benannte sich der verbliebene Teil Wiesbadens kurz darauf in „Baden“ um.
Schnell reagierten die Gastronomie, der Einzelhandel und die Kulturszene auf die Spaltung: Während in Wies sich zunehmend vegane und vegetarische Restaurants ansiedelten, Ateliers, Galerien, Agenturen, Kneipen und sogar ein eigenes Stadttheater eröffneten, die eine offene und freundschaftliche Vernetzung und Kooperation zu pflegen begannen, das Radwegnetz und die Carsharing-Infrastruktur ausgebaut, vielerorts Parkplätze abgeschafft und die Anschaffung von E-Bikes finanziell gefördert wurde, um auch den Bewohnern die uneingeschränkte Teilhabe an der neuen Stadtkultur zu ermöglichen, waren es vor allem Autohäuser, schicke Currywurstbuden, Burgerläden und Seniorenheime, die zunehmend das Stadtbild von Baden prägten. Durch die Imageschärfung verzeichneten beide Städte massiven Zuzug entsprechend sympathisierender Bevölkerungsteile von außerhalb.
Die Städtefeindschaft war damit aber alles andere als beendet: Autofahrer, die Wies durchfuhren, wurden mit Vegi-Schnitzeln und Schutzblechen beworfen, an den Grenzen verzeichnete man unverändert massive gewaltsame Zusammenstöße zwischen Wies- und Badenern.
Aus diesem Grund begann man zu dieser Zeit mit dem Mauerbau, der das Bild beider Städte heute, 2040, leider so maßgeblich prägt.
Martin Mengden
Bild Simon Hegenberg