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Verborgene Welten: Tanzbrunnen

Von Martin Mengden. Foto Simon Hegenberg.

Der Tanzbrunnen ist ein Nachtclub. Einen Nachtclub besucht man nicht, man steigt in ihn hinab. Ich habe das an zwei Tagen getan.

„Jung“ und leer

Freitag Abend. Ich überwinde mich und gehe hinein. An der Kasse ein Mann mit Anzug und rotem Einstecktuch. Ich bin fast so eingeschüchtert wie in der Schlange vor dem berlinerischen Berghain. Kommt man da überhaupt so einfach rein? Der Mann am Empfang ist Alfons Wenzel, der Besitzer. Er sieht aus wie jemand zwischen Edel-Ski-Hotel-Besitzer und Boxpromoter. Ich schaue mich nach Gala-Paparazzi um, finde aber keine. Dieter Bohlen war aber schon mal da, glaube ich. Ich werde reingelassen.

„Du bist wie Champagner auf meiner Seele, für einen Rausch mit dir gäb ich alles hin“, schallt es zur Begrüßung. Ich finde mich wieder in einem riesigen, gedimmten, der Zeit entrückten Reich. Über den Tischen hängen Herzen (immer diese Herzen!), darauf Städte- und Ländernamen und irgendeine Zuordnungsnummer, zum „gepflegten Kennenlernen“. Wir setzen uns auf „Trinidad (23)“. Ich schaue mich um. Ein paar Gäste sind da, vielleicht achtzehn. Keiner davon ist unter vierzig. Neben uns ein Herr auf „Dresden (29)“. Eine Dame schräg davor auf „Hollywood (30)“. „Das kann kein Zufall sein, ich lass mich auf deine Träume ein“: Der Mann aus „Dresden“ wechselt zum Stehtisch vor ihr. Sie bohrt Blicke in seinen Rücken. Irgendwie scheint er es zu fühlen. Endlich setzt er sich zu ihr. Jetzt sind beide in Hollywood. Es brodelt, der Laden ist erotisch aufgeladen. Nein, mehr: Er ist hochsexuell. Keine Spur von jugendlicher Schüchternheit. Natürlich sind wir Exoten in dieser Umgebung. Outsider sozusagen. So kommt bald ein Mann auf uns zu. Es ist DJ Helmut, sympathischer Showman („ich tanze auch mal zu meiner eigenen Musik“) und heimlicher Star des Ladens, wie ich noch feststellen werde. Er diktiert mir so etwas wie sein inoffizielles Motto: „Locker, flockig, leicht, das Leben ist beschissen genug“.

Mein Blick geht zurück nach Hollywood: Sie war zur Toilette gegangen. Nun ist sie zurück und nähert sich ihm. Er will aufstehen, sie aber macht eine ablehnende Geste – und geht. Nicht einmal zur Verabschiedung wollte sie sich noch von ihm anfassen lassen. Mir brennt sich ein Bild ein: Er sitzt – alleine – am Tisch; sie legt sich, für ihn nicht sichtbar, vor dem Garderobenspiegel langsam Schal und Mantel an. Ich bleibe einziger Zeuge dieser traurig gescheiterten Annäherung.

Auf der Bühne erscheint eine üppige Frau um die vierzig. Sie hat einen sehr knappen Rock an. Vor leerer Tanzfläche beginnt sie, live aber konservenbüchsig zum Playback zu singen. So wollen sie jüngeres Publikum anziehen. Später wird sich ihr Produzent zu uns setzen und auf unser Feedback zu einem ihrer Country-Songs warten. Ein guter Zeitpunkt, schnell zu gehen.

„Alt“ und voll

Sonntag Nachmittag, Tanztee. Draußen ist es Tag, drinnen Nacht. Afterhour? Tanzt man schon oder noch? Natürlich: schon. Trotzdem, von Tee keine Spur, es wird großzügig zum Wein gegriffen. Es ist brüllend heiß, der Ventilator verteilt die Schwüle hektisch auf der Tanzfläche. Ich fühle mich wie auf einem Kreuzfahrtschiff. Vielleicht dem „Traumschiff“. Es sind ungefähr 120 Gäste (60+) da, 90% davon tanzen. Es sprudelt vor Lebensfreude. Und es geht körperlich zu, an zulässigen Stellen fasst man sich oft und gerne an. Ich schäme mich kurz für die Gehemmtheit meiner Generation. Ähnlich euphorische Stimmungen entstehen bei uns mit viel Glück und viel Alkohol erst um 1:30! Und ich fange an, DJ Helmuts Kompetenzen zu bewundern: Die Ibiza-Techno-Version eines Schlager-Klassikers verkauft er der Gesellschaft als „neuste Fassung“. Jetzt verstehe ich auch, warum die Rentner alle mit dem neuesten VW-Golf herumfahren. Nebenbei wirbt er übers Mikro den neuen Live-Freitag an („er ist ganz gut angenommen worden“). Dann die Flippers: „Sie will einen Italiener…“

Dieter Bohlen war übrigens doch noch nicht da, wie ich später herausfinde. Es war sein Double „das Bobo“ Henry Matz.

Tanzbrunnen („Ball der einsamen Herzen“) / Moritzstraße 64 / 65185 Wiesbaden / Montag, Freitag & Samstag ab 20 Uhr, Sonntag 15 bis 20 Uhr.

Martin Mengden, 26, Musiker, Flaneur und bekennender Jungjurist, öffnet in der Rubrik „Verborgene Welten“ Türen zu Wiesbadener Sub-Welten, durch die nicht jeder auf Anhieb gehen würde.