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„Wut als schöpferische Kraft“ – Wiesbadener beleuchtet Lage im Iran aus psychologischer Perspektive / Gastbeitrag

Von Dr. Mohammad Tabatabai. Foto Arne Landwehr.

Unter dem Motto „Frau – Leben – Freiheit“ steht eine wachsende Protestbewegung im Iran. In einem Gastbeitrag erfasst Dr. Mohammad Tabatabai – 1974 in Teheran geborener, seit 2014 in Wiesbaden praktizierender Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, der auch in unserem Beitrag über iranisches Leben in Wiesbaden in der aktuellen sensor-Ausgabe zu Wort kommt – die aktuelle politische Situation in seinem Heimatland aus psychologischer Perspektive:

Wut als eine schöpferische Kraft

Der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini löste Proteste im Iran aus. Sie hatte sich gegen die islamische Kleiderordnung und Kopfbedeckung aufgelehnt, wurde festgenommen, niedergeschlagen und kam letztlich ums Leben. Die brutale Vorgehensweise der Polizei hat Empörung und eine neue Welle der Wut in der iranischen Gesellschaft entzündet und das Land in Flammen gesetzt.

Verstärkt haben diesen Zorn die falschen Behauptungen und Lügen der Regierung, mit denen sie die Bevölkerung nur noch heftiger gegen sich aufgebracht hat. „Die Kraft der Haare“ von Mahsa hat die iranische Gesellschaft symbolisch als „ein Seil der Verbundenheit“ zusammengeführt und ermutigt, gegen das islamische Herrschaftssystem im Iran auf die Straßen zu gehen. Sie kämpft seit vielen Jahren für „die Würde der Frauen, ein freies Leben und Demokratie“. Der Widerstand gegen islamische Kleidervorschriften hat sich als subtile Wut wie „ein Feuer unter der Asche“ in den vergangenen Jahren verbreitet.

Junge Menschen kämpfen ohne Angst für ihre Zukunft

Den Kampf für die Freiheit haben die Frauen nicht aufgegeben. Die zunehmende Verärgerung gegen die Unterdrückung der Frauen in den letzten Jahren, sowie Zwang der Verschleierung und Kopfbedeckung, mangelnde Zukunftsperspektive und hohe Arbeitslosigkeit, unterstützt junge Menschen und verstärkt ihre Bereitschaft, ohne Angst für ihr eigenes Leben und ihre eigene Zukunft zu kämpfen. Die letzte Bewegung zeigt, dass die iranische Gesellschaft weder Hoffnung noch Kraft verloren hat, vielmehr setzte sie sich klarer und fokussierter für ihre Ziele ein. „Sie will keine islamische Republik mehr“. Das Motto dieser Bewegung lautet: „Frau, Leben, Freiheit“.

In früheren gesellschaftlichen Bewegungen hat das Regime Widerstände brutal niedergeschlagen und versucht, die Menschen zu einer kollektiven Repression und Gehorsamkeit zu zwingen. Ihre über die Jahre aufgestaute Wut und ihren zunehmenden Zorn haben viele Menschen bisher versucht mit unterschiedlichen Strategien, wie z. B. Verachtung der religiös-politischen Vorschriften oder Rebellion, zu regulieren, um eine seelische Balance aufrechtzuerhalten.

Im Unterschied zu den früheren gesellschaftlichen Bewegungen im Iran, welche bis zu diesem Zeitpunkt als ein Entwicklungs- und Reifungsprozess verstanden werden sollten, formte diese Bewegung und unterstützte die Menschen bei dem Zugang zu ihrer Wut und brachte sie machtvoll in Aufruhr. Der Wille zur Freiheit sowie die Sehnsucht, das eigene Leben aktiv und angstfrei zu gestalten, ermutigt junge Menschen, ihren Zorn lauter zu äußern. Der islamischen Republik sowie seinen Regierungsmilizen gelingt es zunehmend schwerer, sich an die jungen Menschen anzulehnen.

Glauben an den Sieg der Helligkeit

Archaische Kräfte, die tief in der iranischen Kultur und Gesellschaft verwurzelt sind, wurden in den letzten Jahrzehnten von den Mullahs unterschätzt und es wurde systematisch dagegen angegangen. Als ein Mehrvölkerstaat hat die iranische Gesellschaft eine über 2000 Jahre kulturelle Identität, welche Menschen in diesem Land unabhängig von religiös-ethnischer Zugehörigkeit miteinander verbunden hat. Kulturelle Feste wie Nowruz (Frühlingsanfang) und Yaldafest (Nacht der Winter Sommerwende), die als Symbol des Sieges der Helligkeit gelten, sowie der Glauben an alte persische Mythologie und an den Kampf zwischen Gut und Böse, den die iranische Gesellschaft eines Tages für sich entscheidet, vereinen die Menschen im Iran.

Die Wut in der Gesellschaft ist eine Elektrizität, die die Menschen als eine potentielle Fähigkeit für die Entfaltung eigener Ressourcen und Kräfte und für das Zurückgewinnen von Würde, Recht und Respekt einsetzen. Und die iranische Gesellschaft zeigt Widerstand gegenüber einer vielfach gelebten Doppelmoral. Die junge Generation möchte die Lebenshaltung „Wein trinken und Wasser predigen“ nicht mehr mittragen und aushalten. Sie will nicht mehr länger tolerieren, dass die Regimetreuen innerhalb oder außerhalb des Landes im Wohlstand leben und der Bevölkerung mitleeren Versprechungen ein gutes Leben im Paradies in Aussicht stellen.

Auswanderung als Ausweg – bisher

Die zunehmende Frustration in der Gesellschaft, welche sich als Grundlage der Aggression und Wut erklären lässt, mündete in ganz unterschiedlichen Reaktionen der Menschen im Iran. Allerdings haben besonders junge Menschen und junge Familien für sich oft in diesem Land keine Perspektive mehr gesehen. Bis heute ist eine zunehmende Sehnsucht und Tendenz nach Auswanderung aufgrund der Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit nach einer Veränderung zu beobachten. Eine große Anzahl von Frauen, welche sich in diesem politischen System unterdrückt und verachtet fühlten, sahen die Auswanderung aus der Heimat als einzigen Ausweg für sich. Nach den aktuellen Kundgebungen bekommen Menschen Kraft für eine Veränderung und sehen als ihre Verantwortung und Verpflichtung an der Frontlinie für die eigenen Rechte zu kämpfen und eine bessere Zukunft nicht im Ausland, sondern in der eigenen Heimat zu verwirklichen und zu realisieren.

Der exzessive Widerstand von Demonstranten und organisierte Protestaktionen widerspiegelt, dass ein Reifungsprozess stattgefunden hat, dessen Fortgang nicht abzusehen ist und das Regime sie nicht zum Aufgeben bezwingen kann. „Nieder mit der Diktatur“, „Wir bekommen unser Land wieder zurück“, sowie „Wir wollen nicht mit Zwang Kopftuch tragen“, rufen junge Frauen, unterstützt von Männern, auf den Straßen in mehr als 80 Städten im Iran.

In den letzten Tagen haben aus dem Iran stammende Menschen in den unterschiedlichsten Städten Europas, sowie in den USA und Kanada ihre Solidarität gezeigt. Am Samstag den 22. Oktober 2022 haben fast 100 Tausend iranisch stämmige Menschen in Berlin eine Geschichte für diese Bewegung geschrieben und ihre Solidarität und Verbundenheit mit Menschen im Iran gezeigt. Gleichzeitig eine klare Botschaft verkündet, wie entschlossen, zuversichtlich und überzeugt sie sich für „Beendigung des Mullah-Regimes“ einsetzen. Die iranische Gesellschaft hofft zunehmend auf die Anerkennung und die Unterstützung der Weltgemeinschaft für einen demokratischen Wandel.

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