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Der große Test: Freie Theater in Wiesbaden

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Von Falk Ruckes & Dirk Fellinghauer. Fotos Anna Thut.

Nicht nur in den Häusern des Staatstheaters gibt es Bretter, die die Welt bedeuten. Wiesbaden hat auch kleine feine Bühnen, geführt und mit Leben erfüllt von professionellen Enthusiasten jenseits konventioneller Zwänge. Trotz oft versteckter Lage müssen sie sich keineswegs verstecken.

Galli Theater

„Johannes Galli (* 1952) ist ein deutscher Unternehmer, Clown, Schauspieler, Regisseur, Musiker, Trainer, Coach, Philosoph und Autor.“ Sagt Wikipedia. Das macht den Schubladen-besessenen Deutschen erst mal skeptisch. Wie, so vieles Verschiedenes? Eine Person kann doch nur eine Sache (richtig) machen! Der aus dem Rheingau stammende, in Freiburg (straßen)theatersozialisierte, nach einigen Jahren in New York wieder in Wiesbaden lebende Galli macht all das Genannte (mindestens), und all das so gut, dass es erfolgreich ist. Komplett subventionsfrei betreibt er in seiner Heimatstadt eines von insgesamt fünfzehn nach ihm benannten Theatern (14 in Deutschland, eines in New York). Hier mischen sich Workshop- und Seminarangebote mit Businesstheater, seit neuestem ein Café und dazu eben ein „regulärer“ Theaterbetrieb im Hinterhof. Für Kinder gibt es lebendiges Mitspieltheater, bei dem niemand stillsitzen soll. Beim Comedy-Sprechtheater und mittlerweile auch den Musicals für Erwachsene dreht sich in Stücken wie „Ehekracher“, „Eheurlaub“ oder „Beziehungsbomber“ sehr vieles um die Mit-, Aus- und wieder Zueinander von Mann und Frau. Unterhaltsame Lebenshilfe bringen die allesamt nach der Galli-Methode ausgebildeten Akteure auf die Bühne, die auch oft Schauplatz von Märchen ist. Eine Spezialität des Hauses mit 140 Plätzen im Theaterraum mit sehr angenehmer Atmosphäre sind Aufführungen in englischer Sprache.

Fazit: Unterhaltsames Bühnengeschehen mit Lebenshilfe-Appeal.

Galli Theater Wiesbaden, Adelheidstraße 21, www.galli-wiesbaden.de 

Kammerspiele Wiesbaden 

Unscheinbar im Nebengebäude der Bergkirche beheimatet, bilden die Kammerspiele seit ihrer ersten Premiere im Oktober 2009 ein wahres Kleinod des landeshauptstädtischen Off-Theater-Geschehens. Das Staunen setzt bei den Besuchern schon beim Betreten der Räume im ersten Stock ein. Samtene Vorhänge, goldene Spiegel, prächtige Fauteuils buhlen um Hauptrollen im Spiel der fast skurrilen Festlichkeit. „Fast kommt der Zuschauer sich vor, als ob er versehentlich in die Wohnräume eines exzentrischen Unbekannten gestolpert wäre“, lesen wir in der Selbstbeschreibung des Hauses, in dem Gäste zum geselligen Drink im Foyer vor und nach den Vorstellungen willkommen sind. Hausherr ist der staatlich diplomierte Schauspieler Gregor Michael Schober. Er hat eine Truppe Theaterschaffender um sich gescharrt, die nach langjähriger Berufspraxis aus Staats- und Stadttheatern an- bzw. auftreten, „um selbst Produktionsverhältnisse zu schaffen, die eine sehr persönliche und lebendige künstlerische Entwicklung ermöglichen.“ Auf ein familiäres Miteinander im Mehr-Generationen-Ensemble, in dem Kenner Namen wie Jan Käfer (Künstlerische Leitung, Regie), Bernd Ripken oder Rainer Kühn kennen, wird Wert gelegt, ebenso auf solides Handwerk und anspruchsvolles Regietheater. So entstehen im kleinen schwarzen Theaterraum mit 60 Plätzen intime und intensive Inszenierungen von Eigenproduktionen mit bevorzugt psychologischer Ausrichtung. Vor allem kommen gesellschaftskritische und –entlarvende Stücke auf die Bühne. Klassiker, Komödien und Musiktheater und Kinderstücke finden sich aber ebenso im mittlerweile gut ein Dutzend Stücke umfassenden Repertoire.

Fazit: Theaterideale frisch und erfrischend interpretiert. 

Kammerspiele Wiesbaden, Lehrstraße 6, www.kammerspiele-wiesbaden.de 

Künstlerhaus 43 

Als Susanne Müller und Wolfgang Vielsack 2005 das ehemalige Arbeiterhaus in der Oberen Webergasse übernahmen, sollten sich die Räume des Gebäudes aus dem 19. Jahrhundert in die Bühne für eine ganz besondere Art von Schauspiel verwandeln: eine Mischung aus klassischer Aufführung und Mitmach-Impro-Theater. Wer hier den Abend verbringt, lässt sich nicht passiv berieseln, sondern wird selbst zu einer Figur der Handlung. So verharrt beispielsweise bei Shakespeares prominentestem Stück der Zuschauer nicht in einem abgetrennten Zuschauerbereich, sondern speist zusammen mit Romeo und Julia an einer üppig gedeckten Tafel oder nimmt als aristokratischer Capulet an einer Festgesellschaft teil. Dabei führt das Bühnengeschehen über zwei – weitgehend historisch belassene – Etagen des Hauses und in den mit Efeu bewachsenen Innenhof. Egal ob „Romeo & Julia“, „Napoleon erobert Wiesbaden“ oder „Giacomo Casanova“ – das Ende jeder Geschichte steht zwar fest, doch der Weg dorthin ist immer wieder neu. „Durch den Input der Zuschauer reifen unsere Stücke über die Jahre wie guter Wein“, lacht Wolfgang Vielsack. 

Fazit: Wer nicht nur zusehen, sondern auch mitmachen will, ist hier goldrichtig 

Kuensterlhaus 43, Obere Webergasse 43, www.kuenstlerhaus43.de

 Kryptonite Radio Theater  

Kryptonite – was für Superman ein Fluch ist, ist für Wiesbaden ein Segen. Denn die hessische Landeshauptstadt darf mit dem Kryptonite Radio Theater das wahrscheinlich einzige feste Radiotheater Deutschlands sein eigen nennen. Hier wird der Zuschauer – oder besser gesagt der Zuhörer – in die Goldene Zeit der großen Radiohörspiele zurückversetzt: Egal ob Literaturklassiker wie „Dracula“ oder packende Science-Fiction-Operas im Stil von Flash Gordon und Raumpatrouille Orion – alles wird von Matthias Braun und seinem Team auf der Bühne live im englischen Original produziert: Vor Mikrophonen im 30er-Jahre-Look schlüpft das nostalgisch gekleidete Ensemble in die verschiedenen Sprecherrollen und lässt die Gäste Abenteuer mit Außerirdischen und Monstern akustisch erleben. „Ich höre im Jahr rund 1000 Hörspiele. Die besten wähle ich für unser Projekt aus“, erzählt Matthias Braun, der früher als Regisseur an einem englischen Theater arbeitete. Sogar die Soundeffekte entstehen direkt vor den Augen und Ohren des Publikums: Um beispielsweise einen Genickbruch zu simulieren, geht schon mal ein Sellerie in Zwei. 

Fazit: Nicht nur für eingefleischte Fans von Sci-Fi- und Gruselgeschichten ein wahrer Hörgenuss. 

Kryptonite Radio Theater, wechselnde Spielstätten, im Oktober „The Call of Cthulhu“ im Alfons-Jung-Saal, Kellerstraße 37, http://kryptonite.bplaced.net/index.htm  

Velvets 

Mit dem Velvets findet sich ein ganz besonderes Unikat in der Wiesbadener Theaterlandschaft: Es ist das einzige schwarze Theater mit abendfüllenden Stücken in ganz Deutschland. Zwar verströmt die Spielstätte in der Schwarzenbergstraße von außen eher den industriellen Charme einer Lagerhalle. Doch wer sie betritt, wird für die Dauer einer Aufführung in fantastisch anmutende Welten entführt. Barbara Naugton und ihr Ensemble bringen Märchenhaftes wie die „Zauberflöte“, „Schneewittchen“ oder „Momo“ als liebevoll inszenierte Masken- und Puppenspiele auf die Bühne. „Der kleine Prinz“ wurde in den letzten 35 Jahren sogar schon über 1000-mal aufgeführt. Sein Erfolgsgeheimnis? „Die Geschichte spendet Menschen jeden Alters Trost und Hoffnung“, weiß Barbara Naughton. Ein weiterer Publikumsliebling ist „Grenzen – Los“. Das autobiographische Stück erzählt von Barbara Naughtons (ebenfalls bis heute im Theater aktiven) Eltern, die das Velvets 1967 in Tschechien gründeten und nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus ihrer Heimat flohen. Für die aufwendigen Szenerien des Stücks wurden traditionelle Theaterformen mit moderner Technik wie dem Einsatz von Beamern kombiniert. 

Fazit: Wer das Zauberhafte mag, wird das Velvets lieben. 

Velvets Theater, Schwarzenbergstraße 3, www.velvets-theater.de, Ein Gastspiel gibt das Velvets am 29.Sept von 16-17 Uhr auf dem Wiesbadener Stadtfest. 

Walhalla

Die vielleicht aufregendsten, weil ungewöhnlichsten, überraschendsten und sonst in dieser Art wenn überhaupt, dann eher in Großstädten zu entdeckenden Bühnendinge passieren im Walhalla. Auch wenn im Haus selbst mit seiner über 110-jährigen Geschichte – dem ewigen Dornröschen des Wiesbadener Kulturgeschehens – die eine oder andere Ecke etwas staubig anmutet, wird in den Eigenproduktionen der Staub, der Theater oft anhaftet, mit lustvoller Wucht weggeblasen. „In den Produktionen werden die verschiedensten modernen Kunstformen im Bereich Tanz, Theater, Medien, Musik und Kunst zusammengeführt und Techniken entwickelt, die dem Zuschauer eine neue Sicht auf die Dinge ermöglichen sollen“, sagt die Künstlerische Leiterin Sigrid Skoetz, die sich auch auf Publikumsrennern nie ausruht, sondern immer wieder komplett Neues ersinnt und realisiert. Theater im Walhalla ist experimentell, radikal, frei von Konventionen, mit Mut zum Unperfekten, und dabei doch höchst professionell – und  im Aufspüren und Aufgreifen aktueller Entwicklungen nicht zuletzt dank aufmerksamer Blicke und familiärer Verbindungen in tonangebende Großstädte wie Berlin eine Spur voraus. Die Atmosphäre im Haus mutet mitunter existenzialistisch an, Verruchtheit liegt in der Luft, man arbeitet mit Faible für zwischen Genie und Wahnsinn pendelnde Exzentriker wie Kinski und Fassbinder oder auch für Ikonen wie die „27-jährigen“ Jim Morrison, Jimi Hendrix, Janis Joplin und Amy Winehouse. Unvergessen ist die Inszenierung von Jan Fabres „Ich bin Blut“, aktuell sehenswert „Jerusalem Syndrom feat. Nathan“ und in Planung wie immer schon wieder Großes Neues.  Man darf gespannt sein, mit welchem Thema als Nächstes Anspruch und Unterhaltung aufs Wohltuendste vereint werden.

Fazit: Der Ort für Neugierige und Weltoffene mit dem Anspruch, dass Theater Ereignis sein muss, und mit Sehnsucht nach dem Lebensgefühl echter Großstädte.

Walhalla Studio Theater, Mauritiusstraße 3a, www.walhalla-studio.de