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Winzerstübchen-Haus steht wieder zum Verkauf – Ex-Wirtin und Stammgäste fassungslos / „Gentri“-Sorgen

„Fuck Gentri“ sprühten Unbekannte nach der unfreiwilligen Schließung des Kultlokals „Winzerstübchen“ auf die dortigen Fenster.

„Hoher Leerstand“ wird als erstes Ausstattungsmerkmal ergo Verkaufsargument aufgeführt in der aktuellen Immoscout-Anzeige für einen „Denkmalgeschützten Stilaltbau in guter Wiesbadener Lage“.  Ein Kaufpreis von 4,3 Millionen Euro wird aufgerufen für das Mehrfamilienhaus. Die „gute Lage“ ist die Ecke Arndstraße/Herderstraße im Dichterviertel, das Haus ist jenes, das viele im Viertel und in der ganzen Stadt mit einem ganz besonderen Lokal verbinden – dem legendären „Winzerstübchen“.  Die Ex-Wirtin und die Stammkunden, für die der Ort ein Wohnzimmer war, sind fassungslos – und stellen Fragen an die Stadtpolitik.

Fassungslos, weil nach dem Verkauf des Hauses an den Frankfurter Investor Franconofurt AG das dort 1988 von der unvergessenen Ursel Schittler eröffnete „Winzerstübchen“ zum 31. Dezember 2021 schließen musste und auch ein Großteil der überwiegend langjährigen Mieter das Haus verlassen hatten. Und weil dieses Haus nun, weitgehend mieterfrei, wieder auf den Markt geworfen wird.

„Fuck Gentri-„Botschaft im Fenster

„Fuck Gentri“ fasst die Wahrnehmung vieler direkt – als (einstige) Mieter des Hauses – oder indirekt – als Gäste und Fans der Gastronomie – Betroffener mit Blick auf das Schicksal der Immobilie zusammen. Den Spruch, den Unbekannte auf das Ex-„Winzerstübchen“-Fenster gesprüht hatten, würden wohl auch andere, die sich Sorgen um investorengetriebene Entwicklungen in Wiesbaden machen, unterschreiben.

„Dieser wunderschöne Eckaltbau in ruhiger, guter Wiesbadener Lage wird Sie begeistern“, heißt es in der Immoscout-Anzeige für das Haus mit 1300 Quadratmetern Wohnfläche und 120 Quadratmetern Nutzfläche, bestehen aus „2 Gewerbeeinheiten im Erdgeschoss (Kiosk & Gastronomie) sowie 10 Wohneinheiten“. Zahlreiche Mansardenzimmern (ca. 200 m2) im 4. Stockwerk und darüber der Spitzboden böten gemeinsam großes Ausbaupotential, („Bauantrag bereits eingereicht“).  „Durch den hohen Leerstand ist es dem Käufer möglich die Vermietung selbst durchzuführen und auch für die wunderschönen Gastronomieräume einen geeigneten Mieter zu finden“, ist weiter zu lesen.

Die „Restaurierung der historischen Stuckdecke im Entrée des ehemaligen Restaurants“ sei bereits vorgenommen worden, ebenso gebe es bereits eine Baugenehmigung zur Erstellung hofseitiger Balkone. Ansonsten hat sich in dem Haus, das sowohl bisherige Mieter:innen als auch der Investor als sehr sanierungsbedürftig beschrieben hatten, seit der Übernahme durch den Projektentwickler offenbar noch nicht viel getan: „Restauratorische Voruntersuchung/Gutachten wurde erstellt“, heißt es.

„Marktübliche Folgen“ führten zu Mieter-Exodus

Franconofurt-Chef Christian Wolf hatte sich im damaligen sensor-Beitrag  als Liebhaber historischer Häuser bezeichnet. Das Haus in der Arndtstraße sei das erste Objekt, welches er mit seiner Firma in Wiesbaden erworben habe. Überfällige Sanierungsarbeiten seien geplant, damit verbunden auch die „marktüblichen Folgen“ für die Wirtin und die Mieter des Hauses, sagte er damals – was zur Folge hatte, dass sowohl die Wirtin als auch ein Großteil der Mieter das Weite suchten.

Gentrifizierungs-Kritik und Fragen an die Stadtpolitik

„Unglaublich, `unser´ Haus soll wieder verkauft werden“, schrieb die langjährige „Winzerstübchen“-Wirtin nun auf der noch exisitierenden Instagram-Seite des Lokals mit Hinweis auf das Immoscout-Angebot. Die Kommentare ließen nicht lange auf sich warten – zu lesen sind Statements wie „Nicht zu fassen, diese Spekulanten“ – „Ein ganzes Viertel leidet unter diesen Spekulanten“, „Die Gentrifizierung rast durch unser Viertel“, „Das ist nicht deren Ernst“, „Frechheit – war wohl nicht lukrativ genug“. Das Unverständnis mündet in Aufforderungen und Fragen wie „Gert-Uwe Mende, handeln Sie doch mal“ oder „Was macht die Stadtpolitik gegen solche Spekulanten?“.

Genau diese Frage wurde nach der Schließung des Winzerstübchens auch von der Stadtpolitik selbst diskutiert. SPD und Linke forderten seinerzeit eine Milieuschutzsatzung für Wiesbaden, was die CDU ablehnte. In vielen begehrten innenstadtnahen Wohngebieten wie dem Quartier rund um den Luxemburgplatz und die Adolfsallee, aber auch dem Rheingauviertel und dem Äußeren Westend seien seit einigen Jahren deutliche Veränderungen zu sehen, schrieben die Wiesbadener Genossen im Juli 2021 in einer Pressemitteilung.

Verhindert Milieuschutzsatzung Luxussanierungen?

„Die Bevölkerungs- und Soziastruktur in diesen Vierteln hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Zahlreiche Wohnungen wurden luxussaniert, Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt. Dies sind Anzeichen für fortgeschrittene Gentrifizierungsprozesse“, sagte seinerzeit  Andrea Dingeldein, Mitglied im Vorstand der Wiesbadener SPD. „Um die Gentrifizierung zu stoppen, die Sozialstruktur in den Vierteln zu erhalten und um Wohnen in der Innenstadt für alle Bevölkerungsgruppen weiterhin zu ermöglichen braucht Wiesbaden schnellstmöglich eine Milieuschutzsatzung, die bereits von der Verwaltung vorbereitet wird“, war zu lesen, und die Wiesbadener SPD-Vorsitzende Dr. Patricia Eck führte aus: „Eine Milieuschutzsatzung ermöglicht es der Stadt, Luxusmodernisierungen zu unterbinden. Damit könnte dann auch die Kommune eine Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen verhindern. Für profitorientierte Immobilieninvestoren wären dann solche Objekte wie das Haus, in dem sich das Winzerstübchen befindet, nicht mehr so interessant.“

Eine hier zu findende Expertenanalyse , durchgeführt im Auftrag des Sozialdezernats von Eigler Kommunalberatung, kam im September 2022 zu dem Schluss, dass eine Milieuschutzsatzung für Wiesbaden nicht zielführend sei.

Den Hoffnungen der „Winzi“-Fans auf ein mögliches Comeback des Winzerstübchens nach einem etwaigen Verkauf an zugänglichere Eigentümer erteilt Wirtin Beate Arthen eine Absage und schreibt: „Leider nein – aber vielleicht gibt es irgendwann ein Pop-up, dass wir uns alle wiedersehen“. (Text und Fotos Dirk Fellinghauer)

Weiterlese-Tipp – So wohnt Wiesbaden – Wie wollen wir leben? Nicht mit Baustaub und Angst – Geschichte einer Gentrifizierung am Bismarcking

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  1. Statt eine Milieuschutzsatzung einzurichten, hat die Stadtverordnetenversammlung im Dezember 2022 beschlossen, eine Planstelle einzurichten, deren Aufgabe es ist, sich mit den Regelungen des §250 BauGB in Verbindung mit der Hess. Umwandlungsgenehmigungs- und Gebietsbestimmungsverordnung bei Wohngebäuden zu beschäftigen.
    Denn bei Wohngebäuden, in denen sich mehr als sechs Wohnungen befinden, bedarf es für die Begründung oder Teilung von Wohnungseigentum oder Teileigentum nach §1 des Wohnungseigentumsgesetzes einer
    Genehmigung.
    Weiteres dazu ist im Beschluss der Stadtverordneten zu finden: https://piwi.wiesbaden.de/dokument/4/3042446

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