„Kurz und bündig“ wollte es Sven Gerich heute Vormittag mit seiner Erklärung zum Verzicht auf seine erneute OB-Kandidatur machen, und hatte dann doch einiges zu erzählen. Kaum mehr als fünf, sechs Minuten dauerten nach einer YouTube-Schnellrecherche Rücktritte bedeutender Politiker und Persönlichkeiten. Der Wiesbadener Oberbürgermeister hatte etwas mehr zu erzählen, er nahm sich gut eine Viertelstunde Zeit. Die Begründung seines Rückzugs verband er mit einer ausführlichen „Leistungsbilanz“ seiner bisher fünfeinhalbjährigen Amtszeit, die er noch zu Ende führen will. Die Erklärung heute im Rathaus in voller Länge zum Nachschauen gibt es hier, die komplette Erklärung zum Nachlesen hier:
„Sehr geehrte Damen und Herren,
um es kurz und bündig zu machen:
Ich habe heute Morgen den Vorstand der SPD Wiesbaden informiert, dass ich mich nach reiflicher Überlegung entschlossen habe, nicht erneut für das Amt des Oberbürgermeisters zu kandidieren.
Die vergangenen fünfeinhalb Jahre waren eine erfolgreiche Zeit. Neben vielen Erfolgen habe ich jedoch auch Fehler gemacht, Fehler die ich persönlich zu verantworten habe. Um es klar zu betonen: Egal was behauptet, geschrieben und fabuliert und zusammengereimt wird und wurde: Ich war zu keinen Zeitpunkt, weder vor, noch während meiner Amtszeit korrumpierbar oder bestechlich. Ich habe mir in diesem Punkt nichts vorzuwerfen.
Aber ich habe im Bereich meiner privaten Lebens- und Urlaubsgestaltung an mehreren Stellen die notwendige Sensibilität vermissen lassen. Ich habe dazu in mehreren Sitzungen des Revisionsausschusses Rede und Antwort gestanden und mich aktiv an der Aufarbeitung der Sachverhalte beteiligt. Genauso wie ich auch die Staatsanwaltschaft nach Kräften bei ihrer Arbeit unterstützen werde und volles Vertrauen in diese Institution habe.
Die Landeshauptstadt Wiesbaden erlebt dennoch seit einigen Monaten eine Kampagne, die man als das benennen muss, was sie ist: Eine bewusst von nur wenigen Personen betriebene Schlammschlacht. Eine Schmutzkampagne, die sich nicht nur gegen mich, sondern auch gegen andere Personen und Institutionen, auch gegen die CDU Wiesbaden, richtet. Und es ist nicht davon auszugehen, dass diese Schmutzkampagne in absehbarer Zeit enden wird. Im Gegenteil, wahrscheinlich würde sie noch intensiver.
Diese Schmutzkampagne hat inzwischen eine Ausmaß angenommen, welches ich niemanden mehr zumuten möchte: Mein direktes persönliches Umfeld, also mein Vater und mein Ehemann, haben zu Beginn dieser Woche anonyme Drohbriefe erhalten. Weitere Drohungen, wiederum in Teilen auch gegen mein direktes Umfeld gerichtet, wurden in offenen Briefen der Presse zugespielt.
Hiermit wurde für mich die Grenze des Zumutbaren überschritten.
Denn ich bin nicht bereit, das Wohl meiner Angehörigen in Mitleidenschaft oder gar aufs Spiel zu setzen. Zum Schutze meiner Familie, meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch von mir selbst, habe ich mich daher entschieden, nicht erneut für das Amt des Oberbürgermeisters zu kandieren. Mein Dank gilt hierbei allen Menschen, die mich in den letzten fünfeinhalb Jahren aber auch gerade in den letzten Wochen unterstützt und ja, auch ermuntert haben, mich dieser Kampagne nicht zu beugen.
Die SPD Wiesbaden wird heute Abend in geschlossener Sitzung zusammen kommen und über die neue Situation beraten. Die Mitglieder der SPD Wiesbaden habe ich zeitgleich zu dieser Pressekonferenz in einem Mitgliederbrief informiert.
Ich werde meine Amtszeit regulär zu Ende führen, werde als Oberbürgermeister meine Aufgaben mit unverändertem Einsatz erfüllen, alle repräsentativen Termine wahrnehmen und die Verwaltung führen. Meine Projekte werde ich bis zum letzten Arbeitstag vorantreiben.
Denn die vergangenen fünfeinhalb Jahre waren für die Landeshauptstadt Wiesbaden eine gute Zeit und eine erfolgreiche Zeit: Wir haben – und ich betone dieses „wir“ bewusst, denn es war immer auch ein Stück Gemeinschaftsarbeit – in diesem Zeitraum gemeinsam viele wichtige Entscheidungen getroffen, Projekte auf den Weg gebracht und wichtige Weichen für die Zukunft unserer Stadt gestellt.
Blickte man im Jahr 2013 noch auf Bauruinen und Brachen in der Moritzstraße und am Kureck, so können wir im kommenden März die Rückkehr der Hochschule Fresenius nach Wiesbaden feiern, 1.000 neue Studierende in unserer Stadt begrüßen und auch jeden Tag am Kureck neugierig durch den Bauzaun spähen.
Wurden 2013 noch unsere Busfahrer in unterschiedlichen Tarifen bezahlt; führte diese Billiglohnideologie damals zu massiven Busausfällen, so gilt heute wieder der Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit und wir haben statt drei Busunternehmen nur noch eines. Und unser Busunternehmen hat sich von einem Trauerspiel zu einem Mobilitätsdienstleister entwickelt. In diesem Zusammenhang weise ich auf den bundesweiten Pilotcharakter der Digitalisierung des Verkehres, den GreenCity-Masterplan und auf das Projekt emissionsfreier ÖPNV hin.
Unsere Stadt hat inzwischen ein lebendige und gelebte Kultur der Bürgerbeteiligung, die für viele andere Kommunen Vorbildcharakter hat und der es als größten Erfolg gelungen ist, das jahrelange politische Ringen um die Zukunft der Wilhelmstraße 1 zu beenden. Denn dank des Engagements vieler Bürgerinnen und Bürger und vor allem dank des Mäzenatentums des Ehepaars Ernst, dürfen wir uns an dieser Stelle auf den Neubau eines neuen Museums für Wiesbaden freuen.
Stolz bin ich auch, dass es gelungen ist, den Ersatzneubau für das doch arg in die Jahre gekommene Hallenbad in der Mainzer Straße auf den Weg zu bringen.
An der Frage, ob es uns gelingt in Wiesbaden genügend und vor allem genügend bezahlbaren Wohnraum bereit zu stellen, wird sich meines Ermessens die Zukunftsfähigkeit unserer Stadt entscheiden. Gerade deswegen bin ich froh, dass wir aller Vorrausicht nach noch in diesem Halbjahr das Strukturkonzept für einen neuen Stadtteil im Ostfeld beschließen werden und anschließend mit voller Kraft in die Detailplanung starten können.
Dazu kommen eine Vielzahl größerer und kleiner Vorhaben, beispielhaft sei hier nur der massive Ausbau der Kinderbetreuung sowohl für Krippen- als auch für Schulkinder genannt; ein in der Gesamtsumme einmaliges Investitionsprogramm für die städtischen Schulen, die Identifizierung von neuen Flächen für den Bau von bis zu 7.500 Wohnungen (das Ostfeld noch nicht mitgerechnet), einen Bürgerbeteiligungsprozess für den Bau von 650 bezahlbaren Wohnungen im Schelmengraben, den Beschluss für den Neubau der Feuerwache in Igstadt, die Verabschiedung des Beteiligungskodex, die Reduzierung der Zahl der Gesellschaften durch die Abschaffung von WiBus, ESWE Verkehr Service, Kurhaus und Rhein-Main-Hallen GmbH und die Etablierung des Beteiligungsausschusses als zentrales und öffentliches Gremium der Beteiligungssteuerung und damit verbunden der Zurückdrängung der Macht des Systems hinter verschlossenen Türen als „black-box“ tagender Aufsichtsräte.
Ich habe im Sommer 2013 meine Antrittsrede unter das Motto vom „Ich zum Wir“ gestellt, weil es gerade der gesellschaftliche Zusammenhalt ist, der unsere Stadt so lebenswert macht. Und ich glaube, man hat in den vergangenen fünfeinhalb Jahren gemerkt, dass ich dieses Motto beherzigt habe. Und dazu gehören dann nicht nur politische Projekte, sondern vor allem viel Zuhören, viele Gespräche mit den unterschiedlichsten Menschen, das kümmern und besuchen.
Eine Tour zu allen Ämtern, Schulen, zu Unternehmen und zu ganz vielen sozialen Einrichtungen; die Präsenz eben auch an den Orten unserer Stadt, wo nicht immer alles glatt läuft und wo unsere vordergründig glitzernde Landeshauptstadt auch Armut kennt.
Und eben auch Dank und Anerkennung, für alle die unser Gemeinwesen zusammenhalten. Sei es im Hauptamt oder auch – wie wir dies im letzten Jahr im Jahr des Engagements sehr eindrucksvoll im großen Umfang erleben konnten – im Ehrenamt.
Es war vom ersten Tag an stets mein Ansinnen, zum Wohle der Stadt Wiesbaden zu handeln. Mit dem heutigen Schritt, der mir nicht leichtfällt, hoffe ich in diesem Sinne weiteren Schaden von den Institutionen dieser Stadt abzuwenden, da ich meinen Gegnern keine weitere Angriffsfläche mehr biete. Ich möchte damit meinem Beitrag dazu leisten, dass endlich wieder über die Zukunftsfragen dieser Stadt diskutiert wird; dass im kommenden Wahlkampf um die besten Ideen, also um der Stadt Bestes, gerungen werden kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit“
Foto Maximilian Wegener