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Wachsen, Wohnen, Wohlfühlen – Wie schlägt sich Wiesbaden im urbanen Dreikampf?

Von Hendrik Jung. Fotos: Arne Landwehr, Dirk Fellinghauer, SEG, Landeshauptstadt Wiesbaden.

Auch Wiesbaden will die Disziplinen des modernen urbanen Dreikampfs bewältigen. Die Herausforderung: Wachstum so gestalten, dass guter Wohnraum für alle entsteht, mit einem Stadtklima, das städtisches Leben in Zeiten des Klimawandels erträglich macht.

Das Baugesetzbuch spricht eine klare Sprache. „Mit Grund und Boden soll sparsam und schonend umgegangen werden“, heißt es dort in Paragraph 1a. Und weiter: „Dabei sind zur Verringerung der zusätzlichen Inanspruchnahme von Flächen für bauliche Nutzungen die Möglichkeiten der Entwicklung der Gemeinde insbesondere durch Wiedernutzbarmachung von Flächen, Nachverdichtung und andere Maßnahmen zur Innenentwicklung zu nutzen sowie Bodenversiegelungen auf das notwendige Maß zu begrenzen.“ Vor diesem Hintergrund ist das noch in der Entstehung befindliche Baugebiet Hainweg in Nordenstadt mit 650 Wohneinheiten auf 21 Hektar Fläche und gerade mal 30 Prozent Geschosswohnungsbau kritisch zu betrachten.

Baugebiet als „Katastrophe“

„Das ist meiner persönlichen Meinung nach eine Katastrophe. So etwas kann es in Wiesbaden nicht mehr geben“, sagt in ebenfalls klarer Sprache Camillo Huber-Braun, Leiter des Stadtplanungsamts Wiesbaden. Eine Wohndichte dieser Größenordnung habe mit der Stadtentwicklung einer Großstadt – und darum handelt es sich bei Wiesbaden per Definition – nichts zu tun. „Aus Sicht der Stadtentwicklung handelt es sich um einen Worst-Case. Die Stadt ist selbst als Investor aufgetreten und hat das Baugebiet nach Höchstpreis entwickelt“, kritisiert Huber-Braun.

Herausforderungen der Stadtplanung

Seines Erachtens sollten die großen Herausforderungen der Stadtplanung im 21. Jahrhundert – Klimawandel, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Produktivität – durch die Experten im Stadtplanungsamt angegangen werden. „Das hat in der Kernverwaltung stattzufinden, in enger Zusammenarbeit mit dem Magistrat, und nicht in ausgegliederten Gesellschaften außerhalb der Kontrollmechanismen“, fordert Camillo Huber-Braun.

Die ausgeprägte Struktur städtischer Gesellschaften in Wiesbaden sei ihm bei seinem Amtsantritt (im Juni 2018) in ihrer vollen Tragweite nicht bekannt gewesen. Kritisch sieht er etwa die Aufgabe der Stadtentwicklungsgesellschaft Wiesbaden mbH (SEG), die gemeinsam mit der Landeshauptstadt Eigentümerin der Flächen am Nordenstadter Hainweg ist. „Der Geschäftszweck ist, mit Höchstertrag Stadtentwicklung zu betreiben. Das ist meines Erachtens falsch. Stadtentwicklung kann nicht merkantil orientiert sein“, verdeutlicht Camillo Huber-Braun.

SEG-Chef zu Kritik: „Kompletter Unsinn!“

Bei der SEG sieht man das naturgemäß anders. „Dass wir außerhalb der Kontrollmechanismen wären, ist kompletter Unsinn. Auf uns kann man fast mehr Einfluss nehmen als auf die Kernverwaltung“, entgegnet SEG-Geschäftsführer Andreas Guntrum. Schließlich gehören nach Gesellschaftsvertrag mehrere hauptamtliche Magistratsmitglieder dem Aufsichtsrat der SEG an.

Auch sei es keineswegs Geschäftszweck, mit Höchstertrag Stadtentwicklung zu betreiben. Zwar müsse eine GmbH natürlich gewinnorientiert handeln. In welchem Ausmaß dies geschehe, sei aber eine politische Vorgabe. „Am Hainweg haben wir gute Gewinne gemacht, keine Frage. Aber wenn wir als Ziel Nachhaltigkeit vorgegeben bekommen, dann setzen wir das auch um“, erklärt Guntrum. Und nennt ein aktuelles konkretes Beispiel.

Wegweisendes Wohnbaugebiet

Derzeit gilt die geplante Entwicklung eines Wohnbaugebietes im Bereich der Gemarkung Zweibörn am Siegriedring gegenüber des Südfriedhofs als wegweisend, das von der SEG als Vorhabenträger gesteuert und umgesetzt wird – in enger Zusammenarbeit mit dem Stadtplanungsamt. Die Rahmenplanung sieht auf der bislang weitgehend unbebauten Fläche südlich des Dankwardwegs auf 9,9 Hektar die Entstehung von bis zu 750 Wohneinheiten vor, die zu fast zwei Dritteln in Mehrfamilienhäusern entstehen sollen. Im Zentrum des Quartiers ist ein öffentlicher Park angedacht, der Treffpunkte aber auch eine Retentionsfläche aufweisen soll, um Niederschlagswasser zwischenzuspeichern.

Stadt der kurzen Wege

Im Sinne einer Stadt der kurzen Wege ist die Ansiedlung eines Nahversorgers angedacht, und zwar im Erdgeschoss eines „Mobilitätshauses“, das die eigentliche Neuerung der Rahmenplanung darstellt. Durch die Errichtung dieser Quartiersgarage soll ein autoarmes Viertel entstehen. Weniger Flächenverbrauch für Parkplätze wird weiterhin angestrebt, indem allgemeine Besucherstellplätze wegfallen und Car-Sharing angeboten werden sollen.

Ostfeld – „Go“ oder „No“?

Ein modernes Mobilitätskonzept ist auch bei der geplanten Entwicklung des Ostfelds angedacht, gegen dessen Entstehung sich jedoch nach wie vor vehementer Widerstand regt. Gerade hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden die Verbandsklage des Bunds für Umwelt und Naturschutz (BUND) angenommen. Dieser kritisiert, dass die gewünschte Entwicklung des 450 Hektar großen Gebiets zu einem neuen Stadtteil gleich in mehrfacher Hinsicht die rechtsverbindlichen Zielfestlegungen des Regionalplans Südhessen durchbreche. Damit ruht die Weiterentwicklung des Projekts zunächst einmal. Den neuen Standort des Bundeskriminalamts, der im Ostfeld entstehen soll, würden sich manche in Rüsselsheim auf einst durch Opel genutzten Flächen wünschen. Ein übergreifendes Denken bei der Entwicklung der Region, die vom Bündnis Stadtklima Mainz-Wiesbaden nachdrücklich unterstützt wird.

„Wir machen uns die Stadt kaputt“

In diesem Bündnis sind mehrere Initiativen aktiv, die der Entwicklung des Ostfelds kritisch gegenüberstehen, manche haben ihren Schwerpunkt aber auch in anderen Stadtteilen. „Die Themen sind überall fast dieselben. Wir machen uns die Stadt mit dem Bauen an sensiblen Stellen kaputt. Das wird uns auf die Füße fallen“, befürchtet Christina Kahlen-Pappas von der Bürgerinitiative Zukunft Schierstein. In ihrem Stadtteil sieht man insbesondere die weitere Entwicklung des Geländes durch die SEG kritisch. Zumal einer Klimabewertungskarte aus dem Jahr 2017 auf der Internetseite der Landeshauptstadt zu entnehmen ist, dass dieser Bereich genau wie der gesamte Kern Schiersteins als Sanierungszone mit hoher bis sehr hoher stadtklimatologischer Vorbelastung eingestuft wird.

Klimatische Veränderungen – und Endlichkeit der Stadtentwicklung

Als Planungshinweis wird formuliert: „Entsiegelungen und intensive Begrünungen. Keine weiteren baulichen Verdichtungen und Versiegelungen“. Auch in der im Sommer durch das Bundesumweltamt vorgelegten Klimawirkungs- und Risikoanalyse wird das Rheintal auf der Höhe von Wiesbaden zu den wärmsten Regionen der Republik gezählt, in denen mit klimatischen Veränderungen wie zunehmender Hitze, Trockenheit im Sommer und Starkregen zu rechnen ist. „Die sensiblen Flächen sind definiert. Man muss nicht herausfinden, wo darf man bauen und wo nicht. Nur die Politik spielt nicht so mit“, ärgert sich Christina Kahlen-Pappas. Ihrer Meinung nach müsse man in Wiesbaden an vielen Stellen auch mal akzeptieren, dass man die Stadt nicht unendlich weiter entwickeln könne.

Ohne Bauen geht es nicht

„Nicht bauen ist nicht nachhaltig“, findet dagegen der Leiter des Stadtplanungsamtes, Camillo Huber-Braun. Schließlich weist der aktuelle Wohnungsmarktbericht bereits für das Jahr 2018 eine Differenz von gut 5.000 Einheiten zwischen Wohnungsbestand und den in Wiesbaden gemeldeten Haushalten aus. Auch sechs Jahre zuvor gab es bereits weniger Wohnungen als Haushalte, doch da belief sich die Differenz noch auf knapp 3.200. Zwar sinkt aktuell die Zahl der Zuzüge nach Wiesbaden, seit 2016 kontinuierlich, und hat sich im vergangenen Jahr mit 16.302 kaum noch von der Zahl der Fortzüge unterschieden (16.209). Dennoch gehen gleich drei Prognosen davon aus, dass bis zur zweiten Hälfte der 2030-er Jahre in Wiesbaden ein Bedarf von mindestens 18.000 zusätzlichen Wohneinheiten besteht.

Wohnungstausch statt Neubau?

Allerdings stellt sich die Frage, ob ein solcher Bedarf ausschließlich durch Bauen gedeckt werden kann. Mit einem Beschluss vom Mai haben die Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung unter anderem festgelegt, dass ein Konzept für eine Wohnungstauschbörse entstehen soll. Zu den Beratungen für den gerade beschlossenen Doppelhaushalt 2022/23 haben Bündnis90/Die Grünen, SPD, Linke und Volt dafür nun die Schaffung von anderthalb Stellen beantragt, die dann zum Herbst 2022 besetzt werden könnten. „Man hört immer wieder, dass ältere Menschen keinen Anreiz haben, aus ihren günstigen alten Mietverträgen auszusteigen“, berichtet Wohnungsdezernent Christoph Manjura (SPD). Im Rahmen der Wohnungstauschbörse sollen etwa Menschen, die mittlerweile ohne ihre Kinder in der ehemaligen Familienwohnung leben, kleinere Wohnungen zum selben Mietpreis angeboten werden.

Gemeinschaftliche Wohnprojekte

Die Wohnberatung, die in dem Beschluss vom Mai ebenfalls vorgesehen ist, soll unter anderem über gemeinschaftliche Wohnprojekte informieren. Mindestens ein halbes Dutzend solcher Projekte existiert in Wiesbaden bereits sowohl in Mietshäusern als auch in Wohneigentum. Die zu Grunde liegenden Konzepte sind so individuell wie die Gemeinschaften, die sie leben. Weit verbreitet ist die Einrichtung gemeinsam genutzter Räume, wie etwa einer Werkstatt oder eines Gemeinschaftsraums sowie die Ausrichtung von Veranstaltungen.

„Vor Corona haben wir ein ganzes Programmheft mit Angeboten herausgegeben“, berichtet Heidi Diemer vom Wohnprojekt Horizonte, das seit 2018 in der Brunhildenstraße von Bewohnern aus 14 Mietwohnungen realisiert wird. Im November 2021 hat man den Veranstaltungsbetrieb wieder aufgenommen, bereits im Sommer die Bewirtschaftung einer Cafeteria, die mittwochs nachmittags geöffnet ist. „Eigentlich haben alle Gruppen vor, sich auch an die Nachbarschaft zu wenden, das verbessert das Zusammenleben“, erläutert Heidi Diemer, die als Ansprechpartnerin für die Koordinierungsstelle für Wohninitiativen und Baugemeinschaften bei der SEG fungiert.

Weitere Wohnprojekte in den Startlöchern

Ein weiteres halbes Dutzend Gruppen arbeitet derzeit an der Realisierung eines gemeinschaftlichen Wohnprojekts. Für 2022 soll zudem ein Projekt vorbereitet werden, für das sich dann ältere Menschen im Alter ab etwa 70 Jahren bewerben könnten, kündigt Heidi Diemer an. Während sich im Klarenthal eine Gruppe gegründet hat, die ein Gebäude der Gemeinnützigen Wiesbadener Wohnbaugesellschaft (GWW) nutzen möchte, für das der Grundstein bereits gelegt ist, wartet man in Bierstadt-Nord noch darauf, dass in Wiesbaden wie geplant begonnen wird, einige Grundstücke nicht nach Höchstpreis zu vergeben, sondern nach Nutzungskonzept. Auch in Breckenheim, Klarenthal und Kastel – hier will der „GLIK – Gemeinsam – leben – in – Kastel e.V.“ ab September 2022  „einen ressourcenschonenen, solidarischen Lebensstil praktizieren“ und sucht weitere Mitstreiter:innen in verschiedenen Lebenssituationen, verschiedenen Alters und Herkunft – sind Areale definiert, in denen erste Erfahrungen mit dem Konzeptverfahren gemacht werden sollen. Dies soll wegweisenden Ideen eine Chance geben, die sie ansonsten angesichts eines rasant steigenden Durchschnittspreises für Wohnbauland nicht hätten. Von 810 Euro pro Quadratmeter 2016 ist er vergangenes Jahr auf 1.336 Euro gestiegen.

Studi-Wohnungsnot

Es ist kaum verwunderlich, dass in einem solchen Umfeld die Bedingungen für die Studierenden nicht ideal sind. „Insgesamt schätzen wir die Lage so ein, dass es insbesondere im innerstädtischen Raum zu wenig Wohnheime gibt und die Mietpreise zu hoch sind“, erläutert Marius Brandt vom Vorstand des Allgemeinen Studierendenausschusses AStA der Hochschule RheinMain. Die Geschäftsführerin des Mieterschutzbund Wiesbaden, Eva-Maria Winckelmann, weist darauf hin, dass nun Studierende gleich mehrerer Semester mit Wohnungsbedarf nach Wiesbaden kommen: „Während der Corona-Semester blieben sie eher noch zuhause wohnen, nun kommen sie geballt.“

Auch auf dem freien Markt befinden sich die Mietpreise im Höhenflug. Dem aktuellen Wohnungsmarktbericht ist zu entnehmen, dass die in diesem Jahr erfolgte Fortschreibung des Wiesbadener Mietspiegels für nicht preisgebundene Wohnungen in mehr als 20 Kategorien Steigerungen von zehn und mehr Prozent gegenüber dem Mietspiegel aus dem Jahr 2016 ausweist. Der Zentralwert der durchschnittlichen Miete ist von acht Euro pro Quadratmeter 2010 auf 10,80 Euro in 2019 gestiegen.

Bedarf an gefördertem Wohnraum

Kein Wunder, dass es in Wiesbaden einen großen Bedarf an gefördertem Wohnraum gibt. „3.500 Haushalte mit Wohnberechtigungsschein sind auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung“, berichtet Wohnungsdezernent Christoph Manjura. Dem aktuellen Wohnungsmarktbericht ist zu entnehmen, dass der Anteil geförderter Wohnungen von 7,9 % in 2005 auf 6,4 % in 2019 gesunken ist. Um dem entgegenzuwirken, sind für den Doppelhaushalt, der am 16. Dezember verabschiedet werden soll, Mittel beantragt, um Belegungsbindungen und Belegrechte zu verlängern, damit keine Wohnungen mit Sozialbindung verloren gehen. Ebenfalls sind Mittel beantragt, um den Bau von Sozialwohnungen durch Dritte zu fördern. Außerdem ist 2021 beschlossen worden, dass für zukünftige Bauvorhaben ab 40 Wohneinheiten grundsätzlich mindestens 30 % geförderter Wohnraum zu schaffen ist.