Max Blosche, Fotos Rolline Laporte, Andreas J. Ettes.
Wie ist unsere widersprüchliche Gegenwart auszuhalten? Unter dem Motto „re:shape“ haben Anna Wagner und Bruno Heynderickx zumTanzfestival Rhein-Main internationale Choreograf:innen eingeladen, „die sich auf unterschiedlichen Ebenen in diese spannungsgeladenen Zustände begeben und ausloten, welche Bewegungen zwischen unaufhaltsamer Veränderung und Stillstand, Ohnmacht und Zuversicht möglich sind.“ Die in Wiesbaden aufgewachsene Anna Wagner hat kürzlich in Doppelspitze mit Marcus Droß am Frankfurter Künstler:innenhaus Mousonturm die Leitung übernommen, Bruno Heynderickx ist Direktor des Hessischen Staatsballetts. Den Wiesbaden-Startschuss für das Festival liefert am 28. Oktober ein aufregender Doppelabend.
Ihr Motto setze unmittelbar an der menschlichen Gestalt (shape), am Körper an, sagen Wagner und Heynderickx : „Diesen zu formen, zu disziplinieren und zu normieren stand über Jahrhunderte im Zentrum des europäischen Bühnentanzes,“ so das Kuratoren-Duo: „Diese Normierungen und Disziplinierungen zu befragen und zu unterwandern wird eine zentrale Programmlinie der diesjährigen Festivalausgabe sein.“
Das Publikum ist eingeladen, Perspektiven zu weiten. Aerobics, Raqs, Eislaufen und der italienische Tarantismus— Choreograf:innen stellen populäre Bewegungsformen ins Zentrum ihrer Arbeit und lenken so den Blick auf die künstlerischen Potenziale von Praktiken, die bis heute aus dem Kanon des europäischen Bühnentanzes ausgeschlossen sind. Diese Tanzformen und viele andere können auch alle Interessierten beim Tanztag Rhein-Main am 5. November in einem der 130 Workshops ausprobiert werden.
Fallen und Loslassen
Wiesbaden gehört zu den Tanzfestival-Schauplätzen. Das Hessische Staatsballett zeigt im Doppelabend „V/ertigo“ im Großen Haus des Staatstheaters – Premiere am 28. Oktober um 19 .30 Uhr, es gibt noch Restkarten – Extremsituationen eines ungewissen Lebens. Zwischen dem Wunsch aufzusteigen und der Angst vor dem Fallen setzt der belgische Ausnahmechoreograf Damien Jalet in „Skid“ die Tänzer:innen dem Gesetz der Schwerkraft aus und im Sinne einer Poesie des Widerstands in Bewegung; auf einer um 34 Grad abgewinkelten Plattform, die direkt in den Orchestergraben eintaucht.
Das niederländische Geschwisterpaar Imre & Marne van Opstal sind die Shootingstars in der europäischen Tanzszene. In enger Zusammenarbeit mit dem Staatsballett-Ensemble und unter Einbezug von Chören erforscht das Duo in „I’m afraid to forget your smile“ den Moment des Loslassens als einen Übergangszustand in der Hingabe an den Verlust.
Kampf, Frauen, Freiheit – in ihrem 2012 uraufgeführten Stück „Quartiers Libres“ konfrontiert die Choreografin Nadia Beugré in der Wartburg „mit Vorstellungsinhalten und Tatsachen, die wir am liebsten verdrängen“. Eine kraftvolle Tänzerin, die singt, tanzt und manchmal auch schreit. Einen Mangel an Engagement – zum Beispiel beim globalen Thema Müll – will Nadia Beugré umkehren, indem sie sich unter das Publikum mischt.
Wechselnder Wellengang
In „Burnt“, als deutsche Erstaufführung im Kleinen Haus zu sehen, nimmt sich das Tanzduo Lee/Vakulya, bestehend aus Chen-Wei Lee und Vakulya Zoltan, dem Erschöpfungszustand der ständigen analog-digitalen Dauerpräsenz und gleichzeitigen Existenzen an. Die Choreografie, auf die Bühne gebracht gemeinsam mit zwei Tänzer:innen und dem Klangkünstler Gryllus Abris, erinnert an ein schwimmendes Boot – immer in Bewegung, nie zentriert und stets dem wechselnden Wellengang ausgeliefert. Jenna Jalonen und Jonas Garrido Verwerft lassen in der Wartburg in ihrem Stück „BEAT I just wish to feel you“ in pulsierender Nähe ihre Körper zu einem werden. Der Soundkünstler Adrian Newgent komponiert dazu live auf der Bühne Klanglandschaften, die im ständigen Dialog mit den beiden Tänzer*innen stehen.
Kollektive Schönheit auf dem Eis
Eröffnet wird das diesjährige Tanzfestival heute in Darmstadt – auf dem Eis. Die faszinierenden Lufttänze der Stare bezeichnen Ornitholog:innen als „Murmuration“. So heißt auch das Eröffnungsstück, das in den Eissporthallen Darmstadt und Frankfurt gezeigt wird.
Über fünf Jahre hinweg hat das Montrealer Kollektiv Le Patin Libre daran gearbeitet, dieses virtuose Schwarm-Verhalten aufs Eis zu bringen. Immer den Fragen nach: Warum versammeln wir uns? Warum driften wir wieder auseinander? Warum ist unser kollektives Verhalten so undurchschaubar? Die komplexe Choreografie soll – ohne sichtbare Anstrengung, wie ein Vogelschwarm – erforschen, was jeder Mensch erlebt, wenn er einen Vogelschwarm beobachtet: die Magie einer kollektiven Schönheit, die die vitale Energie und die innige Hoffnung des Überlebens verkörpert.
Alle Infos, das volle Programm und Karten: www.tanzfestivalrheinmain.de