Von Hendrik Jung. Fotos Kai Pelka.
Sie wirken wie Skulpturen in der Kulturlandschaft Rheingau. Doch die Rheingauer Sehstelen haben auch eine konkrete Funktion: Sie fokussieren die Blicke der Wanderer auf die Besonderheiten der Region.
Es regnet in Strömen, und das bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Ein Wintertag, an dem man selbst im schönen Rheingau nur wenigen Wanderern begegnet. Doch auf der Höhe bei Rauenthal findet sich immerhin ein weiterer Frischluft-Fanatiker. „Sie meinen die Tafel, die beschreibt, was hier vor Millionen von Jahren passiert ist? Die steht direkt auf der Bubenhäuser Höhe“, weiß er sofort Bescheid, als er nach dem Standort der dortigen Sehstele – einer von 17 zwischen Walluf und Lorch – gefragt wird. Ein Platz, der außerordentlich geeignet ist für das Projekt. Schließlich hat man von hier einen weiten Blick ins Land. Zwei waagrechte Schlitze in unterschiedlichen Höhen weist die Stahlskulptur auf, die durch einen massiven Betonsockel gesichert ist.
Von Haien und Weinen
Sie lenken die Augen der Betrachter direkt auf einen Strand. Zumindest hat sich im Mainzer Becken während des Tertiärs vor etwa 30 Millionen Jahren ein subtropisches Meer befunden, in dem sich Haie und Seekühe tummelten. Direkt unterhalb der Infotafel, die dieses und vieles weitere Wissenswerte verrät, befindet sich außerdem ein im Rheingau einzigartiger Boden. Nur hier ist noch der Kalkstein zu finden, der vor 20 Millionen Jahren beim Heben des Taunusgebirges mit an die Oberfläche gekommen ist. Eine Information, die keineswegs nur für Geologen von Interesse ist. Die Bodenbeschaffenheit prägt auch die dort angebauten Reben. „Die Weine sind durch die Höhenlage leichter in der Aromatik und zeigen eine feinnervige bis kernige Säurestruktur mit einer großen Harmonie und Eleganz“, verrät der Text der Tafel über die Weinberglage Langenstück. Zusammengestellt hat die Informationen der Geograf Peter Böhm, als er noch am Institut für Bodenkunde und Pflanzenernährung gearbeitet hat, das heute zur Hochschule Geisenheim gehört. Grundlage sind unter anderem die Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das von dem Institut im Auftrag des Rheingauer Weinbauverbands durchgeführt worden ist.
„Die Fragestellung war: Gibt es Terroir-Weine? Hat der Geschmack etwas mit der Landschaft zu tun?“, blickt Peter Böhm zurück. Um das heraus zu finden, hat eine Gruppe Rheingauer Winzer ihre Weine vergleichbar ausgebaut, mit gleichen Hefen und gleichen Bedingungen im Keller. Das Ergebnis ist eindeutig. „Wir haben zum Beispiel sowohl Weinberge in Rauenthal als auch in Martinsthal“, erläutert der Inhaber des Weinguts Diefenhardt, Peter Seyffardt. Zwar herrsche an beiden Standorten Phyllitboden vor, diese seien jedoch unterschiedlich entstanden. Die einen am Meeresgrund unter anaeroben Bedingungen, also ohne Zufuhr von Sauerstoff, die anderen aerob, mit Sauerstoff. Das habe zur Folge, dass der Geschmack des Rauenthaler Rieslings an Zitrusfrüchte, der des Martinsthalers hingegen an Birne, Pfirsisch oder Aprikose erinnert. „Die Sehstelen sollen der Anfang der Entwicklung eines Terroir-Weges sein“, erklärt der Präsident des Rheingauer Weinbauverbandes, dass man die Wanderer in Zukunft direkt in die Weinberge locken will, um diese Kulturlandschaft noch intensiver erlebbar zu machen.
Die Rheingauer Stelen konzentrieren die Blicke großer und kleiner Wanderer durch die Sehschlitze und Gucklöcher mal auf Burgen und Inseln, mal auf einen Dom und natürlich auch immer wieder auf den Rhein. Die Kosten von etwa 90.000 Euro sind zum Teil aus dem „Leader“-Förderprogramm der EU finanziert worden, das innovative Aktionen im ländlichen Programm unterstützt. „Die Stelen zielen auf die Neugier und die Entdeckerlust der Leute ab. Sie laden dazu ein, aktiv zu werden und etwas Neues zu erfahren“, findet Peter Böhm. Außer dem Einfluss des Terroirs auf die Stilistik des Rieslings und die Landschaftsentwicklung erzählen die Tafeln auch historische Begebenheiten. So erfährt man bei der Sehstele am Bodental bei Lorch, dass hier Jahrhunderte lang Weinberge von Winzern aus dem auf der anderen Rheinseite gelegenen Trechtingshausen bewirtschaftet wurden, die dazu den Rhein mit ihren Nachen genannten Kähnen überquerten.
„Terroir Rheingau – Weinerlebnis durch Sehstelen“ ist Teilnehmer beim „Tourismuspreis meine Region“ 2014, den sensor als Medienpartner begleitet.
http://www.kulturland-rheingau.de/sehstelen/