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Bundeshauptstadt Wiesbaden – Von BKA bis gebissloses Reiten: Wer hier so alles sitzt

Von Hendrik Jung. Fotos Kai Pelka.

Das Bundeskriminalamt ist neben dem Statistischen Bundesamt die wohl, auch bundesweit, bekannteste Bundeseinrichtung mit Sitz in Wiesbaden. Foto: BKAEs war ein Weihnachtsgeschenk des hessischen Innenministers Heinrich Zinkann. Seit dem 24. Dezember 1952 ist Wiesbaden Landeshauptstadt. Doch die Stadt zieht auch vieles mit „Bundesbedeutung“ an. sensor erkundet, warum das so ist und blickt bei drei Einrichtungen hinter die Kulissen.

 Verkehrsgünstig gelegen war Wiesbaden schon immer. Was heute der Frankfurter Flughafen ist, war früher die Lage unweit des Rheins. Bedeutung erlangt die Stadt jedoch erst wieder im 19. Jahrhundert. wegen der Quellen, die schon die Römer hierher gezogen haben. „Innerhalb von rund einhundert Jahren wächst Wiesbaden von rund 2.000 auf 100.000 Einwohner. Der Aufstieg ist einmalig für eine Stadt, die keine Industrie hat“, berichtet Thomas Weichel. Er hat einst über die Stadtgeschichte promoviert und arbeitet heute in der Stadtverwaltung für die Stabsstelle Wiesbadener Identität. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts definiert sie sich als Weltkurstadt. „Gleichzeitig wird traditionelles Handwerk aus der Stadt verdrängt. Also alles, was stinkt und Dreck macht“, erläutert Thomas Weichel.

Steueroase Wiesbaden – ein Grund für die Anziehungskraft

Auch auf die Ansiedlung von Industrie legt man keinen Wert, was dazu führt, dass Heinrich Albert 1961 die Gründung seiner chemischen Fabrik in Biebrich untersagt wird. Er siedelt sich außerhalb der damaligen Landesgrenze in Amöneburg an. Wiesbaden zieht stattdessen Unternehmen wie Friedrich Adolph Müllers Atelier für künstliche Augen oder eine Fabrik heilgymnastischer und orthopädischer Apparate an. Seinen Ruf als Kongressstadt begründet sie 1882 mit dem ersten Kongress für Innere Medizin. Zu den temporären Aufenthalten der Kurgäste gesellen sich damals permanent wohnhafte Rentiers. „Wiesbaden war eine Steueroase. Wer aus dem Ruhrgebiet gekommen ist, für den hat sich die Villa von selbst finanziert“, erklärt Thomas Weichel. Die Rolle der Stadt als wichtiger Behördensitz setzt sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Das Bundeskriminalamt BKA und das Statistische Bundesamt sind heute wohl die bekanntesten und bedeutendsten.

Verbände werden seinerzeit genauso angezogen wie die Versicherungswirtschaft. Nach wie vor bemüht man sich um rauchfreie Industrie. Und weil die Universum Film AG erstens zerschlagen wird und zweitens nicht mehr in Babelsberg produzieren kann, entstehen Unter den Eichen Filmstudios. Außerdem bringt die amerikanische Besatzungsmacht bedeutende Verlage aus Leipzig nach Wiesbaden. Heute punktet die Stadt mit den immer wichtiger werdenden weichen Standortfaktoren, weil Unternehmen Fachkräfte mit dem schönen Wohnumfeld für sich gewinnen können. Doch man spürt die Grenzen des Wachstums.

Ansiedlung von Fengshui-Meisters Gnaden

„Wir brauchen dringend Flächen. Wir kommen nicht mehr weiter“, betont Gregor Jonietz vom Amt für Wirtschaftsförderung. Noch ein Plätzchen für eine Niederlassung gefunden hat der chinesische Kunststoffkonzern Kingfa. Vor seiner Ansiedlung hat man ein Gutachten des Münchner Fengshui-Meisters Jie Qian eingeholt. „Ein idealer Standort nach chinesischem Fengshui sollte von Gebirge umschlossen und von einem Fluss umgeben sein, daher liegt der Industriepark Kalle-Albert an der Position goldrichtig“, heißt es da. So gesehen ist die Stadt auch für das 21. Jahrhundert als Standort für bedeutende Institutionen und Unternehmen bestens aufgestellt. Das sieht man bei der Industrie- und Handelskammer ähnlich. „Ein entscheidender Grund ist sicher die Wirtschaftskraft: So hat Hessen deutschlandweit eines der höchsten Bruttoinlandsprodukte pro Einwohner – und die Region Wiesbaden ist innerhalb Hessens einer der stärksten Wirtschaftsstandorte, inmitten der boomenden Metropolregion FrankfurtRheinMain. Hinzu kommt: Die hessische Landeshauptstadt ist ein Standort der kurzen Wege, mit Ministerien und öffentlichen Institutionen als Ansprechpartner und Auftraggeber direkt vor Ort“, urteilt Hauptgeschäftsführerin Sabine Meder.

Drei ganz unterschiedliche „Deutschland“-Einrichtungen in Wiesbaden haben wir besucht.

Kriminologische Zentralstelle: Rationale Stimme sein

Manche Themen, die von der Kriminologischen Zentralstelle des Bundes und der Länder (Krimz) erforscht und dokumentiert werden, sind vor allem für Richterinnen und Staatsanwälte, Mitarbeitende im Justizvollzug oder Studierende interessant. Andere finden auch darüber hinaus große Aufmerksamkeit. So beschäftigt sich die Wiesbadener Herbsttagung in diesem Jahr mit dem Thema Migration und Kriminalität. „Das ist in den vergangenen zwei Jahren geschätzt das häufigste Thema gewesen, zu dem es Anfragen gegeben hat“, berichtet Direktor Martin Rettenberger: „Zwar gibt es dazu noch keine Studien, aber Erkenntnisse. Mit der Tagung wollen wir eine rationale Stimme in den Diskurs bringen.“ Bis zu 150 Teilnehmende aus der ganzen Republik werden dazu erwartet.

Nationaler Fokus, internationales Interesse

Manche Themen stoßen auch international auf großes Interesse, dann werden eigens Kurzpublikationen in englischer Sprache herausgegeben. Große Wellen geschlagen hat über die Landesgrenzen hinaus etwa die Studie über zu Unrecht verurteilte und inhaftierte Personen. Zurzeit wird unter anderem in zwei Justizvollzugsanstalten geforscht zum Thema „Islamistische Radikalisierung erkennen und vermeiden“. Von den 15 Mitarbeitenden der Krimz ist ein Dutzend mit Forschung beschäftigt. Außerdem lehren sie unter anderem an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung in Wiesbaden. Zur Zeit sind sie noch auf zwei Altbauetagen in einem Villenviertel angesiedelt. Die der Krimz angeschlossene Nationale Stelle zur Verhütung von Folter hat ein weiteres Stockwerk bereits verlassen. Im kommenden Jahr soll auch die Krimz selbst umziehen und dann mehr räumliche Nähe zum Justizministerium haben. In dem zukünftig genutzten Gebäude müssen eigens die Böden verstärkt werden, denn die Bibliothekarin verwaltet rund 30.000 Bücher sowie 2.000 Zeitschriftenbände. In der Kriminologischen Literaturdatenbank kann über das Internet recherchiert werden. Donnerstags nachmittags sowie auf Voranmeldung steht die Präsenzbibliothek offen. Demnächst soll außerdem ein Repositorium für Online-Publikationen aus dem Bereich Kriminologie und Strafrecht ans Netz gehen.

Lions Club – Service im Großen und im Kleinen

Es sind fast 52.500 Einladungen, die in diesem Frühjahr aus Wiesbaden in die ganze Republik verschickt worden sind. Schließlich können am Kongress der Deutschen Lions, der bis zum 2. Juni in Kiel läuft, alle Mitglieder der 1.571 lokalen Clubs teilnehmen. Verwaltet wird der nationale Multi District des mitgliederstärksten Service-Club des Welt (an die 1,5 Millionen Mitglieder über in 48000 Clubs aus über 200 Ländern) von einem Dutzend Angestellten in der hessischen Landeshauptstadt. Diese unterstützen die ehrenamtliche Arbeit der Clubs vor Ort. Hier werden die Willkommens-Pakete für neue Mitglieder gepackt und Flyer, Roll-Up Displays oder Mützen vorrätig gehalten. Jüngst ist außerdem die Hilfe der IT-Abteilung sehr gefragt gewesen. „Die Datenschutzgrundverordnung hat uns intensiv beschäftigt. Das hat etliche Clubs fast in den Wahnsinn getrieben, denn in einem Verein arbeitet man immer auch mit privaten Daten“, verdeutlicht Geschäftsführerin Astrid Schauerte.

Enger Kontakt zur amerikanischen Mutterorganisation

Zur Zeit beschäftigt man sich in der Verwaltung gerade mit einer neuen Corporate Identity für die weltweit aktive Nichtregierungsorganisation, mit der die in Illinois ansässige amerikanische Mutter ihre Ableger überrascht hat. Der Kontakt in die Staaten ist so wichtig, dass sogar eine eigene Mitarbeiterin für die Kommunikation mit dem Land zuständig ist, in dem der Lions Club vor 102 Jahren ins Leben gerufen worden ist. Langweilig wird es den Beschäftigten in der Deutschland-Zentrale am Faulbrunnenplatz nicht, angesichts der Organisation von fünf jährlichen Sitzungen des Governor-Rats, einer Thementagung oder Reisen deutscher Delegationen zu internationalen Treffen. Zur Vorbereitung wichtiger Sitzungen reist der aktuelle Vorsitzende des Governor-Rats, Wolf-Dieter Reinicke, jeden Monat für zwei bis drei Tage aus seiner Heimat Hannover nach Wiesbaden.

Wie bei den Präsidentinnen oder Präsidenten der örtlichen Vereine beträgt auch die Amtszeit der Ratsvorsitzenden lediglich ein Jahr. Damit sie auf ihre Aufgabe vorbereitet sind, werden sie zwei Jahre lang in stellvertretenden  Posten durch Schulungen vorbereitet, die ebenfalls von Wiesbaden aus vorbereitet werden. Ganz und gar nicht langweilig geht es ebenfalls beim Hilfswerk der Deutschen Lions zu, das ein Stockwerk unter der Verwaltung des Multi Districts arbeitet. Seit 2001 existiert der karitative Arm der Deutschen Lions in dieser Form. Seitdem ist die Zahl der Beschäftigten von drei auf 15 gewachsen. Gemeinsam mit Partnerorganisationen koordinieren und organisieren sie internationale Hilfsprojekte und Katastrophenhilfe sowie den internationalen Lions-Jugendaustausch. Außerdem werden  Lehrkräfte geschult, um diese dabei zu unterstützen, ihren Schülerinnen und Schülern Lebens- und Sozialkompetenzen zu vermitteln. Zu den zertifizierten Schulen gehört unter anderem die Wiesbadener Leibnizschule.

Ferrari und Maserati – Wiederaufstieg in Wiesbaden

„Als wir 1998 hierher gekommen sind, lag die Marke am Boden“, blickt Rocco Cammarano zurück. Dass die Deutschlandzentrale von Maserati sich seitdem in Wiesbaden befindet, ist auf eine Entscheidung des Fiat-Konzerns zurückzuführen, zu dem der traditionsreiche italienische Automobilhersteller seit 1993 gehört. Vier Jahre später schloss der Mutterkonzern die Marke mit dem Dreizack dem ebenfalls zur Fiat-Gruppe gehörenden Rivalen Ferrari an. Weil dessen Deutschlandzentrale sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Wiesbaden befunden hat, werden seitdem von hier aus auch die 27 Maserati-Händler in Deutschland betreut. „Die Stadt ist für eine Deutschland-Zentrale günstig gelegen“, zeigt sich Pressesprecher Thomas Kern zufrieden mit dem Standort.

Getrennte Marken, gemeinsames Haus

Als die beiden italienischen Traditionsmarken innerhalb des Konzerns 2006 wieder voneinander getrennt worden sind, ist die Hausgemeinschaft in der Stielstraße erhalten geblieben. Aufgrund der positiven Geschäftsentwicklung bei Maserati nutzen die Zugezogenen inzwischen mehr als die Hälfte der Gebäudefläche. Vor rund fünf Jahren ist in den Räumen eine Akademie entstanden, in der Angestellte der Maserati-Händler an Testmotoren im Umgang mit kleinen und großen Neuerungen geschult werden. Auf diese Weise muss nur noch der Schulungsleiter selbst durch das Hauptquartier in Modena weitergebildet werden und kann das erworbene Wissen dann auf Deutsch weitergeben. Der Leiter der geradezu klinisch sauber erscheinenden Werkstatt wiederum ist dafür zuständig, dass kleine Schäden, die bei Event- oder Pressetestfahrten mit den 15 in der Garage befindlichen Maserati-Modellen entstehen, wieder ausgebügelt werden. Unterstützt von dem inzwischen 72 Jahre alten Rocco. Er ist einer von zwei Mitarbeitern, die schon zu Beginn der Deutschlandzentrale in Frankfurt dabei gewesen sind. Heute kümmern sich 19 Personen um Marketing, Vertrieb oder die Betreuung der Händler in Deutschland. Im als Empfangshalle dienenden ehemaligen Showroom werden auch Neuvorstellungen wie jetzt im Mai die des Levante mit V8-Motor durchgeführt. General Manager Amaury La Fonta leitet von Wiesbaden aus sogar die gesamte Vertriebsregion Central & Eastern Europe, zu der auch Österreich, Schweiz, Osteuropa und Skandinavien gehören.

Deutschlandsitz Wiesbaden – Lange Liste online

Von BKA und Statistischem Bundesamt, Schufa, Gesellschaft für deutsche Sprache oder Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin über Firmen wie R&V Versicherung, Henkell Freixenet, Abbvie, book-n-drive und Norwegian Cruise Line bis zum Deutschen Filmhaus, Bundesverband der Deutschen Musikinstrumentenhersteller oder der Bundesvereinigung zur Förderung des gebisslosen Reitens – die Liste der Bundeseinrichtungen, -verbände, -vereinigungen, die ihren Sitz in Wiesbaden haben, ist so lang wie vielfältig – und ab 16. Juni mit Kurzsteckbriefen auf www.sensor-wiesbaden.de zu finden