Zum heutigen ersten Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel finden vielerorts – auch in Wiesbaden heute um 17.30 Uhr auf dem Schlossplatz vor dem Rathaus – Gedenkveranstaltungen statt. Der Wiesbadener Georg Habs, der unter anderem als Vorstand im Verein „Aktives Museum Spiegelgasse für Deutsch-Jüdische Geschichte in Wiesbaden e.V. (AMS)“ oder in der Initiative „moment mal! – Aktion für eine offene Gesellschaft“ aktiv engagiert ist, hat einen persönlichen Text zu diesem Datum verfasst. Unter dem Titel „Sippen-Hass ist ekelhaft“ sagt er „Jeder und jede kann solchen Hass überdenken und überwinden“. Wir veröffentlichen die „Gedanken eines Post-Politischen“ als Gastbeitrag:
„Am 7. Oktober 2023 verübten die Hamas und mit ihr verbündete palästinensische Milizen in 21 Kibbuzim brutale Massaker an der Zivilbevölkerung.
Dazu schrieb ich vor rund einem Jahr:
`Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Entführung, die Verwandlung von Schutzräumen in Schlachthäuser sind unmenschliche Verbrechen. Wer solche Verbrechen als legitime Mittel eines `Befreiungskampfes´ rechtfertigt, glaubt allen Ernstes, es gebe Zwecke, die jedes Mittel rechtfertigen.´
Solch zynische und menschenverachtende Hamas-Strategien der Konfliktzuspitzung finde ich heute genauso unerträglich wie damals.
Ein Jahr später hat sich einiges verschlimmert.
Jüdische Freundinnen und Freunde werden auf Grund ihrer Herkunft und ihres Glaubens in öffentlichen Räumen des Internets, ihres Studiums, ihrer Arbeit, ihrer Freizeit vermehrt zu Objekten von Verleumdung und Verachtung, eines zügellosen Vernichtungswillens. Sie sehen sich mancher Bedrohung von Leib und Leben ausgesetzt. Man legt ihnen die Regierungspolitik Israels zur Last, nimmt sie in Sippenhaft für etwas, für das sie selbst keinerlei Verantwortung tragen.
Eine iranische und eine türkische Bekannte berichten, sie würden von Mitgliedern der deutschen Mehrheitsgesellschaft immer öfter und gnadenloser des Antisemitismus verdächtigt. Ihnen widerfahre dies, obwohl sie sich erkennbar dafür einsetzten, dass jeder Mensch nach seiner Fasson leben und glücklich werden kann.
Diese wenigen Einzelbefunde sind nur aus einem Grund bedeutsam: Sie bringen auf den Punkt, was Einzelnen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit angedichtet wird. Die exekutierte Vorurteilsstruktur entsprich der Denk-Schablone `Alle Rothaarigen sind Hexen.´
In dieser Einschätzung sind sich die genannten Freundinnen, Freunden und Bekannten mit mir einig.
Der gravierende Unterschied ist: Sie sind unmittelbar betroffen. Sie sind Opfer brutaler Zuschreibungen. Ich bin es auf Grund meiner Herkunft nicht. Ich sehe von außen auf ihre Ausgrenzung. Sie stecken in der ihnen zugemuteten Ausgrenzung fest.
Mir fehlen die Mittel, diese existentielle Kluft einfach zuzuschütten. Aber ich verfüge über die Möglichkeit, der in Krisenzeiten wuchernden Zuschreibungslust entschieden entgegenzutreten.
Die Enthemmung solcher Stigmatisierungsbereitschaft bedient sich oft des Kaffeehaus-Geredes über den einzig richtigen Weg zur Lösung des Nahost-Konflikts.
All die Scheinriesen der politischen Analyse wissen ohne Frage um ihren fehlenden Einfluss auf das Weltgeschehen.
All die Scheinriesen der politischen Analyse haben vor allem eines im Sinn – sich selbst, die Wiedergewinnung ihrer Komfortzone an vermuteten Gewissheiten.
Kaum sind sie mit sich im Reinen und des festen Glaubens, selbst `richtig´ zu liegen, fällen sie mit Verve Urteile darüber, welche anderen Personen eh und je `falsch´ liegen.
Die politische Selbstverortung stärkt ihre Überzeugung, sie könnten sich guten Gewissens jede Unterstellung und jeden ´Shitstorm´ gegenüber anderen leisten.
Unser Grundgesetz lässt keinen Raum für solche Hybris.
Unser Grundgesetz verspricht den Schutz der Menschenwürde.
Die im Grundgesetz festgeschriebenen Grundrechte stehen allen Menschen zu – unabhängig von Geschlecht, Gesundheitszustand, Aussehen, sexueller Orientierung, Abstammung, Sprache, Herkunft, Anschauungen, religiösen Überzeugungen und was auch sonst ihre Eigenart ausmacht.
Diese Grundrechte haben `Ewigkeitswert´.
Keine wie immer geartete gesellschaftliche Mehrheit ist befugt, das Recht auf Menschenwürde nur noch denen zuzugestehen, die ihrem Willen in den Kram passen.
Niemand ist berechtigt, den Stab über Menschen anderer Herkunft zu brechen.
Im Gegenteil: Unser Grundgesetz fordert dazu auf, den Individuen und ihrer Würde unter allen Umständen gerecht zu werden.
Spaltung und Ausgrenzung fangen im Kleinen an.
Im Kleinen sind Spaltung und Ausgrenzung oft doppelt und dreifach ungerecht.
Anklagen Einzelner bedürfen einer sachlichen Grundlage.
Wer Verdächtigungen Einzelner freihändig und auf Vorrat äußert, verhält sich erbärmlich, plustert sich auf, indem er andere herabwürdigt.
Wer sich Sicherheit und Ordnung mittels selbst-ersponnener Sippen-Haft zu verschaffen versucht, begünstigt Sippen-Hass.
Humanität und Solidarität dürfen keine Schönwetter-Tugenden sein.
Humanität und Solidarität müssen sich gerade in dunklen Zeiten bewähren.“