Die Wellen schlagen seit Wochen hoch, Dutzende anderer Bühnenereignisse im vor wenigen Tagen vorgestellten Maifestspiele-Programm gehen unter, gefühlt alles dreht sich um sie, um ihren Auftritt, um ihre Ansichten: Opernstar Anna Netrebko. Soll sie, darf sie, wird sie, um deren Verhältnis und Einstellung zum russischen Kriegsherrn Putin heftig gestritten wird, auftreten bei den Internationalen Maifestspielen in Wiesbaden? „Sie wird auftreten“, stellte Staatstheater-Intendant Uwe Eric Laufenberg letzte Woche bei der Maifestspiele-Pressekonferenz klar. Und Tausende wollen sie auftreten sehen, das macht ein Blick auf die Maifestspiele-Webseite klar.
Beide „Nabucco“-Termine, also beide Netrebko-Termine – am 5. und 7. Mai im Großen Haus des Staatstheaters mit 1014 Plätzen – waren innerhalb nur eines Tages restlos ausverkauft. Am Freitag, 17. Februar, startete der offizielle Vorverkauf für die Maifestspiele, am Samstag, 18. Februar, waren alle Karten für die Oper um den laut Programm „größenwahnsinnigen Herrscher Babylons, der an der eigenen Selbstüberschätzung und am Widerstand des überfallenen Volkes scheitert“, vergriffen – zu Eintrittspreisen von bis zu 213,40 Euro.
Welchen „Preis“ das Staatstheater und die Maifestspiele für dieses umstrittene Gastspiel zahlen, ist nochmal eine ganz andere Diskussion. Rein wirtschaftlich geht die Rechnung auf – ab einer Auslastung von 85% seien die beiden Termine mit dem Kartenverkauf refinanziert, versicherte Laufenberg, Steuergelder gingen somit dafür keine drauf.
Intendant bezichtigt Kritiker der „Moralhysterie“
Im Rahmen einer turbulent und phasenweise tumultartig verlaufenen Pressekonferenz hatte Intendant Laufenberg, der auch Künstlerischer Leiter der Maifestspiele ist, die Verpflichtung der Star-Sopranistin verteidigt, die wegen ihrer unklaren Haltung zur russischen Regierung und zu Wladimir Putin für viele ein rotes Tuch ist. Laufenberg fuhr schweres verbales Geschütz auf, sprach von „Moralhysterie“ und erfand damit einen neuen Begriff, herrschte kritisch fragende Journalisten an und versuchte, Wortmeldungen ihm missliebiger Journalisten zu unterbinden.
„Frau Netrebko hat sich nichts zuschulden kommen lassen“, bekräftigte der streitbare Theaterleiter seine Überzeugung und meinte, „wenn wir alle, die vor 2014 Zweifelhaftes in Sachen Russland und Putin gesagt und getan haben, nicht mehr auftreten lassen, wäre es hier sehr leer.“
OB verweist auf Dissens, den man aushalten muss
Den neben ihm auf dem Podium sitzenden Wiesbadener Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende fragte Laufenberg genüsslich: „Ist Putins Eintrag im Goldenen Buch der Stadt Wiesbaden (anlässlich seines Wiesbaden-Besuchs im Jahr 2007) schon gelöscht?“. Dieser zuckte mit den Schultern (natürlich ist er das nicht – online zu finden hier, inklusive aktivem Link zur Homepage von Wladimir Putin ) und unterstrich seinerseits die nach wie vor kritische Haltung der Stadt gegenüber dem Engagement Netrebkos. Er verwies unter anderem auf die Sanktionsliste der Ukraine, auf der Netrebko steht, und darauf, dass die Landeshauptstadt Wiesbaden unmissverständlich solidarisch an der Seite der Ukraine stehe. Seiner Überzeugung nach dürfe von Wiesbaden keinerlei Signal ausgehen, dass als Affront gegen die Ukraine zu verstehen sei.
Intendant hält Verhalten des Ministerpräsident für „demokratisch bedenklich“
Gleichzeitig betonte das Stadtoberhaupt, dass die Stadt den Auftritt natürlich nicht verbiete und selbstverständlich nicht die Kunstfreiheit in Frage stelle – und dass es zwischen Staatstheater und Stadt in dieser Frage nun eben einen Dissens gebe, den man aushalten müsse. Deutlicher distanziert sich Hessens Ministerpräsident Boris Rhein. Er will seine Schirmherrschaft für die Maifestspiele (Kommentar Laufenberg: „Ich wusste gar nicht, dass diese existiert“) ruhen lassen und den üblichen Vorempfang der Landesregierung canceln. Laufenberg berichtete, er fühle sich nach wie vor von der Landesregierung „unter Druck gesetzt“ und bescheinigte dem Ministerpräsidenten „demokratisch bedenkliches Verhalten“. Noch keinerlei Wortmeldung zum Thema Netrebko ist übrigens von Laufenbergs direkter Dienstvorgesetzten, der Hessischen Wissenschafts- und Kunstministerin Angela Dorn, zu vernehmen.
Fest steht: Der Streit um Anna Netrebkos Engagement ebbt nicht ab, im Gegenteil, und treibt auch manch sonderbare, schräge und bedenkliche Blüten, wobei die Einschätzungen und Bewertungen dazu freilich ebenso je nach Absender, Sichtweise und Perspektive variieren. Das Staatstheater und seine Mitarbeiter:innen erleben neben sachlicher Kritik auch wüste Beschimpfungen, die Kommentarfunktion auf der Staatstheater-Facebook-Seite wurde eingeschränkt, was wiederum Kritik provoziert.
Ukrainischer Verein fordert Förderer zu Distanzierung auf
Eine aus Butscha in der Ukraine geflüchtete und nun zurückgekehrte Rechtsanwältin verschickt derweil in ihrer Funktion als laut Mailabsender Projektleiterin des Vereins „Save a life, Save Ukraine e.V“ ein Schreiben an „Sponsoren und Förderer dieses Theaters“, das auch sensor erreicht hat. Die Empfänger werden ultimativ aufgefordert, „sich vom Staatstheater in Wiesbaden zu distanzieren und die Finanzierung zu unterbrechen“ und ihr Schreiben bis zum 3. März schriftlich zu beantworten: „Sponsoren und Förderer, die mein heutiges Schreiben ignorieren werden, erwähne ich in der Presse und mache die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, wer Netrebkos Auftritte im Wiesbadener Staatstheater mitfinanziert“, heißt es, verbunden mit der Einschätzung der Absenderin: „Anna Netrebko war, ist und bleibt eine vertraute Person von Putin, seine Propagandistin, die unter dem Deckmantel der Kultur versucht hat, zusammen mit Putin die Anführer der selbsternannten terroristischen Organisationen Donezker und Luhansker Volksrepubliken zu legalisieren.“ Die deutsche Presse „verdrehe“ einiges, heißt es in dem Schreiben: „Es wird berichtet z.B., Netrebko verurteile den Krieg in der Ukraine, sie sei in Russland sanktioniert, sie dürfe in Kreml nicht auftreten. Dies entspricht nicht der Wahrheit!“
Wiesbadener Linke bejubelt Netrebko
Schon früh meldete sich in der Debatte die Wiesbadener Linke zu Wort. Jene Partei, die mit Verweis auf den aus ihrer Sicht elitären Charakter der Veranstaltung maßgeblich dafür sorgte, den „Ball des Sports“ aus der Stadt zu treiben, kämpft nun vehement für das – siehe Spitzenpreise für die Tickets – auch nicht so wirklich unelitäre Ereignis Maifestspiele. Und verteidigt die Entscheidung, Anna Netrebko zu verpflichten, nicht nur, sondern bejubelt sie – und die Künstlerin – geradezu.
„Bühne frei für Anna Netrebko!“ wird von der Partei auch in den sozialen Medien plakativ gefordert – und erklärt: „Die Linke Wiesbaden begrüßt ihren Auftritt auf den Internationalen Maifestspielen und sieht darin ein Zeichen für den Frieden und der Freiheit der Kunst.“ Man kritisiere die geforderte „Ausladung im Stile einer Sittenpolizei“. Linken-Kreisvorstandsmitglied Sahhan Akyüz kritisiert die „Gewissensprüfung“ von Künstler:innen aus Russland und die damit einhergehende „selbstverständliche westliche Lesart der moralischen Empörung über die Politik des Kremls“. Seine Vorstandskollegin Elay Djojan „unterstreicht, dass Netrebko seit Jahrzehnten den wertvollen kulturellen Austausch betreibe, den eine auf Frieden hin wirkende Gesellschaft dringend benötige.“
Irritierende Mitteilungen der Europa Union
Die diametral gegensätzliche Position in der Diskussion nimmt mit großer Vehemenz die überparteiliche Europa-Union Wiesbaden / Rheingau-Taunus respektive deren Vorsitzender Peter Niederelz ein. Dieser verschickt in hoher Frequenz Mitteilungen und Statements, in denen er die Absage der Auftritte Netrebkos und mittlerweile auch die „sofortige fristlose Entlassung“ von Intendant Laufenberg, den er der Lügen bezichtigt, fordert. Für den 5. Mai hat Niederelz eine Gegenveranstaltung vor dem Staatstheater-Eingang angekündigt. So weit, so nachvollziehbar. Für Irritationen sorgt allerdings die neueste Mitteilung, wer an diesem Protest – neben etwa dem in einer früheren Mitteilung angekündigten ukrainischen Botschafter Oleksij Makejew – so alles teilnehmen soll.
Prominente Protest-Redner angekündigt
„Es werden viele unserer prominenten Mitglieder, darunter ehemalige Bundesminister, OB, Stadtverordnetenvorsteher, MdL (Landtagsabgeordnete) mitwirken. Michael Gahler, MdEP (Mitglied Europäisches Parlament) und unser Mitglied wird auch in seiner Eigenschaft als Vizepräsident der EBD (Europäische Bewegung Deutschland) für diese dort sprechen“, schreibt Niederelz in einer auch an die Presse versandten Einladung an Ministerpräsident Boris Rhein, bei der Kundgebung als Redner aufzutreten.
Sowohl Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende als auch Stadtverordnetenvorsteher Dr. Gerhard Obermayr wiesen die sie betreffenden Aussagen auf sensor-Nachfrage als falsch zurück. „Dass der OB angeblich an der von der Europa-Union geplanten Protestveranstaltung gegen den Auftritt von Frau Netrebko teilnimmt, haben wir durch die Ankündigung erfahren. Eine offizielle Anfrage dazu lag dem Dezernat nicht vor“, so ein Sprecher der Stadt. Man habe Niederelz gegenüber Unverständnis für diese Ankündigung übermittelt. Auch der Stadtverordnetenvorsteher zeigte sich überrascht: „Über die Teilnahme an einer Gegenveranstaltung hat Herr Dr. Obermayr mit Herrn Niederelz bisher nicht gesprochen. Insofern kann auch keine Teilnahmezusage erfolgt sein.“
Zu der Aussage einer früheren Mitteilung, dass sich auch Mitglieder des Hessischen Staatorchester an der Protestveranstaltung beteiligen und die „Europa-Hymne“ und die ukrainische Nationalhymne spielen würden, sagte Intendant Laufenberg bei der Pressekonferenz mit Verweis auf deren Dienstverpflichtung: „Draußen dürfen sie spielen, drinnen müssen sie spielen.“ Rein theoretisch müsste natürlich das eine nicht das andere ausschließen, ist die Protestveranstaltung doch für 18.30 Uhr angesetzt, die Vorstellung für 19.30 Uhr.
Verwirrung um Pussy Riot-Gastspiel
Verwirrung gibt es auch um ein weiteres Thema. Schon reichlich Tickets wurden laut Webseite des Staatstheaters bereits für ein Gastspiel verkauft, das nach Stand der Dinge gar nicht stattfinden wird: die von Intendant Laufenberg angekündigte Performance von Pussy Riot als Ersatz für das abgesagte „Messa di Requiem“-Gastspiel der Ukrainischen Nationalphilharmonie. Nur wenige Stunden, nachdem Laufenberg bei der Pressekonferenz die Pussy Riot-Performance verkündet hatte, ließ das Kollektiv via Twitter – und anschließend auch über Interview-Statements- wissen, dass sie ihren Wiesbaden-Auftritt canceln würden. Vom Staatstheater heißt es dazu einerseits, man habe keine offizielle Absage von Pussy Riots erhalten, andererseits, man sei noch im Gespräch mit den Künstlerinnen, ob und wie man doch noch auf einen gemeinsamen Auftritts-Nenner kommen könne.
Stardirigent Teodor Currentzis sagt ab
Wie sensor am Rande der Pressekonferenz erfuhr, hat bald nach dem Bekanntwerden der „Netrebko-Debatte“ ein weiterer weltberühmter Künstler von sich aus seinen ursprünglich geplanten Auftritt in bei den Maifestspielen abgesagt: der international gefeierte – und ebenfalls nicht unumstrittene – Dirigent Teodor Currentzis.
Ganz schön viel Theater also um die 127. Internationalen Maifestspiele in Wiesbaden – lange, bevor sich der erste Vorhang hebt.
WIE STEHT IHR ZUM THEMA „ANNA NETREBKO BEI DEN MAIFESTSPIELEN“?
(Dirk Fellinghauer/Foto Vladimir Shirokov, Richard Youell, Dirk Fellinghauer)
Ich bin stark verunsichert.
Ich weiß nicht wie ich mich entscheiden würde, wenn ich aus einer wichtigen Funktion handeln müsste. Ich vermisse eine starke Abgrenzung zu Putin. Die Flagge von der Ukraine sollte am Staatstheater sichtbar sein.
Deutschland hat schon genug Geld mit Russland gemacht, jetzt trotz dem Krieg läuft es weiter. Was kann man noch dazu sagen.
“wenn wir alle, die vor 2014 Zweifelhaftes in Sachen Russland und Putin gesagt und getan haben, nicht mehr auftreten lassen, wäre es hier sehr leer.“ – na dann ist alles klar.
Einfach Schande!
Frau Netrebko steht aus der Sanktionsliste und darf nirgendwo auf der zivilisierten Welt auftreten. Offenbar zählt das Theater Wiesbaden NICHT zu einer zivilisierten Welt.
Schande!
Frankfurt gehört nicht zur zivilisierten Welt??
Der neue Vorstand von ICOM Deutschland hat am 8. Februar 2023 einstimmig beschlossen, russland zu
bannen. Das deutsche Nationalkomitee fordert zudem, Vertreter:innen des russischen
Nationalkomitees von allen
internationalen Gremien zu
suspendieren und keine russischen Delegationen oder Mitglieder mehr zu Veranstaltungen zuzulassen
sowie ICOM russland bis auf
Weiteres aus dem Weltverband
auszuschließen. https://icom-deutschland.de/de/nachrichten/581-icom-deutschland-bannt-icom-russland.html
“Der Kultursektor darf aber nicht
dauerhaft eine Sonderrolle
beanspruchen oder gar eine generelle Unschuldsanmutung für sich postulieren. Die systematischen Plünderungen ukrainischer Museen, die nach derzeitigem Kenntnisstand von russischen Museumsakteuren
unterstützt werden und ein Beispiel für ethische Grenzüberschreitungen sind, sollten nicht länger unkommentiert bleiben. Die Berichterstattungen und Bilder aus ukrainischen Museen
sprechen eine deutliche Sprache.”
Ich bin verunsichert, da der Theater die Regeln ignoriert und sagt, dass bei denen keine Informationen ankommen, oder die ukrainische Künstler viel zu politisch handeln.
Also ich freue mich auf die zwei Netrebko Abende!
Ihre Seele ist matt.