Interview: Dirk Fellinghauer. Foto: Arne Landwehr.
BERUF
Wie steht es um das queere Wiesbaden im Jahr 2022? Und wie förderst du es als der städtische LSBT*IQ-Koordinator mit eigenem Büro im Rathaus?
Für die Größe der Stadt ist das queere Wiesbaden relativ vielfältig und lebendig. Wir haben eine Struktur von vielen verschiedenen Akteuren. Alle möglichen Bedarfe, die Lesben, Schwulen, Bisexuelle, Trans haben können, werden in Wiesbaden abgedeckt. Ich bin für die Unterstützung der Community da – zum Beispiel, wo finde ich Fördertöpfe für Projekte, wie kann man Projekte inhaltlich gut umsetzen? Oder fachpolitische Fragen: Was macht Wiesbaden zu einem guten Standort für LSBT*IQ, als Arbeitgeber wie auch als Lebensort? Akzeptanzforderung ist ein wichtiger Punkt. Ich berate OB, Magistrat und Stadtverwaltung fachlich. Auch in individuellen Fragen können sich alle bei mir melden – der Vorgesetzte, wenn er sagt, unsere Kollegin ist als Mann in den Urlaub gegangen und kommt als Frau zurück, genauso wie der junge Bürger, der sagt, ich bin gläubiger Muslim mit homosexuellen Gefühlen.
„Trotz positiver Entwicklungen bleibt viel zu tun im Bereich sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ steht in eurem Infoflyer – was genau?
Drängende Themen der letzten Jahre sind in den Hintergrund geraten. Wir haben die Ehe für alle, die Verfahren zur Vornamens- und Personenstandsänderung von transidenten Menschen sind immer weiter vereinfacht worden. Die Gesellschaft ist liberaler geworden, die rechtliche Ungleichbehandlung wurde immer weiter abgebaut. Dennoch sehen wir nach wie vor Homophobie, Transphobie, Leute werden auf der Straße angegriffen, es gibt Diskriminierung am Arbeitsplatz, die Arbeitslosenquote bei transidenten Menschen ist um ein Vielfaches höher.
Wo zeigen sich die größten Vorbehalte?
Homophobie steht bei Jugendlichen ganz hoch im Kurs, was aber auch verständlich ist. Gerade Jungs machen sich in ihrer Pubertät Gedanken über ihre eigene Männlichkeit und sind oft unsicher. Da gibt es einfach diese Tendenz, sich selbst männlicher und größer und besser zu fühlen, indem man andere abwertet.
Was Otto-Normal-Wiesbadener:in vom queeren Leben in der Stadt mitbekommt, sind die große Events wie der Wiesbadener Christopher Street Day, der am 28. Mai wieder stattfindet, oder im Dezember, wenn nicht gerade die Pandemie einen Strich durch die Rechnung macht, die Ballnacht der Aidshilfe. Wie wichtig sind solche Veranstaltungen?
Der CSD ist gerade für eine Landeshauptstadt die wichtigste Veranstaltung, für die Community wie auch für die Bevölkerung insgesamt. Da steht an einem Tag die ganze Stadt unter dem Regenbogen. Man erfährt auch als Außenstehender, was die Bewegung bewegt, welche Themen noch drängen. Es ist auch einfach wichtig für eine Stadt, dass sie sich ihrer eigenen Vielfalt bewusst wird. Auch die Ballnacht finde ich sehr beeindruckend – schon allein, wie die Aids-Hilfe eine Veranstaltung dieser Größenordnung umsetzt, ohne eine Eventagentur zu organisieren.
Die Bilder, die von solchen Ereignissen medial verbreitet werden, sind immer wieder die Drags, die Bunten, die Schrillen – wie realistisch ist dieses Bild?
Natürlich ist das immer nur ein Ausschnitt der Bewegung, der Szene und der Zielgruppe, für die ich da bin. Es gehört auch heute noch für Angehörige einer sexuellen oder geschlechtlichen Minderheit viel dazu, sich zum Beispiel auf der Demo vom CSD zu präsentieren. Es gibt noch Vorannahmen und bestimmte Vorstellungen, die auch bestätigt werden wollen. Ich persönlich finde es nicht schlimm, dass Drag Queens, die sich zwei Stunden lang geschminkt und bestimmt sehr lange über ihr Outfit nachgedacht haben, am Ende auch auf den Fotos sind. Trotzdem ist der CSD mit seiner Demonstration eine Mischung, die auch fortbestehen sollte – sowohl die schrillen Vögel und teilweise skurrilen Outfits als auch die Leute, die ganz ernsthaft einfach mitlaufen und Schilder tragen. Und es gibt ja auch immer noch die Möglichkeit, ein tolles Paillettenkleid anzuziehen und dabei ein Schild vor sich her zu tragen.
MENSCH
Wie hast du dein persönliches Coming-Out erlebt?
Mein Coming-Out war ganz klassisch. Als Heranwachsender habe ich für mich klar gehabt, dass ich wohl schwul bin. Nachdem ich mich mit mir selbst arrangiert hatte, habe ich begonnen, es meinen Freunden zu erzählen, dann hat es auch die Familie erfahren. Bis ich es allen gesagt habe, war ich so 18, in der Rückschau hätte ich es wohl auch schon mit 12 sagen können. Es braucht einfach seine Zeit, auch heute brauchen die Jugendlichen nach wie vor so lange.
Hast du persönlich schon Anfeindungen erlebt?
Ja. Im jetzigen Alter weniger, aber wer mich sieht, merkt es auch, dass ich schwul bin. Wenn ich in den Bus einsteige, weiß es der Busfahrer und die Leute in der hintersten Reihe auch. Da ist man eher Zielscheibe. Es passiert mir nach wie vor hin und wieder, aber nicht in einer solchen Regelmäßigkeit wie früher. Die Homophobie, die ich erlebt habe, hat mich auch zum Aktivisten gemacht, das war ein Motor, die Verhältnisse zu verändern und zu verbessern. Mit meinem Coming-Out, ab dem Moment, wo es jeder wusste, bin ich damals auch direkt Aktivist geworden. In Darmstadt, wo ich wohne, habe ich zum Beispiel den Verein „Vielbunt“ mitgegründet.
Welche Tipps hast du gegen dumme Sprüche?
Da muss jeder seinen eigenen Weg finden. Es gibt nicht „den“ guten Tipp. In der Beratung würde ich eher empfehlen, dass man drauf achtet, dass man sicher ist. Ich selbst meide auch einfach Gelegenheiten, in denen es brenzlig werden könnte. Als, wenn so will, unterdrückte Minderheit machen wir es ganz automatisch so, dass man sich, wenn im Bus eine Gruppe einsteigt, die einem nicht so geheuer vorkommt, anders verhält und versucht, nicht aufzufallen.
Wie sieht ein perfekter freier Tag für dich aus?
Ausschlafen. Ende! (lacht) Ich bin sehr gerne lange nachts unterwegs und schlafe dann lange aus. Der perfekte freie Tag ist also die Nacht, die ich zum Tag gemacht habe.
Was ist für dich der beste queere Roman, Film, Song …?
Oh, Gott! (denkt lange nach) Ehrlich gesagt konnte ich mit der ganzen schwulen Literatur, die einem so entgegengekommen ist in den letzten Jahren oder auch Jahrzehnten, von Klaus Mann bis zu aktuellen Graphic Novels, nicht so richtig viel anfangen. Ich selbst habe einfach genug Coming-Out-Bücher und -Filme gelesen und gesehen, ich persönlich brauche es nicht mehr. Aber bestimmt ist es für andere noch hilfreich, sich mal durchzulesen, wie es sein kann. Super fand ich die Serie „Pose“ auf Netflix. Da geht es um schwarze Trans-Frauen im New Yorker der Achtziger und Neunziger Jahre, die auf Wettbewerbe gehen, selbstorganisierte Bälle. Das war eine sehr schöne und auch beeindruckende Serie und, auch vor dem Hintergrund der damaligen Aids-Krise, sehr rührend. Da kommt auch ein Lied vor, das mir gut gefällt – „Never Knew Love Like This Before“ von Stephanie Mills. Das wird auch im Schlachthof hin und wieder bei der „Let´s go Queer“-Party gespielt.
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Weiterlese-Tipp: Die große sensor-Reportage „Queer im Zentrum – Wie `warm“ ist und wird Wiesbaden?“