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Hier spielt die Musik: „Music City Wiesbaden“ – gesucht und gefunden!

Musikstadt_Aufmacher_ganzseitig

 

Von Alexander Pfeiffer. Fotos Michael Zellmer.

Wer in Wiesbaden Livemusik machen oder hören will, hört schnell auch das Wort Anwohnerbeschwerden. Dabei teilen Akteure und Publikum auch hier eine ganz vielfältige Leidenschaft für das, was unser Leben in Schwingung versetzt. sensor begab sich auf die Suche nach „Music City Wiesbaden“ – und wurde fündig.

„My private Wiesbaden“, so hieß ein CD-Sampler, der 1997 bei Rewika Records erschien. Gegründet von Mitgliedern der Band Rekord, sollte das Label eine Plattform schaffen für Bands der Wiesbadener „Underground-Musik-Szene“. Der Text im Booklet bescheinigte damals den Stadtvätern das Kulturverständnis „einer vergreisten Dame“ und konstatierte: „Für eine junge Band ist es kaum zu schaffen, aus diesem provinziellen Morast heraus zu kommen.“ Markus Göres, einer der Köpfe von Rewika Records, schmunzelt: „An einige Bands kann ich mich gar nicht mehr erinnern.“ Er betreibt Rewika heute in Berlin als PR- und Marketingfirma. „Wiesbaden wurde mir zu klein. Aber man kann überall Wege auftun, von und mit Musik zu leben. Der Schlachthof macht das vor.“ Das Kulturzentrum, für das Göres bis heute die Veranstaltungsankündigungen schreibt,  hat in den letzten 20 Jahren daran gearbeitet, den „provinziellen Morast“ trocken zu legen und zu bepflanzen: „Um die 150 Konzerte gibt es hier im Jahr, plus circa 20 Auswärtsspiele, im Walhalla, in der Ringkirche oder der Offenbacher Stadthalle“, erzählt Dennis Peters, der im Bereich Booking arbeitet. Die Förderung der örtlichen Szene ist ihm und den Kollegen ein Anliegen: „So 40 bis 50 lokale Bands laden wir im Jahr ein.“ 2015, wenn der neue Clubraum im Kesselhaus des alten Wasserturms fertig ist, soll es auch wieder ein „Probehausfestival“ mit Bands geben, die in einem der 18 Proberäume im neuen Schlachthofgebäude eine Heimat gefunden haben – darunter Namen wie The Blind Circus (siehe auch „So wohnt Wiesbaden“ in dieser Ausgabe), Scarscab oder Scut.

Bedingung, um einen Proberaum im Keller der Kreativfabrik gegenüber vom Schlachthof  zu kriegen, ist es, jung und aus der Region zu sein. Und im Programm finden sich mit der monatlichen „Open Stage“, bei der lokale Musiker zusammen jammen, sowie der Reihe „Heimatmelodien“ Spotlights auf die heimische Szene. Die Zuschauerzahlen schwanken: „Wir würden uns wünschen, dass mehr kulturinteressierte Wiesbadener vorbeischauen, um zu sehen, was ihre Stadt musikalisch zu bieten hat“, sagt Andi Schidlowski von der „Krea“. Einer, für den Kreativfabrik, Schlachthof und Kulturpalast frühe Biotope waren, ist Piotr Potega. Der 23-jährige Wiesbadener, Student an der Popakademie Mannheim, gehört mit dem Folk-Pop-Duo In Hope zu den lokalen Bands der Stunde, das zweite Album „Time Machines“ steht in den Startlöchern. „Wenn man als Band wahrgenommen werden möchte, muss man aktuell wahrscheinlich nach Berlin oder Hamburg gehen“, sagt er. „Es wäre aber schade, wenn alle aus Wiesbaden weggehen.“ Unter dem Label Awesome Bros. hat er früher versucht, hier eine Party- und Konzertreihe in zu etablieren. „Das hat sich aber finanziell nicht getragen.“ Überhaupt glaubt er, dass es immer schwieriger werde, mit Musik Geld zu verdienen. „Durch die illegalen Angebote im Internet gibt es ganz viele Käufer nicht mehr.“ Vorstellen kann er sich, nach dem Studium in einer Booking-Agentur oder einem Musikverlag zu arbeiten: „Irgendein Job, wo man den ganzen Tag mit Musik zu tun hat und weiter seine eigene Musik machen kann. Ich glaube, die meisten Musiker sind gar nicht in der Lage, keine Musik zu machen.“  Aktuell firmiert Awesome Bros. als sein eigenes kleines feines „Label – Management – Booking – Publishing“-Unternehmen.

Aktiv gegen die Langeweile

Wer sich unter den von Awesome Bros. vertretenen Bands umschaut, stößt seit neuestem auch auf Johann. Der junge Mann, der sich auf seinem Künstlerfoto mit wehender Tolle einen Wind um die Ohren blasen lässt, der direkt aus den Untiefen des Business kommen könnte, heißt eigentlich Martin Mengden und muss als Jurist „mit der Musik kein Geld verdienen“. Als Kopf der Band Rokoko und Solo-Künstler hat er sich eine Fangemeinde erspielt. „Musik machen kann man von überall aus“, sagt er. Sein Tipp für Livemusik ist das Wakker am Wallufer Platz. „Es herrscht eine sehr schöne, intime Stimmung dort.“ Daniel Riedl, der einst als Kopf der Band Rekord neben den Freunden von Readymade zu den Aushängeschildern der Wiesbadener Musikszene gehörte, erzählt: „Wir haben festgestellt, dass gerade im Singer/Songwriter-Bereich nach so kleinen Läden wie dem Wakker gesucht wird.“ Der einstige Rekord-Frontmann gehört zu den Betreibern des Cafés, das mit seinen exklusiven Konzerten in aller Munde ist. In Wiesbaden, findet er, muss man selbst etwas tun, „damit es einem nicht langweilig wird. Mit wenigen Ausnahmen machen gefühlt nie neue Clubs oder Kneipen auf. Als wir eröffnet haben, dachte ich: Da müssen wir Ü-40-Spackos für ’nen neuen Ort sorgen?“

Auch Ulf Glasenhardt kratzt an der 40er-Marke. Seit 12 Jahren gehört er zum Team des „Kulturpalast“ in der Saalgasse. „Manchmal frage ich mich: Wie lange kann man so was machen?“, gibt er zu. „Ich organisiere Partys für Leute, die zwanzig Jahre jünger sind als ich.“ Durchschnittlich drei Konzerte sind es pro Monat, „von afrikanischer Trommelmusik bis Deutschpunk. Wir machen, was uns gefällt.“ Die Förderung lokaler Künstler ist sogar als Vereinszweck in der Satzung von Kultur im Palast e.V. festgeschrieben. „Wir gucken, dass wir zumindest den Support aus Wiesbaden und Umgebung bekommen“, erklärt Glasenhardt. Dabei lohnen sich Konzerte zumindest finanziell nicht. „Der Aufwand ist viel höher als bei einem DJ: Aufbau, Catering, Soundcheck… Mit dem kleinen Veranstaltungsraum verdienen wir da praktisch nichts. Wir brauchen Partys, um den Konzertbetrieb zu finanzieren.“

Urgestein der lokalen Szene

Nicht weit vom Kulturpalast, in der Bärenstraße findet sich ein unerwarteter Ort für Livemusik: Im Pupasch, wo sonst die Partymeute Kalorien aus Hopfen und Malz verbrennt, bringt seit einem Jahr die Wiesbadener Combo Electric Ju-Ju jeden zweiten Mittwoch Blues, Soul und Rock’n’Roll auf die Bühne. „Für uns ist das eine Möglichkeit, regelmäßig zu spielen“, sagt Martin Bauerfeind alias Pofter. Das Quartett bietet Nummern von Buddy Guy oder den Fabulous Thunderbirds dar. „Wenn die Leute draußen die Musik hören, kommen sie auch schon mal rein“, erzählt Martin Börner, der hinterm Tresen steht. Der Eintritt ist frei, die Idee für den Konzert-Mittwoch hatten die Macher, „weil in Wiesbaden nicht viel ist in Sachen Livemusik“. Electric Ju-Ju teilen sich den Termin bislang mit der Mainzer Combo Jacob. Finanziell trägt sich das Konzept, neben der Gage lässt die Band den Hut rum gehen: „Ein guter Abend bringt ’nen extra Hunni.“ Martin Bauerfeind wird trotzdem wehmütig, wenn er an früher denkt: „Optimal war das 2 Monkeys and a Dog in der Wartburg – weil der Betreiber Porky Kronier alles für die Musiker gemacht hat.“

Wenn Porky Kronier selbst vom 2 Monkeys and a Dog erzählt, klingt das weniger euphorisch. Es ist eine wüste Geschichte, in der türkische Kickboxer, Beamte des BKA und der einstige OB Achim Exner vorkommen. Ihr unrühmliches Ende fand sie 1998, da musste das lokale Urgestein als Gastronom die Segel streichen. Angefangen hat der heute 55-Jährige als Roadie der Hardrockkapelle Mallet. „Auf Tour habe ich immer im Bus geträllert. Irgendwann haben sie mich zum Sänger gemacht.“ Die erfolgreichste Zeit hatte er Anfang der 90er mit den Nize Boyz: zwei Alben beim Major Label, Konzerte, Vorband für Rod Stewart im Hamburger Volksparkstadion – der gelebte Rock’n’Roll-Traum. Später zog es ihn in die USA. „Aber ich habe gemerkt, ich bin ein Smalltown Boy.“ Heute tritt Kronier meist solo auf, mit Songs von Springsteen bis Sinatra. Dabei sitzt er auf einem Barhocker, denn er leidet am Fibromyalgie-Syndrom, das sich durch chronische Schmerzen äußert. „Musik ist mein Heiler“, sagt er. Gefragt nach seinem Lieblingsladen für Livemusik in der Stadt, meint er: „Den gibt’s nicht mehr. Im Zuge der Bistroisierung wurden alle Läden klein gemacht. Da kriegst du keine Band mehr rein.“

Jazz mit langer Tradition

In Sachen Jazz verfügt Wiesbaden mit der 1979 gegründeten Kooperative New Jazz über einen langlebigen freien Kulturträger. Erwachsen aus einer Initiative von Musikern, die wie Porky Kronier bereits im ehemaligen Neroberghotel Proberäume nutzten, betrieb der Verein von 1983 bis 1987 den Jazzclub ARTist in der Friedrichstraße. Dort herauskomplimentiert, stieß man mit dem Label „ARTist im Exil“ Veranstaltungsreihen an, die teils bis heute bestehen, etwa den „HumaNoise Congress“. Die „Tage improvisierter Musik“ finden vom 26. bis 28. September in der 26. Auflage statt. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte Eberhard Emmel, den es später in eine andere Richtung zog: Mit weiteren Musikern gründete der Saxofonist die Initiative „World Music Wiesbaden“. Seine Urban Nomads spielen hier und da, mal in einer Galerie, mal bei Kulturtagen, aber: „Leider gibt es für die Mixtur aus World Music, Jazz und Folk mit exotischem Instrumentarium selten Konzertmöglichkeiten.“

Weniger exotisch ist das Instrumentarium von Front: Stromgitarren, Bass und Schlagzeug, dazu der Gesang von Falk Fatal. „Front machen Punk“, lässt die Band verlauten. Gibt’s das heute noch? „Klar“, sagt Fatal. „Die Szene ist lebendiger als vor zehn Jahren.“ Sein eigenes Label Matula Records hat er auf Eis gelegt, die Zeit fehlt, aber für die Band geht es weiter. „Wenn man mal einen Proberaum gefunden hat, bietet sich hier eine gute Infrastruktur.“ Jungen Bands rät der 35-Jährige: „Du musst rausgehen, dir den Arsch abspielen.“ Und wie steht’s mit dem Verhältnis zur eigenen Stadt? „Als Musiker jammert man hier auf hohem Niveau“, stellt er fest: „Es gibt viele Läden, wo man spielen kann – die Veranstalter freuen sich über lokale Bands, die ihr  eigenes Publikum mitbringen, ob Schlachthof, Kulturpalast, Kreativfabrik oder Sabot.“

Eine Frage der Vision

Letzteres nennt sich „Kulturkneipe“ und bietet seit drei Jahren denen eine Heimat, die sich andernorts von Preisen, Interieur und Publikum abgestoßen fühlen. Was Livemusik angeht, bekommt man im Gewölbekeller des Sabot in der Zimmermannstraße größtenteils Punk, Hardcore oder Rockabilly um die Ohren. Generell ist man hier aber für fast alles offen, auch Open Mics mit Hip Hop oder Elektroveranstaltungen gab es schon. „Wir wollen Subkultur fördern, Konzerte ermöglichen, wo Mensch für schmales Geld kommen kann, und Bands eine Bühne bieten, die nicht bei großen Booking-Agenturen sind“, sagt Raidy, der fürs Programm zuständig ist. Auch Martin Schmidt hat schon im Sabot gastiert – mit seinem Surfpunk-Trio The Razorblades, das in den letzten elf Jahren etwa 500 Konzerte in Europa und den USA abgerissen hat. Über ein Drittel jeden Jahres ist er „on the road“. Ob man als Musiker Erfolg hat, hängt für ihn nicht von der Stadt ab, „sondern von der musikalischen Vision und der Bereitschaft, der Musik sein Leben zu widmen“. Also ist Wiesbaden kein schlechteres Pflaster als Berlin? „Das ‚nach Berlin gehen‘ ist ja immer so ein verzweifelter Schritt, wenn es zuhause nicht hinhaut. Aber ich kenne nicht viele Musiker, bei denen der Umzug viel bewirkt hat.“

Zu denen, für die es auch zuhause hinhaut, gehört Katja Aujesky. Durch ihre Auftritte in der Casting Show „The Voice of Germany“ vielen als Nenas Darling ins Bewusstsein getreten, schwang die Wiesbadenerin bereits das Mikro in der Beat-Combo 200 Sachen und führt seit 2006 ihre eigene Band Katjas Bazar an. Passend zum intimen Charakter ihrer Songs bevorzugt sie kleine Locations mit speziellem Charme, wie etwa den Heimathafen in der Karlstraße oder den Spiegelsaal im Walhalla. Was wünscht sie sich noch von ihrer Stadt? „Sobald es irgendwo mal etwas lebendiger wird, fühlt sich irgendwer gestört. Ich wünsche mir mehr Lebenslust!“ Wie um dem Nachdruck zu verleihen, findet der Titelsong ihres neuen Albums „Du bist Musik“ ganz einfache Worte für das, was unser Leben in Schwingung versetzt: „Sie ist da / auch wenn es still ist / Brauchst nichts zu tun / damit es sie gibt / Denn du bist Musik.“

Wiesbadener Bands

Absinto Orkestra – Canyoucancan – Cellar Door – Chris & Taylor – Daniel Stelter – Das Neue Schwarz – Electric Ju-Ju – Fooks Nihil – Fragile Views – Hotel Bossa Nova – Interstellar Overdrive – Fewsel – Front –  In Hope – Interstellar Overdrive – Johann – Julia Nelson & the Krautboys – Kajtas Bazar – Kenneth Minor – Mallet – Mäx Nink – Miumi – Mono Girl – My Friend The Immigrant – Radare – Rami Hattab – Razorblades – Shelby – Skuff – Tempest Man – The Bordells – The Blind Circus – Treske – Tuscon Arizona Kings – X-Wix-Band – Zaitsa (ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Ergänzungen? -> Mail mit Betreff „Hier spielt die Musik“ an hallo@sensor-wiesbaden.de )

Livemusik-Locations in Wiesbaden

Café Klatsch – Chopan – Das Lokal – GMZ Wellritzstraße / Georg-Buch-Haus (Rock für Wiesbaden) – Harrison´s Pub am Sedanplatz – Heimathafen – Infoladen Linker Projekte – Irish Pub – Kulturclub Biebrich – Kreativfabrik – Kulturforum – Kulturpalast – Reduit Kastel – Reizbar – Rudersport 1888 – Sabot – Schlachthof – Session – Sherry & Port – Tanzbrunnen – Toms Bierbrunnen – Wakker – Walhalla – Yesterday Musicpub Biebrich – diverse Feste und Festivals (ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Ergänzungen? -> Mail mit Betreff „Hier spielt die Musik“ an hallo@sensor-wiesbaden.de )

2 responses to “Hier spielt die Musik: „Music City Wiesbaden“ – gesucht und gefunden!

  1. Rock’n roll forever, OK! Aber es gibt mehr Musik in Wiesbaden, zB das international wahrgenommene JUST MUSIC BEYOND JAZZ FESTIVAL WIESBADEN, dessen bereits 10.(!) Ausgabe am 20./21.02.2015 vor der Tür steht… oder eine hochkarätig besetzte Jazzreihe im Rudersport… beides Foren wo sowohl internationale Bands auflaufen als auch local heroes ihren Heimspielvorteil nutzen können. Herzlichen Gruß, der JazzArchitekt

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