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„Wie können es denn Menschen wagen, da wegzugucken?“ – Interview zur Seenotrettung

Von Leonie Gillot, Korbinian Strohhuber, Kim-Lara van der List.

Was die Wiesbadenerin Marie Becker antreibt, Geflüchtete im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten, erzählt sie heute Abend um 19.30 Uhr im Rahmen von „Wir sind Wiesbaden“ in der Wartburg – und vorab hier im Interview mit sensor Wiesbaden, der das Seenotrettungsschiff Mare*Go als Medienpartner unterstützt.

 Wer bist du und was machst du?

Wer bin ich? Das ist eine gute Frage. Ich bin gerade eine Nomadin, die zwischen verschiedenen Orten in Deutschland und dem Schiff hin und her pendelt. Das ist ein Teil von meinem Alltag, ganz viel unterwegs zu sein. Deswegen sitze ich auch gerade in meinem kleinen Bus. Aber ich bin auch Freiberuflerin und mache ganz viele Seminare und Workshops in der politischen Bildung und bin eben daneben Aktivistin.

Du engagierst dich für Zusammenland. Was ist das und was ist deine Rolle dabei? 

Zusammenland sind zwei Personen: Raphael Reschke und Marie Becker. Was aber auch genau das ist, was wir wollten. Wir haben gemerkt, dass wir lieber handeln wollen als drüber reden. Deswegen haben wir im Januar 2022 Zusammenland gegründet – ursprünglich nicht, um ein Schiff zu haben, sondern um Projekte beantragen zu können und Fördermittel zu bekommen für sogenannte Mikroprojekte. Vor allem mache ich politische Bildungssachen. Und wir haben eben per Zufall dieses Schiff entdeckt.

Wie kamt ihr zu dem Schiff Mare*Go und was hat es damit auf sich?

Oh, viel Geschichte! Dieses wunderschöne alte Schiff war mal die Sea-Watch, das allererste deutsche Seenotrettungsschiff, und hat schon vor acht Jahren Menschenleben gerettet. Dann wurde sie von Sea-Watch an Mare Liberum verschenkt. Diese haben im Oktober 2022 eine Ausschreibung bei Social Media öffentlich gemacht: Hey, wir haben ein Schiff zu verschenken für einen guten Zweck, wer will das denn haben?

Und da habt ihr „hier!“ gerufen?

Wir waren gerade in den Herbstferien mit den Kindern und Raphael meinte: Nee, ich hab keinen Bock mehr auf Schiffe, ich mach das nie wieder! Die Kinder und ich haben gesagt: Quatsch, das machen wir jetzt. Ich habe gestern nachgerechnet. Wir sind seit drei Monaten im Einsatz und haben schon vier Einsätze gefahren. Das ist schon eine harte Quote.

Was ist deine Motivation, dich so umfassend für deine Mitmenschen zu engagieren? 

Je mehr man hinguckt, umso doller tuts weh. Mein Yoga-Ich sagt dann immer: Das ist super traurig. Jeder Mensch ist es wert, gerettet zu werden. Aber ich habe so ein anderes ich, das ist sehr wütend und sagt: Wow, wie können es denn Menschen wagen, da wegzugucken. Und damit mein ich nicht dich und mich, ich meine Menschen mit Macht, die Entscheidungen treffen, die gegen Menschen sind und die aktiv dafür sorgen, dass Menschen ihr Leben verlieren und riskieren – und trotzdem Friedensnobelpreisträger:innen sind. Ich spiele direkt auf die EU an. Das macht richtig sauer – und aktiviert damit voll.

Was macht deine Arbeit mit dir?

Mir macht das voll Spaß! Ich hab´ mich noch nie so stark, noch nie so selbstermächtigt gefühlt. Leute sagen dann: Marie, mach doch mal was anderes und komm mal runter. Und ich denk´ so: Nee. Wir machen das so, wie wir denken, dass es richtig ist. Und das macht mich drei Zentimeter größer.

Wie finanzierst du dein Engagement und dein Leben im Moment, wenn du gerade ja auch viele Kapazitäten in die Mare*Go steckst?

Durch die Freiberuflichkeit tatsächlich. Das ist das, womit ich nicht nur mein Leben finanziere, sondern auch Raphaels. Ich bin gerade die Alleinverdienerin. Wir machen das Schiff komplett ehrenamtlich, und ich habe auch noch ein bisschen finanzielle Rücklagen.

Wiesbaden ist seit 2018 ein „sicherer Hafen“ und hat sich damit gegen die „Kriminalisierung von Seenotrettung“ positioniert und sich bereit erklärt, „Geflüchtete aus der Seenotrettung im Mittelmeer aufzunehmen”. Was bedeutet dieser Schritt für eure Arbeit als Seenotretter:innen?

Ich weiß nicht genau, was das für Wiesbaden bedeutet, also inwiefern das nicht nur ein Lippenbekenntnis ist. Ich weiß, dass viele, viele gute Arbeit dort passiert. Aber es ist nicht nach außen hin sichtbar. Prinzipiell symbolisiert die Zugehörigkeit zum sicheren Hafen ja einen Rückhalt: Es gibt jemanden, der wie eine Hand auf den Rücken legt und sagt „Ja, macht mal weiter, weil wir haben Platz“. Das ist eine emotionale Bestärkung in unserer Arbeit, die schon total gut ist. Ich hoffe einfach, dass jetzt mehr passiert.

Die Stadt Wiesbaden überlegt außerdem, eine Patenschaft für die Mare*Go zu übernehmen. Wie kam es dazu und wie soll das aussehen?

Das war direkt auf dem Nachhauseweg, nachdem wir das Schiff gekauft haben. Da habe ich gedacht: Jetzt brauchen wir ja irgendwie Geld. Das Schiff hat nur einen Euro gekostet, aber viel mehr Geld hatten wir auf dem Konto gar nicht. Am Bahnhof in Berlin habe ich dann gesagt: Ich frag mal die Stadt. Jetzt sind wir am Aushandeln, was das denn heißt, eine Patenschaft zu übernehmen. Wir wollen vor allem Geld und Aufmerksamkeit. Wir sind bereit, dass wir unseren Heimathafen ändern. Der ist derzeit noch Berlin. Den würden wir auf Wiesbaden ändern, weil wir es auch witzig finden, ein Seenotrettungsschiff zu haben, auf dem hinten „Wiesbaden“ draufsteht. Wir haben viele Ideen, was man machen kann. Das hängt aber jetzt so ein bisschen davon ab, was uns die Stadt dafür bieten kann.

Warum braucht ihr so viel Geld?

Das Wichtigste sind die Einsätze. Ein großer Teil geht an Diesel drauf, wir müssen jedes Mal vorher volltanken, weil wir nicht wissen, wie lange wir unterwegs sind. Das sind dann schnell mal achttausend Euro. Das Zweite sind Lebensmittel. Die Menschen, die bei uns arbeiten, arbeiten ehrenamtlich, aber sie kriegen Unterkunft und Essen gestellt. Und wir müssen Essen mitnehmen für Menschen, die wir gegebenenfalls an Bord nehmen müssen. Oder Medikamente auffrischen, Reparaturen oder Liegeplatzgebühren von über 1500 Euro jeden Monat.

Hast du noch eine Botschaft an „Wiesbaden“?

Die Luftbrücke nach Berlin damals startete von Wiesbaden aus, und da sind sie hier sehr stolz drauf. Das ist auch richtig so, darauf stolz zu sein und ich finde es total cool, wenn die Stadt genauso stolz sein könnte auf eben dieses Seenotrettungschiff, das wir haben.

Mare*Go unterstützen

Infos und Updates: www.mare-go.de

Spendenkonto: Zusammenland gUG (haftungsbeschränkt)
IBAN DE16 4306 0967 1270 7791 00
Paypal: moin@zusammenland.de

In Zusammenarbeit mit der Wiesbadener Designerin Lucie Richter, die auch das Cover dieser sensor-Ausgabe illustriert hat, hat Mare*Go ein Benefiz-Stickeralbum „The Civil Fleet“ realisiert: https://mare-go.de/stkal/

Weiterlese-Tipp: Unsere Reportage „Die Route“