Interview Dirk Fellinghauer. Foto Arne Landwehr.
BERUF
Die Wartburg – 1906 eröffnet, wechselvolle Geschichte, seit 2003 Spielstätte des Staatstheaters – wird mal wieder neu erfunden. Warum und wie?
Die Wartburg wird nicht komplett neu erfunden, sie bleibt die Spielstätte des Staatstheaters und ist damit Teil einer sich im stetigen Wandel befindenden kulturellen Institution. Die Wartburg wird ab nächster Spielzeit näher an das JUST heran rücken, sie wird Heimat des Jungen Staatsmusicals und der Spielclubs. Wir werden mit einer neuen Premiere aus dem Jugendtheater das Repertoire an Stücken für Jugendliche ausbauen und Produktionen für ein Publikum ab elf Jahren in die Wartburg holen. Zudem werden wir das Angebot an experimentellen Reihen erweitern und das studentische Publikum in die Wartburg locken. Die Wartburg, die schon immer auch Sprungbrett für große Karrieren war, wird ihrer Geschichte treu bleiben und jungen Menschen eine Chance bieten, sei es auf oder hinter der Bühne.
Als Zielgruppe wurde ein „junges Publikum“ genannt. Wie definieren Sie „jung“?
Alle, die in die Wartburg kommen, die sind jung. Wenn das mal keine Werbung ist. Ich möchte ehrlich gesagt keine Grenze nach oben ziehen. Gutes Theater und auch Literatur für junge Menschen kennt keine maximale Altersgrenze. Allein der Fokus der ausgewählten Stoffe liegt mehr auf den Themen die jüngere Generationen bewegt und diese gezielt anspricht. Produktionen aus dem JUST sind, bis auf eine Ausnahme, ab elf Jahren und aufwärts in der Wartburg zu finden. Stücke für Kinder sind weiterhin im Studio, im Kleinen und Großen Haus zu finden.
Im Staatstheater-Spielzeitheft kündigen Sie an, dass in der Wartburg „neue Theaterformen ausprobiert werden“. Welche können das sein, und welches Ziel verfolgen Sie damit?
Digitalisierung ist das Stichwort. Die Digitalisierung verändert unser Leben rasant und wirkt sich auch auf unsere Erzählformen aus. Sie bietet durch immer leistungsfähigere und kostengünstigere Technik einen enormen künstlerischen Spielraum. Neue Räume entstehen, Grenzen werden gesprengt und räumliche Trennungen aufgehoben. Wir möchten in der Wartburg auch den Raum schaffen, sich mit neuen digitalen Erzählformen und Techniken auseinanderzusetzen und diese auszuprobieren.
Die Schwalbacher Straße ist ein anderer, sicher rauerer Ort als die feine Wihelmstraße, wo das Stammhaus des Staatstheaters zuhause ist. Wie macht sich das bemerkbar?
Wenn man sich den Warmen Damm und das Bowling Green am Wochenende in der Nacht ansieht, dann weiß ich nicht, ob die Schwalbacher Straße wirklich das rauere Pflaster ist. Aber es stimmt schon, die Schwalbacher Straße als Grenze zum unteren Westend hat schon ihren eigenen Charme. Ich persönlich sehe in dieser Lage eine große Chance, auch Menschen für das Theater zu gewinnen, die sich so schnell nicht an die Wilhelmstraße verirren. Die Biennale hat uns sehr eindrücklich gezeigt, was alles möglich ist. In der übernächsten Spielzeit werden wir verstärkt die Wellritzstraße und das untere Westend in den Blick nehmen. Auf dieses Projekt freue ich mich besonders.
Für die diesjährigen Maifestspiele inszenieren Sie das Eröffnungsstück der Jungen Woche „Die Brüder Löwenherz“ nach Astrid Lindgren. Worauf darf sich das „8+“-Publikum freuen?
Das Publikum darf sich zuerst einmal auf großartige Schauspieler*innen auf der Bühne freuen. Wir haben eine wunderbare Besetzung mit der es eine Freude ist, das Stück auf die Bühne zu bringen. Und wir haben eine traumhafte Ausstattung von Lorena Díaz Stephens und Jan Hendrik Neidert die eine sehr phantastische und phantasievolle Welt erschaffen haben, die durch die wunderbare Musik von Timo Willecke abgerundet wird. Mit dieser fabelhaften Ausgangsbasis erschaffen wir gerade ein spannendes Bühnenabenteuer, das auch die eine oder andere Träne rühren wird. Ich bin selber schon sehr auf die Kritik meiner ältesten Tochter, die acht Jahre alt ist, gespannt.
MENSCH
Was macht gutes Kinder- und Jugendtheater aus?
Gutes Kinder- und Jugendtheater nimmt sein Publikum und sich selbst ernst und sieht seinen Auftrag nicht in der reinen Unterhaltung. Gerade im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters gibt es großartige Stücke die sich mit zeitgenössischen Themen auseinandersetzen und die gesellschaftlich hochaktuell und relevant sind. Wenn dann ein künstlerisches Team unter professionellen Bedingungen mit diesen Stoffen arbeitet, entsteht in der Regel gutes Kinder- und Jugendtheater das für alle Altersgruppen interessant ist.
Von welchem Theaterstück haben Sie persönlich am meisten für Ihr Leben gelernt?
Ich kann nicht sagen, dass mich ein Theaterstück am meisten beeinflusst hat. Jede Lebensphase hatte eine Inszenierung oder ein Stück, das mich am stärksten bewegt hat. Momentan ist es „Caligula“. Am meisten gelernt habe ich jedoch innerhalb der Produktionen an denen ich direkt beteiligt war und die prägendste davon war „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ inszeniert von Dietrich Hilsdorf. Es war meine erste Regieassistenz, bei der einiges von mir abverlangt wurde, ich jedoch umso mehr mitgenommen habe. Sein Feuer für das Theater und die Geschichte, seine Genauigkeit und die Leidenschaft beim inszenieren haben mich sehr beeindruckt und geformt. Herbert Fritsch war auch jemand der mir sehr inspiriert hat. Seine Fähigkeit sein Team zu motivieren und zu künstlerischen Höchstleistungen anzutreiben, war wirklich beeindruckend.
Sie haben in Ihrer Laufbahn schon mehrfach zwischen „fest“ und „frei“ gewechselt. Was spricht aus Ihrer Erfahrung für und gegen das eine und das andere?
Als Regieassistent habe ich an unser Bürofenster, das zu einer überdachten Durchfahrt rausgeht und vor dem ein Taubennetz gespannt ist, ein Schild mit der Aufschrift „Freiheit2 angebracht. Ich konnte es nicht erwarten, frei zu sein. „Ich bin frei!“ Was für ein Satz. Man nimmt nur an, was man wirklich will und bestimmt sein Leben selbst. Aber leider ist man dann trotz der Freiheit nicht immer ganz so frei, da es da so profane Sachen wie die monatliche Miete und die Kindergartengebühren gibt. Es ist super, als freier Regisseur an unterschiedlichen Häusern zu inszenieren, neue Menschen und Städte kennenzulernen und Netzwerke zu bilden. Andererseits muss man auch immer wieder weg und würde so manche Freundschaft oder künstlerische Arbeitsbeziehung gerne weiterführen. Dies kann man leichter „fest“ an einem Haus. Es ist ein wunderbares Gefühl, Teil der Theaterfamilie zu sein, die Menschen aus den verschiedenen Gewerken persönlich zu kennen, gemeinsam an einer Sache zu arbeiten und das Theater zu gestalten
Das Staatstheater Wiesbaden feiert in diesem Jahr 125-jähriges Bestehen. Wie stellen Sie sich Theater in 125 Jahren vor?
Mit Blick auf die Digitalisierung und die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen die wir momentan erleben, bin ich selber sehr gespannt, wie es in 125 Jahren aussieht. Ich würde tippen, dass der Klimawandel durch radikales Umdenken gestoppt, die Folgen des Kapitalismus überwunden wurden und die Menschen genügend Zeit für die Kultur und das Theater haben. Was auch immer passiert, im Theater wird weiterhin der Mensch und die Einzigartigkeit eines jeden Auftritts im Mittelpunkt stehen. Gesellschaftlich relevanten Themen werden aufgegriffen und verhandelt. Das Theater wird als Kommunikations- und Begegnungsstätte dienen. Auf jeden Fall werden keine Supermärkte oder Parkhäuser in die Theaterhäuser einziehen, so was soll es ja geben.
Wie gespannt verfolgen Sie in diesem Monat die Wiesbadener Oberbürgermeister-Wahl und die Europawahl?
Sehr. Die ganze Vorgänge um unseren aktuellen OB bieten ja schon Stoff für ein neues Theaterstück. Ich wünsche mir für Wiesbaden, dass wir eine/n Oberbürgermeister*in bekommen, die oder der sich weiterhin für die Umsetzung der Verkehrswende einsetzt, die soziale Ungleichheit in der Stadt angeht und die oder der ein Interesse an den vielfältigen Kulturangeboten in der Stadt hat und diese gebührend unterstützt. Mit Blick auf die Europawahl hoffe ich auf eine hohe Wahlbeteiligung und das sich die Menschen für ein offenes demokratisches Europa entscheiden.
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„Die Brüder Löwenherz“ nach Astrid Lindgren in der Inszenierung von Dirk Schirdewahn feiert als Eröffnungsstück der „Jungen Woche“ im Rahmen der Maifestspiele an diesem Sonntag, 12. Mai, um 15 Uhr im Kleinen Haus des Staatstheaters Premiere. Es gibt noch Restkarten – weitere Vorstellungen sind am 13. Mai, 11 Uhr, 18. Mai, 16 Uhr, sowie im Juni.