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Ein Band, das bleibt: Minderjährige Flüchtlinge machen ihren Weg in Wiesbaden – „Antoniuspaten“ gesucht

Von Gesine Bonnet. Fotos Samira Schulz.

47 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die zuletzt in restlos überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln gelebt hatten, sind heute im Rahmen einer „Sonderaufnahme“ in Deutschland gelandet. Heute erzählen wir von zwei jungen Menschen, die schon 2015, als damals 15-jährige Flüchtlinge, nach Wiesbaden kamen und hier ihren Weg gegangen sind. In der sensor-Sommerausgabe 2018 (hier als PDF-Download, Seiten 34/35) hatten wir Hager und Sayed erstmals vorgestellt. Beide sind als „unbegleitete Minderjährige“ ohne Eltern nach Deutschland geflüchtet, Paten haben sie hier auf dem Weg ins Erwachsenendasein begleitet. Wo stehen die jungen Leute inzwischen?

Der erste Eindruck: keine Zeit. „Es wird schwer sein, einen gemeinsamen Termin zu finden“, sagt Martin Lürwer im November 2019. „Sayed ist zurzeit enorm busy“. „Hager hat im Moment keine freie Minute“, sagt Annegret Gable. „Sie muss sich auf ihre Zwischenprüfung vorbereiten.“ Zwei junge Leute in Wiesbaden, 19 Jahre alt, beide in der Ausbildung, Freunde, Handy, der übliche Stress.

Das klingt ganz normal und ist es doch nicht, was sich schon daran zeigt, dass es weitere Protagonisten in dieser Geschichte gibt: Sayeds „Pateneltern“ Martin Lürwer und seine Frau Martina sowie Annegret Gable und ihr Mann Volker Pillsticker, die sich um Hager kümmern. Zusammengeführt hat sie das Projekt „Antoniuspaten“, das unbegleiteten jungen Geflüchteten den Weg ins Erwachsenenleben erleichtern will (siehe Info-Box). Als wir im letzten Jahr über Sayed und Hager berichteten – beide kamen 2015 15-jährig nach Deutschland, er aus Afghanistan, sie aus Eritrea –, da lief einjährige Patenzeit für beide noch. In jener Zeit schaffte Sayed seinen Realschulabschluss, Hager den Hauptschulabschluss und beide standen kurz vor Beginn ihrer Ausbildung: Hager als Köchin im Ausbildungsrestaurant «Die Gabel» und Sayed als Bauzeichner in einem Ingenieurbüro in Eltville.

Wie sieht es heute aus, nach dem offiziellen Abschluss der Patenschaft? Zu Ende ist hier jedenfalls nichts. Nicht nur, weil es noch genug zu helfen gibt. Sondern auch, weil da etwas gewachsen ist.

Hilfe beim Lernen und Briefen vom Amt

Hager, die wir – nach erfolgreich abgeschlossener Zwischenprüfung – in der Wohnung ihrer Pateneltern in Wiesbaden Nordost antreffen, sitzt in eine Decke gekuschelt auf einem Stuhl, es gibt Tee. Alles ist eingespielt und vertraut, das spürt man. Fast täglich ist sie hier, um für die Berufsschule zu lernen. Sie dabei zu unterstützen, ist Volker Pillstickers Job. Annegret Gable hat sich als Steuerberaterin auf das komplizierte Antragswesen beim Jobcenter und anderen Behörden spezialisiert. «Die Betroffenen steigen da meist nicht mehr durch», hat sie festgestellt. Einer Freundin von Hager, bei der sich die Briefe vom Amt stapelten, hat sie sich ebenfalls angenommen und alles abgearbeitet.

Fußläufig zur «Gabel» hat Hager eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung. Dass es diesen Rückzugsort für sie gibt, verdankt sie ebenfalls ihren Pateneltern. «Auf dem freien Wohnungsmarkt etwas für sie zu finden, war chancenlos. Deswegen haben wir die Wohnung gekauft», sagt Annegret Gable knapp. Gemeinsam haben die Drei schon viele Reisen unternommen, waren in Leipzig und in Hamburg, um das Musical «König der Löwen» anzusehen – ein Highlight für Hager.

Die junge Frau ist spürbar selbstbewusster geworden seit unseren letzten Treffen, sie hat ihren eigenen Kopf und scheut sich nicht, liebevoll kabbelnd mit ihren Pateneltern, ihre Sicht der Dinge darzustellen – inzwischen in recht flüssigem Deutsch. Lauthals protestiert sie, als Annegret Gable das nächste gemeinsame Ziel benennt: Richtig Fahrradfahren lernen. Lachend wirft Hager ein, dass sie vor diesem zweirädrigen Gefährt, das sie aus Eritrea nicht kennt, viel zu viel Respekt habe.

Beziehung zur ganzen Familie

So häufig wie Hager und ihre Pateneltern sehen sich Sayed und die Lürwers zwar nicht mehr. Aber sie kommunizieren regelmäßig via WhatsApp – kürzlich, erzählt Martina Lürwer, hat Sayed seinen just erworbenen Führerschein gepostet. Er musste, wie Hager, mit 18 Jahren die Wohngruppe des Antoniusheims verlassen, aber in seinem Leben gab es dann eine beglückende Wendung: Nach seinen drei großen Geschwistern, die schon länger in Deutschland leben, gelangten 2018 auch seine Eltern und seine jüngere Schwester nach Wiesbaden. Zuletzt hatten sie in einem der großen griechischen Flüchtlingscamps ausharren müssen. Dass die Familienzusammenführung geklappt hat, dazu haben Martin und Martina Lürwers durch beharrliches Nachhaken bei den Asylbehörden ihren Teil beigetragen.

So fügte es sich fast von selbst, dass sie ihre Patenschaft auf Sayeds Familie ausweiteten. Als Sayed mit Eltern und Schwester in eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge zog, halfen die Lürwers dabei, den beengten Raum mit dem Notwendigsten auszurüsten, und sie gaben den neu Zugereisten Deutschunterricht. Seit Mai 2018 leben Sayed und seine Familie nun zu ihrem großen Glück in einer eigenen Wohnung.

«Wenn man ein Ziel hat, dann erreicht man es»

«Je mehr sie sich als Familie hier angekommen sind, desto mehr haben sie für sich Wege gefunden», sagt Martin Lürwer. Gefragt seien er und seine Frau heute nur noch punktuell – etwa bei behördlichen Anträgen oder kürzlich, als es um Sayeds kleine Schwester ging: Sie war in ihrer Intensivklasse an einer Wiesbadener Gesamtschule sichtlich unterfordert. Martin Lürwer, selbst Realschullehrer, sorgte dafür, dass sie auf ein Gymnasium wechseln konnte, was ihren Ambitionen und ihrem Talent besser entspricht.

Ihr Bruder steht ihr darin in nichts nach: «Wenn man ein Ziel hat, dann erreicht man es», ist Sayed überzeugt. Zunächst möchte er seine Ausbildung gut zu Ende bringen. Sein größter Wunsch wäre, danach bei der Polizeiakademie angenommen zu werden. Wenn das nicht auf Anhieb klappt, will er das Fachabitur nachholen. Auch ein Studium der Ingenieurwissenschaften kann er sich dann vorstellen – wenn er denn einen sicheren Aufenthaltstitel erhält.

Ohne Trost keine Hoffnung

Sehr bewusst ist Sayed sich, dass es nicht allen so gut geht wie ihm. Er erzählt von Freunden aus seiner ehemaligen Wohngruppe, die mit 18 Jahren in die Flüchtlingsunterkunft wechseln mussten und dort, ohne Patenkontakt und familiäre Hilfe, den Halt verloren hätten. «Das ist katastrophal», sagt er. «Jetzt kiffen sie und trinken, weil sie nicht wissen, was sie machen sollen.» Natürlich käme es auch auf jeden Einzelnen und seine Bereitschaft an. «Aber es gibt viele Menschen», sagt Sayed, «die geben sich sehr viel Mühe, und es klappt trotzdem nicht.» Geld sei nicht alles, gerade in der Fremde. «Viele verlieren die Hoffnung. Sie brauchen jemanden, der sie tröstet.»

Er ist dankbar, in den Lürwers gute, verlässliche Freunde gefunden zu haben. „Darüber bin ich sehr froh.“ Offenbar beruht das auf Gegenseitigkeit: «Das ist eine Familie, die viel zurückgibt», sagt Martin Lürwer über Sayed und seine Angehörigen. «Sie sind eine enorme Bereicherung für uns.»

«Sie machen mich glücklich», sagt auch Hager über ihre Pateneltern, für die sie so etwas wie eine Tochter geworden ist. Nicht alle Patenschaften verlaufen so glatt; etwa jede fünfte scheitert vorzeitig und nicht alle haben über das offizielle Jahr hinaus Bestand. Aber die, bei denen das gelingt, bleibt etwas auf Dauer, was für beide Seiten kostbar ist. «Dieses Band ist unabhängig von Religion und Kultur – das ist menschlich», bringt es Martina Lürwer auf den Punkt.

Paten gesucht!

Für unbegleitete minderjährige Geflüchtete ist ihr 18. Geburtstag kein Freudentag: Die engmaschige Betreuung im Rahmen der Jugendhilfe fällt dann weg, erzieherische Hilfen gibt es in der Regel nicht mehr – jedenfalls in Wiesbaden. Um den problematischen Bruch abzumildern und die jungen Menschen auf ihrem schwierigen Weg in die Selbstständigkeit zu begleiten, hat der Jugendhilfeverbund Antoniusheim das Projekt «Antoniuspaten» ins Leben gerufen. Über ein Jahr begleiten Freiwillige einen Jugendlichen und helfen, wo es not tut. Dabei erhalten sie selbst vielfältige Unterstützung.

Nach wie vor sucht das Projekt Paten – junge Leute wie ältere, Familien oder Singles. Es wird darauf geachtet, dass Erwartungen und Wünsche passen und die richtigen zueinanderkommen. Rund zwei Stunden pro Woche sollten für die Patenschaft eingeplant werden. Mehr Informationen, auch über die derzeit wegen der aktuellen Situation „virtuelle“ Vermittlung: patenprojekt@jugendhilfeverbund-antoniusheim.de