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Von der Seele reden! Wie gehen wir mit mentaler Gesundheit – oder auch „Mental Health“ – um?

Von Holger Carstensen. Fotos: Samira Schulz.

Alles beginnt mit der Panik-Attacke. Also: natürlich nicht. Dazu gleich. Aber akut beginnt Anjas Krankengeschichte mit der Panik-Attacke. Ihr Herz klopft wild. Sie schwitzt. Engegefühl in der Brust. Sie muss sich hinsetzen. Verpasst den Zug. Spürt Blicke auf sich. Was ist los? Infarkt? Nee, oder? Anja ist Ende 40. Sie ruft den Notarzt. Körperlich ist sie ok. Nach einer Weile ist es vorbei. Und Anja wird langsam klar: Das war Angst.

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Justus ist 22. 21, als er seine Attacke erlebt. Nach einem Kneipenabend mit Kommilitonen in Mainz stoppt er vor der Theodor-Heuss-Brücke, auf dem Heimweg nach Kastel. Er kann nicht drüber gehen. Zwei Wochen schon hat er Bilder im Kopf. In Alltagssituationen, an der Bahnsteigkante, beim Griff zum Küchenmesser; jetzt auch. Er sieht sich springen, ins endlose Nichts fallen. Auf dem Handy wählt er den Notruf. Minuten später nimmt ihn der Krankenwagen an Bord. Die Nacht verbringt Justus in der Klinik. Suizid-Gefahr. Dank Notruf gebannt

Zwei Betroffene erzählen

Anja und Justus erzählen uns ihre Geschichten. Sie wollen ihre Erfahrungen teilen, das Thema enttabuisieren, Vorurteile abbauen helfen. Denn nein: „Anja“ und „Justus“, das sind nicht ihre echten Namen. Vielleicht erkennt sich jemand wieder in ihren Beschreibungen. Vielleicht tragen sie dazu bei, dass sich jemand Hilfe holt. Auch darum wird es in der Artikel-Reihe zum Thema „Mental Health“ gehen: Wohin kann ich mich wenden? Was passiert eigentlich in einer Therapie, Klinik oder Tagesklinik? Was kann ich tun, wenn ich nicht selbst betroffen bin, aber helfen will und nicht weiß, wie?

Ganz vorne im Erkrankungs-Ranking

2022 belegen Angststörungen und Depressionen die vordersten Plätze im Ranking der psychischen Erkrankungen in Deutschland. Suizid als Todesursache erscheint in der Statistik doppelt so oft wie Verkehrs- und Drogentote sowie Morde zusammengenommen. 2020 nahmen sich offiziell 9206 Menschen das Leben – plus Dunkelziffer. Während sich also angeblich alle 11 Minuten ein Single auf einer Dating-Plattform verliebt, nimmt sich definitiv alle 57 Minuten ein Mensch in Deutschland das Leben. Frage: Wenn wir diese Zahlen vergleichen – bildet die öffentliche Debatte über mentale Gesundheit das Problem angemessen ab?

Haben Lockdown und Pandemie etwas zum Positiven verändert? Viele von uns erlebten, wie sich das Fehlen sozialer Kontakte oder geregelter Tagesabläufe auf die Psyche auswirkt. Sozialer Rückzug sowie der Verlust der Tagesstruktur, des Schlaf-Rhythmus sind die klassischen Begleiterscheinungen einer Depression. Viele erhielten so einen Eindruck, wie es ist. Bei manchen dünnes Eis.

Mental Health: Rebranding oder Umdenken?

Vielleicht hat der eine oder die andere bei sich selbst ungesunde Muster festgestellt. Das Thema Mental Health ist präsent. Apropos: ist das sinnvoll, statt von psychischen Krankheiten von Mental Health zu sprechen? Oder ist das nur ein griffiger Anglizismus, der besser rüber kommt im Gespräch als „psychische Krankheit“? Hippes „Re-Branding“ oder schon Ausdruck von Umdenken?

Justus sagt: letzteres.

Robert Enke und Kurt Krömer

Er erinnert an den Suizid von Robert Enke 2009. Enke ist damals offizielle Nummer zwei im Tor der Fußball-Nationalmannschaft. 40.000 Menschen nehmen in Hannover von ihm Abschied. DFL, DFB und seine Witwe Teresa gründen die Robert-Enke-Stiftung. Aufklärung über die Krankheit Depression ist ihr Ziel. „Wäre das damals nicht so öffentlich gewesen, würde Kurt Krömer heute nicht zu den Stars auf dem deutschen Buchmarkt gehören“, schätzt Justus. Krömers Buch über seine langjährige Depression steht tatsächlich seit Monaten auf den Bestsellerlisten. Ein Zeichen des großen öffentlichen Interesses. Und auch dafür, dass sich etwas tut.

„Ich bemerke da schon einen klaren Unterschied zwischen den Generationen. Als ich stationär war, auf dem Eichberg, da hat mein Großvater mich besucht. Und erwartet, dass wir `Psychos´ irgendwo im hinterletzten Flügel, so im Dunkeln versteckt sind. Der war total überrascht, wie hell und freundlich da alles ist“, lacht Justus. Auch seine Familie mütterlicherseits habe anfangs Schwierigkeiten im Umgang mit seiner Situation gehabt. Gleichaltrige Freund:innen hingegen nicht. „99,9 % meiner Freunde haben positiv reagiert, mich gelobt, dass ich mir Hilfe hole, oder gefragt, wie sich mich unterstützen können“, erzählt er.

Tabu, Stigma, Sprachlosigkeit

Auch das zeigt, wie wichtig reden ist. Und wie viel Sprache ausmacht. Denn Tabus und Stigmata rund um psychische Erkrankungen sind ein riesiges Problem. Für die Betroffenen, aber auch ihre Freunde, Familien, Angehörigen und Partner:innen. Die Sprachlosigkeit schafft Distanz, Unsicherheit, Unbehagen, Abgrenzung. Auf allen Seiten. Und die Betroffenen ziehen Scham- und Schuldgefühle noch weiter runter.

Dass psychische Erkrankungen wie Depressionen das Problem unserer (post-)modernen Gesellschaft sind, ist – Überraschung – nicht neu. Der „stern“ titelt im Oktober 1983: „Volkskrankheit Depressionen – Die Seele als Gefängnis. Millionen wissen nicht, woran sie leiden.“ Zwanzig Jahre später macht „Der Spiegel“ im Mai 2002 auf mit: „Depression – Die Volkskrankheit Nummer eins“. Und noch vor der Pandemie schlagzeilte erneut „Der Spiegel“ im November 2018: „Das düstere Ich – Depression: Wie gerät man hinein – wie kommt man heraus?“ Gute Frage eigentlich.

Einkauf im Dosensuppen-Radius

Weil Anja Angst hat, vor die Tür zu gehen, findet ihr Einkauf irgendwann am Büdchen statt. Der Kiosk ist nur 30 Meter weg, das schafft sie zu diesem Zeitpunkt gerade noch. „Ich hab´ gedacht, was denkt der von mir, wenn ich hier meine Dosensuppen kaufe.“ Tagelang ernährt sie sich von Sonnenblumenkernen und Honig, als alle Vorräte weg sind. Sie traut sich nicht jemanden anzurufen, zu fragen: „Kannst du mir helfen?“

Anja sieht rückblickend einen klaren Verlauf. Zwischen ihrer ersten Panikattacke und dieser Situation liegen circa vier Jahre. Die Seele wird nicht über Nacht krank. Routinen halten auch psychisch erkrankte Menschen oft am Laufen. Doch der Lockdown 2020 zieht Anja den Stecker. Die Schule, an der sie arbeitet, schließt. Die Herausforderung, den Unterricht von zu Hause zu machen, ohne äußere Motivation, enthüllt das ganze Ausmaß ihrer Krankheit. Sie liegt nur noch auf dem Sofa. Tag und Nacht verschwimmen. Die Depression hat ihr Leben übernommen. Was war passiert?

Schicksalsschlag

„Ich habe mir nicht erlaubt zu trauern. Und ich wusste auch nicht wie“, sagt sie rückblickend. Als bei Anjas Ehefrau 2015 ein besonders bösartiger Hirntumor diagnostiziert wird, ändert sich ihr Leben radikal. Das Glioblastom kommt mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von ca. 18 Monaten. Und das, wo beide sich zuvor ein Haus gekauft, und mit viel Energie saniert und renoviert hatten. „Alles ging ruckzuck“, sagt Anja, „quasi direkt von der körperlichen und seelischen Belastung der Sanierung in diese extreme, traumatische Krankengeschichte.“ Im Oktober 2016 stirbt ihre Frau Maria. „Wir hatten einen guten Abschied. Das hat mich lange getragen. Da war so´n Flow da, irgendwie. Dass ich seelisch total erschöpft bin, habe ich gar nicht gemerkt.“

Im Job funktionieren, privat abbauen

Während Anja im Job noch funktioniert, baut sie privat total ab. Sie hat keine Lust mehr, ihr Leben aktiv zu gestalten. Netflix auf der Couch und „Serien, Serien, Serien und Crunchyrolls“ füllen ihre Freizeit. Kopf abschalten, nichts fühlen wollen. „Im Nachhinein hätte ich mir die Zeit nehmen sollen, an die Trauer dranzugehen. Mit jemanden drüber reden. Aber ich bin sehr resistent, was Therapien und Hilfsangebote angeht.“

Immer noch gibt es bei Betroffenen die Idee, dass sie selbst „schuld“ sind; einen schwachen Charakter haben; oder einfach mal „klarkommen“ müssen. Sich Hilfe zu holen, fühlt sich wie eine Niederlage an. Unangenehme Gefühle, sei es wie bei Anja durch einen traumatischen Verlust, oder bei Justus durch eine Überforderung mit der neuen Lebenssituation zwischen Studium und Lockdown, werden erst mal verdrängt.

Was führt in die Depression?

Was in die Depression führt ist der simple Fakt, dass wir uns als Menschen auf Dauer nicht dazu entscheiden können, nur positive Gefühle wahrzunehmen, ohne dass unser Gefühlshaushalt in Schieflage gerät. Auch die negativen Emotionen möchten uns schließlich etwas sagen, oder zeigen. Versagen wir uns langfristig die negativen Emotionen, verschwinden auch die positiven. Depression bedeutet für viele Betroffene deshalb, „gar nichts“ zu fühlen. Was in der Konsequenz ebenfalls sehr unangenehm ist, und beispielsweise in Suchtverhalten münden kann.

Justus ist auch klar, dass es nicht gut gehen kann, nur zu Hause zu bleiben, Essen zu bestellen, die Post nicht aufzumachen. Um die unangenehmen Vermeidungsgefühle loszuwerden, entwickelt er einen (O-Ton) „exzessiven Alkoholkonsum“ – der ihn schließlich in die Nacht an der Brücke führt. Seine Panikattacke ist beinahe so etwas wie Glück im Unglück. Denn sie katapultiert ihn als Akut-Gefährdeten direkt ins System. Zuvor hat er schon einmal versucht, Hilfe zu bekommen. Aber die lange Wartezeit auf einen Therapieplatz schreckt ihn ab. Eine Erfahrung, die Anja bestätigt. Bei ihr ist es fast ein halbes Jahr. Auch das ist die Realität in Wiesbaden und Rhein-Main 2022.

Warten auf Therapieplatz – Hausärzte helfen

Dr. Zeynep Çantürk-Hoffmann aus der Hausarztpraxis am Blücherplatz im Westend bestätigt das. „Das ist eine verdammt lange Zeit und kann schon abschrecken, ja. Es gibt Patient:innen, die zufällig gut rein rutschen. Wenn jemand abspringt zum Beispiel. Aber im Durchschnitt beträgt die Wartezeit auf einen Therapieplatz drei bis sechs Monate.“ Positiv: Viele Hausärzt:innen haben heute eine psychosomatische Grundversorgungsausbildung, erklärt sie. Sie bieten stabilisierende Gespräche an, und natürlich auch Medikamente, um diese Zeit zu überbrücken. Ihr Tipp: „Wendet euch an die Hotlines der Krankenkassen. Hier kann man sich Ersthilfe holen, den Prozess starten.“ Hausärzt:innen und die kassenärztliche Vereinigung arbeiteten mit Codes, die man sich vom Hausarzt ausgeben lassen kann, zusammen mit der Überweisung. Die Kolleg:innen bekommen so schon eine Einschätzung, erzählt sie, und stellen dementsprechend die Weichen, in welche Richtung eine Therapie gehen kann. Das spart Zeit.

Hürden jenseits der Bubble

Wo sehen Anja und Justus noch Luft nach oben, aus ihren subjektiven Erfahrungen? „Jenseits meiner privaten Bubble, die ich als recht aufgeklärt bezeichnen würde, bin ich schon einigen Hürden begegnet“, erinnert sich Justus. „Gerade was so administrative Sachen angeht. Es gab zum Beispiel ein Riesen-Hickhack zwischen meinem Arbeitgeber und der Krankenkasse. Die waren sich nicht einig, ob ich Anspruch auf Krankengeld habe, weil ich einen Mini-Job mache im Jugendzentrum. Während ich also in der Klinik steckte, musste ich mich noch darum kümmern, mitten in der Krise – es ging ja um meine Existenz. Und fortwährend musste ich immer wieder neue Krankmeldungen abgeben.“ Er überlegt kurz. „Vor einem Jahr habe ich mir beim Skaten den Ellenbogen gebrochen. Ich war direkt drei Monate krankgeschrieben. Da hat keiner nachgefragt. Das ist äußerlich, jeder kann das sehen und sagt klar, wird´ erstmal gesund! Gute Besserung! Dieses Bewusstsein wünsche ich mir für psychische Krankheiten auch.“ Anja ist zuversichtlicher. Sie hat überwiegend gute Erfahrungen gemacht. „Jede Depression ist ja auch anders. Das ist sehr individuell. Reden hilft. Und Verständnis.“

Genau dort setzt Roland Dünow vom Round Table #18 in Wiesbaden an. Die „Round Tables“ sind eine internationale Organisation, ähnlich der Rotarier etwa. Gemäß ihrer Leitworte „adopt, adapt, improve“ engagieren sie sich für Freundschaft, internationalen Austausch und sozialen Ausgleich. Dünow und seine „Mit-Tabler“ riefen vergangenes Jahr – sensibilisiert durch Betroffene im eigenen Freundeskreis – die Aktion „Eine Handvoll Tipps für die Mentale Gesundheit“ ins Leben. Zunächst entwickelten sie in Zusammenarbeit mit Psycholog:innen und Therapeut:innen aus Heidelberg einen Vortrag, der mehr Bewusstsein im Umgang mit psychischen Erkrankungen schaffen sollte. Immer mit Blick auf Multiplikatoren. Um zu entstigmatisieren und das Thema in die Gesellschaft hineinzutragen.

Aktion für mentale Ersthilfe

Was als Wiesbadener Aktion begann, ist heute eine bundesweite Kampagne. „Reden hilft“ ist einer ihrer fünf Tipps. „Zuhören auch“ und „Frag zweimal“ weitere. Sinn der Aktion ist es, analog zu einem Erste-Hilfe-Kurs mentale Ersthelfer:innen auszubilden, die wissen, wie sie reagieren können, wenn jemand eine Panikattacke erlebt. „Ziel ist es, bundesweit Ersthelfer:innen auszubilden und Bewusstsein zu schaffen. Jede:r kann sich zu diesem Kurs anmelden.“ Sich nicht an Betroffene zu wenden, sondern das Umfeld für das Thema Mental Health zu sensibilisieren, mit konkreten Tipps und Hilfestellungen, ist eine echte Innovation „made in Wiesbaden“. Für Dünow und seine Mitstreiter:innen ist das erst der Anfang. So wie auch Anja und Justus noch auf dem Weg sind.  Der sensor wird am Thema dranbleiben. Ihre Geschichten weiterverfolgen, und in den kommenden Ausgaben in loser Folge weiter berichten.

Hilfe und Informationen

Wenn Sie sich selbst akut betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

Hilfreiche Informationen gibt es zum Beispiel auf über www.deutsche-depressionshilfe.de sowie bei Krankenkassen.

Weiterlese-Tipps:

Gedanken-Blei – Junge Wiesbadenerin veröffentlicht Buch zum Thema Depression, das kein Ratgeber ist

Immer weiter – Wiesbadener läuft 45 Marathons, um Depression und Suizid aus der Tabuzone zu holen – und schreibt ein Buch darüber.

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