„Imagine Wiesbaden: Zukunft der Stadt“ – unter diesem Titel hielten und diskutierten am 1. September in der Agora der Wiesbaden Biennale am Warmen Damm (Foto Dominik Hofmann) fünfzehn Wiesbadenerinnen und Wiesbadener Voträge zu ihrem Bild und ihrer Vision von der Stadt Wiesbaden. Hier der Vortrag von sensor Wiesbaden-Chefredakteur Dirk Fellinghauer im Wortlaut. Weitere Beiträge veröffentlichen wir – nach Einsendung an hallo@sensor-wiesbaden.de – in loser Folge.
„Vorneweg vielen Dank für die Einladung und
ein begeisterter Glückwunsch an die Wiesbaden Biennale und ihre Macherinnen und Macher, allen voran das sensationelle Kuratorenduo Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer, die all das möglich gemacht haben, und an den Intendanten Uwe Eric Laufenberg, der all das „erlaubt“ hat.
Imagine Wiesbaden …
Ein Traum wäre es, die Biennale kurzerhand zum Dauerzustand zu erklären.
Dies ist schwer möglich, dann wäre es ja keine Biennale mehr, sondern eine Permanentale.
Aber: Die Biennale kann als Blaupause dienen für das Leben in dieser Stadt, für „Imagine Wiesbaden“ …
Wir sollten MEHR BIENNALE WAGEN!
Warum?
Ich war lange nicht mehr so glücklich in dieser Stadt und mit dieser Stadt wie in diesen zehn Tagen und Nächten.
Die Wiesbaden Biennale kommt dem Ideal einer Stadt, in der ich leben möchte, dem Ideal einer Stadt Wiesbaden, in der ich leben möchte, sehr nahe:
Biennale-Wiesbaden ist
offen, unvoreingenommen, neugierig, tolerant, unverkrampft, hungrig,
ist frei, engagiert, kommunikativ, integrativ, intensiv,
ist überraschend, mutig, provozierend – im besten Sinne – und inspirierend.
Biennale-Wiesbaden ist
eine Stadt der offenen, auch unbequemen, Fragen und nicht der fertigen Antworten, eine Stadt der Möglichkeiten und nicht der Unmöglichkeiten, eine Stadt des Miteinanders und nicht des Gegeneinanders,
eine Stadt mit Spirit!
eine Stadt, die lebt!
Die gute Nachricht: Es gibt dieses Wiesbaden schon …
Wie gesagt, die Biennale ist kein Dauerzustand, leider, aber: Die gute Nachricht – es gibt diese gerade beschriebene Stadt Wiesbaden schon, auch außerhalb der Biennale.
Zaghaft zwar, oft schwer wahrnehmbar oder gar unsichtbar, aber: Es gibt sie!
Sie zu finden, ist nicht immer einfach, aber auch ganz und gar nicht unmöglich.
Die Stadt, die ich meine und mag, zeigt sich in Personen und Persönlichkeiten, denen diese Stadt nicht egal ist, die sich einbringen und brennen für mehrere oder auch ein einziges Anliegen. Wie viele das sind, zeigt sich allein daran, dass ich mich gefreut habe, wer heute alles hier auf der Rednerliste steht, dass mir aber auch ganz ganz viele Namen eingefallen sind von Menschen und Machern dieser Stadt, die heute hier fehlen und eigentlich auch hergehören würden.
Es sind Menschen, die sich mit ihren guten Ideen für ein lebendigeres, zeitgemäßes, cooles und frisches Wiesbaden nicht abwimmeln lassen. Es sind die „anderen“ Stimmen dieser Stadt, die vermehrt gehört und auch ernst genommen werden. Sie ersetzen keineswegs die bisher „wichtigen“ Wiesbadener, sie leisten ihnen aber verstärkt und stark Gesellschaft, und das tut Wiesbaden gut.
Die Stadt, die ich meine und mag, ist erkennbar an Ideen und Initiativen, die seit einiger Zeit nur so heraus sprießen, das ich kaum nachkomme, den Überblick zu behalten – ich meine Engagement rund um Themen wie Nachhaltigkeit, Mobilität, Zusammenleben, Soziales, Integration, Kultur oder einfach nur ein urbanes Lebensgefühl.
Sie präsentiert sich bei jeder Menge Festivals, allen voran Exground und goEast oder Ende September erstmals dem Reflecta Rethink Your World-Festival,
Sie ist zu finden in außergewöhnlichen Orten, an denen außergewöhnliche Menschen Außergewöhnliches möglich machen, wie dem Walhalla Theater, dem für mich weltstädtischsten Ort unserer Stadt, natürlich auch im Schlachthof, in der Kreativfabrik, im Kulturpalast oder im Kontext,
Sie zeigt sich in einer pulsierenden Kreativ- und Gründerszene, die im heimathafen ihren Dreh- und Angelpunkt hat, aber auch eine neue Anlaufstelle im Startwerk A hat, die rührig und tätig ist in unzähligen etablierten Agenturen und aufkeimenden aufregenden Hinterhof-Startups und Bürogemeinschaften.
Die Stadt Wiesbaden, die mir gefällt, zeigt sich in Vierteln wie dem Westend oder dem Rheingauviertel oder Bergkirchenviertel, auf Plätzen wie dem Luxemburgplatz, in Straßen wie der Wellritzstraße, die – nein – eben nicht gefährlich ist, sondern die Straße des prallen Lebens und eines kunterbunten Wiesbaden ist,
oder bei Veranstaltungen wie jetzt wieder dem Cirque Bouffon, der zwar leider nicht mehr, wie beim allerersten Mal mit besonderer Wirkung, mitten in unserer Stadt gastieren darf, aber nun auch „draußen“ in Kastel an der Reduit seinen Zauber entfaltet,
Die Stadt Wiesbaden nach meinem Geschmack finde ich durchaus auch in gastronomischen Orten mit Charakter und Wert und Wirkung weit über den Tresen hinaus – wegen der Menschen, die dort hinkommen und zusammenkommen, wegen kommunikativem oder auch kulturellem Mehrwert – dem Klatsch natürlich, dem Heaven etwa, überhaupt dem Sedanplatz, der jetzt auch noch einen „Westend Garden“ hat, dem Wakker am Wallufer Platz, dem Chopan, dem Canal du Midi, der Wingert Vinothek in der Oberen Webergasse …
Es ist einiges da – und doch fehlt was
Es ist also einiges da in unserer Stadt, weit mehr sogar als ich überhaupt je wahrnehmen könnte – und doch fehlt mir was.
Ich war in den letzten zwei, drei Jahren in unterschiedlichen europäischen Städten unterwegs, die mich begeistert haben. Ich bin jedes Mal zurückgekommen mit einer Mischung aus Motivation – jawoll, auch Wiesbaden hat das Zeug dazu, so cool zu werden – und Depression – ach nee, in Wiesbaden geht ja so vieles einfach nicht, was anderswo ganz selbstverständlich ist.
Mir fehlt das Gefühl, das insgesamt was geht in dieser Stadt – es sind ganz viele Mosaiksteine, die mir gefallen, aber das Gesamtbild macht mich immer noch nicht wirklich an.
Mir fehlt echte Sub- und Gegenkultur und manchmal auch Niveau – vieles im kulturellen Bereich ist mir auf Dauer dann doch zu brav, zu gefällig, zu mainstreamig.
Mir fehlt echtes Herzblut – mir scheint, dass vieles angestoßen und angeschoben wird, aber leider oft so halbherzig, dass es schon wieder versandet, bevor es richtig Fahrt aufnehmen konnte.
Mir fehlt Wahrnehmung und Wertschätzung – oder überhaupt nur wenigstens mal Interesse – für die vielen, die sich bis an die Grenzen und auch darüber hinaus den Arsch aufreißen. Das viele, was passiert in Wiesbaden, ist kein Geheimnis – ein wenig Augen und Ohren aufhalten kann allerdings nicht schaden.
Man muss nicht alles gut finden, was angeboten wird. Man muss auch nicht alles verstehen. Aber wenigstens mal unvoreingenommen eine Chance geben, das sollte doch drin sein.
Mir fehlt Folklore – Eine Stadt, die mit größtem Aufwand Fahnenmasten auf der Wilhelmstraße erneuern lässt – und dabei darauf achtet, dass die Farbe denen der Blumenkübel und der Poller gleicht – Zitat Wiesbadener Kurier vom 1.8. „DB 703 heißt die Farbe, Anthrazit mit Eisenglimmer“ -, die aber keine 120.000 Euro für ein Festival dieser kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Dimension locker machen kann, mit einer solchen Stadt stimmt einfach was nicht.
Mir fehlt eine offene – und in vielen Fragen ergebnisoffene – Diskussionskultur. Gute Lösungen schüttelt man nicht aus dem Ärmel, sondern erarbeitet sie. Der Austausch von Ideen, und zwar auf Augenhöhe, sollte dazu das Standardwerkzeug sein.
Mir fehlen die Impulse von außen – Blicke nach außen und von außen hüten eine Stadt davor, im eigenen Saft zu schmoren. Viele Probleme und Herausforderungen, über die wir uns den Kopf zerbrechen, sind anderswo längst gelöst. Blicke über den eigenen Kosmos hinaus können sich lohnen. Das gilt übrigens auch für Wiesbaden selbst. Man trifft an immer gleichen Orten die immer gleichen Menschen – geht doch mal raus aus eurem Viertel, aus eurem Kiez, aus eurer Welt.
Imagine Wiesbaden – das Wiesbaden, das ich mir vorstelle, ist keine Stadt des Entweder oder, sondern des Sowohl als auch – eine gute Idee muss die andere nicht ausschließen, das gilt übrigens auch für das Alte Gericht,
Die Stadt Wiesbaden, die ich mir vorstelle, ist eine Stadt, in der Menschen – so wie gestern im grandiosen Stück „Gala“ im Kleinen Haus des Staatstheaters, junge, alte, hübsche, weniger hübsche, brave, freakige, athletische, schwabbelbäuchige, Bikini oder Kopftuch tragende und Rollstuhl fahrende Menschen – sich
begegnen, bereichern, befruchten und beflügeln.
Ich kann Wiesbaden nur empfehlen: Nimm´ den Stock aus dem Arsch, trau´ dich was, sei selbstbewusst, aber nicht selbstgefällig. Mach dich einfach mal locker. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Und ich bin mir ziemlich sicher: es wird dir gefallen.
Imagine Wiesbaden –
You may say I´m a dreamer,
But I´m not the only one,
I hope someday you´ll join us
And Wiesbaden will live as one!.“
Rednerinnen und Redner, die ihre „Imagine Wiesbaden“-Beiträge hier zum Nachlesen und Weiterdiskutieren veröffentlichen möchten, schicken diese bitte an hallo@sensor-wiesbaden.de