Der Volksmund tut vieles kund, doch nicht immer ist es klug, was der Volksmund kundtut. Oft ist es sogar hanebüchener Quatsch. „Narrenhände beschmieren Tisch und Wände”, ist so ein Satz, der jedem halbwegs intelligenten Menschen die Haare zu Berge stehen lassen sollte. Denn mit Narreteien hat dieser Drang zur Verewigung nichts zu tun, – außer natürlich der Mensch selbst ist ein Narr, was angesichts der Wahlerfolge der AfD durchaus im Bereich des Möglichen liegt.
Diese „Narretei“ ist fast so alt wie der Mensch selbst. Seit Jahrtausenden haben wir den Drang, Wände zu bemalen. Schon die Steinzeitmenschen griffen zu abgekauten Zweigen, die sie vorher ins Eisenoxidpigment getunkt hatten, und kritzelten damit Mammuts und Menschen an die Höhlenwand. Wenn kein Zweig zur Hand war, tat es auch selbige und wurde zum Malwerkzeug. In Kindertagesstätten und Grundschulen wird diese Maltechnik bis heute mit großer Freude angewandt.
Die älteste gefundene Zeichnung stammt aus dem Jungpaläolithikum und soll vor rund 43.900 Jahren entstanden sein. Die Zeichnung wurde in einer Höhle im heutigen Indonesien entdeckt und zeigt Tiere und Therianthropen, wie man Tier-Mensch-Mischwesen in der Fachsprache nennt; der Werwolf ist seit Jahrtausenden ein treuer Begleiter.
Doch das war nur der Beginn einer Kulturtechnik, die sich bis heute erhalten hat – vor allem in öffentlichen Toiletten und Kneipen-WCs. Jeder Mensch kann sich hier seinen inneren Beuys hingeben und ein Künstler sein. Es braucht nur den abgekauten Zweig der Moderne: einen schwarzen Edding-Permanent-Marker, um an der Toilettenwand der Nachwelt Gedanken, Gefühle und kleine Zeichnungen zu verewigen.
Es gibt Kneipenklos, die sind Museen, weil ihre Wände Geschichten erzählen: „Nein zur Startbahn West!“, „Sonne statt Reagan“ oder „Ohne Perron leben ist wie Liebe ohne Sex“ kann man noch heute dort lesen. Dann gibt es Toiletten, die sind Kunstateliers mit sich wöchentlich ändernden Ausstellungen und frischen Zeichnungen und Karikaturen an den Wänden. Jedes Mal, wenn man diese Örtlichkeiten betritt, ist man aufs Neue erstaunt, zu welchen künstlerischen Leistungen Menschen fähig sind, während sie große und kleine Geschäfte verrichten.
Es spielt übrigens keine Rolle, wo sich die öffentliche Toilette befindet, ob in einer Frankfurter U-Bahn-Station, in der Universität oder in der Kneipe: Der Drang, sich zu verewigen, wird immer ausgelebt, nur der Inhalt kann unterschiedlich sein.
Im Juni eröffnet das Museum Reinhard Ernst seine Pforten. Ich bin gespannt auf die zeitgenössische Kunst, die dort präsentiert werden wird – sowohl in den Ausstellungsräumen und vielleicht auch auf den Toilettenwänden.
Mehr Falk Fatal: “Saure Äppler im Nizza des Nordens – 100 sensor-Kolumnen”, Edition subkultur, ISBN: 978-3-948949-24-2