Interview: Dirk Fellinghauer. Foto: Arne Landwehr.
BERUF
Sie haben vor genau einem Jahr Ihren neuen Job im Kulturamt Wiesbaden angetreten – was genau ist das für ein Job?
Ich leite die Abteilung für Stadtteilkultur. Tatsächlich steckt noch einiges mehr dahinter, neben dem Format der Stadtteilkulturtage etwa der European Youth Circus und Eigenveranstaltungen wie „Wiesbaden tanzt“ oder „Ton ab“. Seit ich im Amt bin, haben wir auch maßgeblich den Bereich der Theater- und Musikförderung übernommen (aktuelle Förderprogramme hier). Da gehört alles hinein, was man auch im neuen Kulturentwicklungsplan liest: Förderprogramme, Raumfragen, kulturelle Bildung, Integration – ein sehr breites und spannendes Feld.
Es gab die Befürchtung, dass die Pandemie einige Schäden in der Kulturszene anrichtet. Nun hat man im Gegenteil den Eindruck, dass die Kulturszene in Wiesbaden regelrecht aufblüht. Täuscht dieser Eindruck?
Diesen Eindruck habe ich tatsächlich auch. Einerseits gibt es ganz viele Initiativen und Personen, die unheimlich motiviert sind und etwas machen wollen und auch eine gewisse Aufbruchsstimmung verbreiten. Da kommt es auch zu neuen Kooperationen, über die Kulturschaffende nochmal viel stärker miteinander Projekte machen. Und es gibt den einen oder die andere, die ganz frisch dazukommen und sich motiviert fühlen, etwas zu machen. Der Start nach der langen Zeit des Darbens ist ein schöner und bereichernder. Manchmal fehlt ein bisschen das Publikum. Da denke ich: Wo seid ihr denn? Warum sind nicht alle hier und ganz heiß auf Kulturangebote?
Seitens der Stadt erscheinen Dinge möglich, die früher undenkbar waren – Formate, Locations, Förderungen. Wie versuchen Sie, diese Entwicklung zu befeuern?
Dafür bin ich ja da! So verstehe ich meinen Job, dass ich schaue, was ist das Potenzial, was können wir noch machen, was schlummert da? Wir haben das große Glück, dass die Haushaltsmittel umfangreicher sind als in den Jahren zuvor. Wir können Impulse setzen und manches auch ein Stück weit ausprobieren, schauen. Mir ist daran gelegen, dass es Vernetzungen gibt, auch über Wiesbaden hinaus. Wie können wir als Amt dazu beitragen, dass Wiesbaden auch nach außen etwas bunter, differenzierter, weniger einseitig wahrgenommen wird?
Ihr bisher wohl größter Coup ist das „Marleen“ im „Lili“. Wie sind hier Resonanz und Perspektiven?
Von Akteur:innen wird es sehr gut angenommen. Bis Ende des Jahres sind alle Programmtermine verbeben. Wir haben eine Verlängerung bis mindestens März, wahrscheinlich bis Mitte 2022 und dann in Schritten weiter. Es wird von sehr vielen kulturaffinen Menschen in der Stadt wahrgenommen. Ich finde den Ort nach wie vor sehr spannend. Ein Kulturzentrum in einem Einkaufszentrum, so etwas Ungewöhnliches steht Wiesbaden schon gut zu Gesicht. Das „Lili“-Centermanagement ist auch sehr entgegenkommend.
Vieles klingt und ist also sehr positiv, aber es gibt ja sicher auch Sorgen und Nöte!?
Definitiv die Kontinuität – die Tatsache, dass viele nicht wirklich davon leben können, was sie machen, und sich von Projekt zu Projekt hangeln. Das gehen wir an mit der institutionellen Förderung im Kulturentwicklungsplan – ein wichtiger Faktor, um Qualität aufrechterhalten und weiterentwicklen zu können. Und wir müssen schauen, wo die Stadt sich hinentwickeln möchte, auch über Wiesbaden hinaus. Meine Wahrnehmung ist, dass sich viel innerhalb der Stadt abspielt und die Ausstrahlung über die Stadt hinaus noch nicht die ist, die man sich wünschen würde. Das finde ich schade, da kann man sicher noch einiges ausbauen, auch das Selbstbewusstsein der Wiesbadener Kulturakteure.
Welche kulturellen Potenziale schlummern in den Stadtteilen?
Die Stadtteile sind sehr unterschiedlich. Es gibt Stadtteile, in denen ist die Struktur der Stadtteilkulturtage traditionell gewachsen und seit Jahrzehnten sehr erfolgreich war und ist. In anderen Stadtteilen muss man schauen, ob das noch die Struktur der Zukunft ist. Ich persönlich bin da offen. Mir geht es immer darum, dass Kultur stattfindet, die Qualität hat, die aber auch niedrigschwellig ist und Zugänge schafft, die Gemeinschaft und Begegnungen ermöglicht. Wie genau das Konstrukt dahinter aussieht, ist aus meiner Sicht flexibel. Da muss man in den Abstimmungsprozess gehen. Ein wichtiger Aspekt ist auch, den Personenkreis derer, die sich einbringen, zu erweitern und zu gemeinsamen Projekten zu motivieren – also in vielen Stadtteilen Personen, die Migrationshintergrund haben und vielleicht auch tatsächlich in anderen Kulturen aufgewachsen sind.
MENSCH
Warum braucht der Mensch Kultur?
Ich persönlich glaube, dass Kultur ein wichtiger Aspekt der Persönlichkeitsentfaltung und Individualität ist – dass einem individuell etwas fehlt, wenn man nicht zumindest die Möglichkeit hat, einen Zugang zu Kultur zu bekommen. Ich finde es aber auch gesellschaftlich wichtig, weil nicht immer alles nur um Geld und Erfolg gehen kann, sondern auch um Inspiration, Impulse, Begegnungen, Gemeinschaft. Ohne Kunst und Kultur wäre unser Dasein sehr eindimensional.
Wie kam Ihr persönlicher Zugang zu Kultur – gab es ein prägendes Erlebnis?
Das kann ich nicht sagen. Ich komme aus einem Haushalt, wo Kultur eine Rolle spielte, aber nicht übermäßig. Eine gewisse Offenheit gegenüber Kunst und Kultur war gegeben, es kam mir sehr natürlich vor. Die Entscheidung, es beruflich zu machen, habe ich erst im Studium getroffen. Ich habe erst Rechtswissenschaften studiert in Hamburg. Da habe ich ganz viele Möglichkeiten gehabt, Dinge zu sehen und zu erleben. Das habe ich für mich persönlich als Inspiration empfunden. Dass es dann auch zur beruflichen Umorientierung führte, war eher ein schleichender Prozess. Nach dem Bachelor of Law kam die komplette Kehrtwende, es folgten dann Angewandte Kulturwissenschaften in Lüneburg und später noch berufsbegleitend Kultur- und Medienmanagement.
Betätigen Sie sich selbst kulturell?
Nein. Ich war mal Laientheater-mäßig unterwegs in der Schule und während des Studiums.
Sie dürfen einen kulturellen Ort Ihrer Träume frei von allen Vorgaben und Zwängen schaffen – wie sieht dieser aus?
Das wäre so ein großes Haus, wo alle alle Möglichkeiten haben. Wo es Proberäume gibt, Veranstaltungsräume, aber auch ein bisschen Garten, Gestaltungsraum, auch die Möglichkeit, offen zu sein für andere und für Publikum. Ein Kreativzentrum, aber mit Natur – das ist für mich ein wichtiger Aspekt. Deswegen gefällt mir auch der neue „Kulturdschungel“ Unter den Eichen so gut.
Als Nordlicht haben Sie auch Sehnsucht nach dem Wasser. In einem Interview hatten Sie gesagt, Sie suchen eine Wohnung in Biebrich. Sind Sie fündig geworden?
Tatsächlich war es ein bisschen als Scherz gemeint (schmunzelt). Ich komme aus Hamburg, wir hatten eine sehr enge Beziehung zur Ostsee. Das ist schon so ein Lebensgefühl, zu wissen, dass das Wasser da ist. Ich wohne nun im Westend. Ich habe sehr viel Wert darauf gelegt, innenstadtnah zu wohnen, weil ich die Pendelei so satt hatte. Nun bin ich so froh, mit dem Fahrrad überall hinfahren zu können. Ich bin aber relativ viel am Wasser, in Biebrich oder in Schierstein, das ist schon ein schöner Aspekt an Wiesbaden. Der Rhein ist auch nochmal anders als der Main, vorher war ich ja einige Jahre in Frankfurt.