Direkt zum Inhalt wechseln
|

Banner statt Rituale – Wiesbadener Vorort wagt neue Wege des Gedenkens zum Volkstrauertag

Kranzniederlegungen auf einem Friedhof im Nebel, vielleicht noch die Feuerwehr mit Fackeln und Lieder des örtlichen Chores. So war – und ist – es auch in Wiesbaden bislang auf vielen Friedhöfen am Volkstrauertag, zwei Sonntage vor dem ersten Advent. Auch im Vorort Dotzheim. Dort hat und realisiert man nun ganz neue Ideen des Gedenkens.

In den letzten Jahren habe sich das aber, nicht nur wegen der Pandemie, etwas „ausgedünnt“, berichtet der ehemalige Ortsvorsteher Harald Kuntze. „Es kamen nur noch wenige Menschen. Die Vereine haben sich auch zurückgezogen, der Chor sei nicht mehr singfähig, die Feuerwehr fand es nicht mehr passend für die „Jugend“. 

Tradition überdenken 

Ein guter Grund, um über den Sinn dieser Tradition nachzudenken und neue Ideen ins Spiel zu bringen. Es gründete sich im Vorort eine „AG Volkstrauertag“, denn auch Christoph Rath, Leiter des örtlichen Stadtteilzentrums im Schelmengraben und lange Zeit bei der Initiative „Demokratie leben“ aktiv, hatte ähnliche Gedanken. Er stieß beim Ortsbeirat also auf offene Ohren. Es beteiligten sich auch Vertreter der Parteien, des örtlichen Vereinsrings, von Schulen und einer evangelischen Kirchengemeinde.

Banner im öffentlichen Raum

Man will zwar nicht auf die traditionelle Kranzniederlegung verzichten, aber ohne offizielle Veranstaltung auf dem Friedhof. Stattdessen soll in diesem Jahr etwas ganz Neues passieren: Mit 16 großen Bannern im öffentlichen Raum soll auf Kriege und ihre Opfer aus allen Jahrzehnten, aus allen Nationen hingewiesen werden.

Via QR Code eigene Gedanken äußern

Außerdem sollen die Betrachtenden die Möglichkeit haben, ihre eigenen Assoziationen, Gedanken und Wünsche zu formulieren. Mit einem QR-Code gelangt man auf eine Webseite, wo man sich äußern kann. Diese wird am 9. November freigeschaltet, die Banner werden auch erst dann in allen Ortsteilen des zweitgrößten Vororts von Wiesbaden aufgehängt.

Acht Motive mahnen zum Frieden

Mit Hilfe von Verfügungsmitteln des Ortsbeirates beauftragte man den Grafiker Tobias Boos mit dem Entwurf der 1×3 Meter großen Banner, die acht Motive zeigen, jedes jeweils zweimal. Die Arbeitsgruppe recherchierte dazu auch im Wiesbadener Stadtarchiv. Die Banner kombinieren eindringliche Bilder von Kriegen, Zerstörung, flüchtenden Menschen mit Zitaten von Mahatma Gandhi, Friedrich Schiller, Jimmy Carter, John Lennon und weiteren. Kinder in Ruinen, endlose Gräberfelder, Familien auf der Flucht mit hastig zusammengepackten Habseligkeiten, bombardierte Städte, ein Ausschnitt aus Picassos „Guernica“ sind beispielsweise Motive, die ausgewählt wurden. Sie mahnen zum Frieden und zur Trauer um die Opfer aller Kriege weltweit.

Aller Opfer gedenken

„Wir sind sehr gespannt darauf, was uns die Menschen zu diesem Thema zu sagen haben“, sagt Christoph Rath. Es soll ein Pilotprojekt sein, um künftig eine zeitgemäßere Form des Gedenkens im Stadtteil pflegen zu können. Die Rituale der Vergangenheit sprachen viele nicht mehr an, was sich auch in der geringen Beteiligung zeigte. Zudem wolle man auch nicht mehr ausschließlich der Kriegsopfer der beiden Weltkriege, sondern aller Opfer von Krieg und Gewalt gedenken. „Darunter fallen auch jene, die auf der Flucht vor Krieg und Terror nach Deutschland geflohen sind, auch wenn das viele Menschen nicht damit assoziieren möchten“, meint Harald Kuntze und macht darauf aufmerksam, dass in Wiesbaden Menschen aus über 130 Nationen leben. Sie alle sollten sich angesprochen fühlen, denn auch sie gehören zum trauernden „Volk“. Gedanken macht man sich auch um die Rolle der Lokalpolitik an diesem Tag. „Wie können wir zeitgemäße, generationenübergreifende Aktionen fördern? Wie sehen diese aus? Wir wollen darauf Antworten finden und Ideen entwickeln“, so die Arbeitsgruppe, die gespannt die Reaktionen auf die Banner erwartet. (dif)