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600 Jahre Ausgrenzung – „Othering“ ist Schwerpunkt beim goEast-Filmfestival – und auch abseits der Leinwand ein Thema

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Von Hendrik Jung. Fotos Rainer Eidemüller / goEast

Die Vertreibung osteuropäischer Siedler durch amerikanische Großgrundbesitzer im 19. Jahrhundert, die Situation einer 40-jährigen, die eine Geschlechtsumwandlung vornehmen möchte und ein Rechtsradikaler, dessen Vorurteile gegen Roma mit der Wirklichkeit konfrontiert werden. Das sind die Inhalte aus drei von elf Filmen, die beim diesjährigen goEast-Festival zum Thema gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit , das Fachwort dafür lautet „Othering“, gezeigt werden. Gleichzeitig gibt das Festival den Startschuss für fünf internationale Filmemachertandems, die sich im Rahmen des Projekts „Oppose Othering“ mit dem Phänomen auseinandersetzen und deren Produktionen dann im Jahr 2017 an gleicher Stelle gezeigt werden sollen. „Wir haben das Gefühl, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit derzeit Aufwind erlebt. In Russland erlebt man sogar von der Regierung gesteuertes Othering gegen Schwule und Lesben, beziehungsweise LGBT-Menschen“, erläutert Festivalleiterin Gaby Babic. Man muss jedoch nicht lange suchen, um gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auch vor der eigenen Haustür zu finden.

Menschenfeindlichkeit etwa gegenüber deutschen Sinti und Roma, die seit mindestens 600 Jahren in Deutschland leben. „Außer unserer Minderheit gibt es wohl keine einzige Volksgruppe, die auch nach mehr als 600 Jahren noch immer als Fremde angesehen wird“, heißt es auf der Internet-Seite der Sinti-Union Hessen. Das macht sich vor allem bei der Suche nach Arbeitsplätzen und Wohnungen aber auch im Umgang mit Ämtern und Behörden deutlich. Nicht weniger als 1.016 Beratungen hat die Sinti-Union Hessen nach Angabe ihres Vorsitzenden Ricardo Lenzi Laubinger im vergangenen Jahr durchgeführt. Mit steigender Tendenz, denn auch unter den Geflüchteten, die derzeit hier ankommen, befinden sich Roma.

Treffen im Wald – aus Angst vor Diskriminierung

„Die sind gleich doppelt gebrandmarkt und haben Angst sich zu outen. Deshalb treffen wir uns zum Teil im Wald oder auf dem Sportplatz“, erläutert Ricardo Lenzi Laubinger. Darauf lasse er sich aber nur ein, wenn das Treffen in einem Dialekt des Romanes vereinbart wird. Schließlich erhalte er immer wieder Morddrohungen. Nach dem Abschneiden der AfD bei der Kommunalwahl möchte er nun nicht mehr, dass Bilder von ihm und seiner Familie veröffentlicht werden.

Meistens hat die Diskriminierung ein Alltagsgesicht. Da spricht ein polnischer Konsulatsmitarbeiter auf einmal kein Deutsch mehr, sind die gewünschten Grill- oder Campingplätze in Wiesbaden belegt, sobald sich herausstellt, dass die Anfrage von Sinti, die es nur im deutschsprachigen Raum gibt, oder den weltweit vertretenen Roma stammt. „Bei unserem Musik- und Kulturfestival im vergangenen Jahr waren Leute aus den Niederlanden, Frankreich und Spanien dabei. Von denen hat keiner einen Platz auf dem Campingplatz gekriegt. Die sind alle gleich wieder gefahren“, bedauert Ricardo Lenzi Laubinger. Immerhin sei es bei dem Festival in der Reduit gelungen, Berührungsängste abzubauen. Finanziell unterstützt worden ist es aus Mainz-Kastel und vom Mainzer Oberbürgermeister. Von der Landeshauptstadt Wiesbaden habe man dagegen keinen Cent erhalten.

Auch der Umgang mit Ämtern und Behörden sei oft schwierig. So habe ein junger Mann, der die Hilfe der Beratungsstelle in Anspruch genommen hat, einen Lebensmittelschein benötigt, weil er nichts zu essen hatte. Die Sachbearbeiterin habe ihm klar gemacht, dass es ein bis zwei Wochen dauern könne, bis der bewilligt sei. Erst durch die Intervention von Bürgermeister Arno Goßmann habe die Situation geklärt werden können. „Es ist traurig, dass man so einen Weg gehen muss. Die Frage ist: Warum? Bei anderen geht es doch auch“, findet Ricardo Lenzi Laubinger. Immerhin habe sich die Situation im Gegensatz zu seiner Kindheit, als er Mitte der 60-er Jahre in seiner Wiesbadener Grundschule noch vom Schulleiter mit einem Stock geschlagen worden sei, mittlerweile deutlich verbessert. Und auch im Vergleich mit der Situation der Roma in vielen Ländern in Osteuropa gehe es den Sinti und Roma in Deutschland noch gut. „In Ungarn ist ein Rom weniger wert als ein Hund“, verdeutlicht Ricardo Lenzi Laubinger. Für Mitglieder dieser Minderheit seien die Balkanstaaten daher auch nicht als sichere Herkunftsländer zu betrachten.

Das 16. goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films findet, mit sensor als Medienpartner, vom 20. bis 26. April statt. Das Foto entstammt dem Beitrag „Aferim“, der 1835 als absurder Western im rumänischen Niemandsland beginnt. Der Berlinale-Gewinnerfilm wirft ganz ohne Political Correctness Fragen nach der Akzeptanz anderer in der damaligen wie in der heutigen Gesellschaft auf. Ohne Sentimalität und historisch fundiert widmet sich der Film Themen wie Frauenfeindlichkeit, Antiziganismus und Antisemitismus. Das komplett Festivalprogramm und alle Infos auf  www.filmfestival-goeast.de

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Seit April 2014 präsentiert die Sinti-Union Hessen monatlich das Sinti-Musik- und Kulturmagazin „Latscho Diwes Hessen“ auf Radio Rheinwelle. Neben regelmäßigen Informationen über die Arbeit der Sinti-Union Hessen e.V. gibt es natürlich auch viel Musik: Von Django Reinhardt, über Swing und Jazz bis hin zu Evergreens und alter klassischer Zigeunermusik. Durch die Sendung führt Christiano Steffens alias Christiano Gitano (Foto).

AKTUELL ZUM THEMA

Internationaler Tag der Sinti und Roma – Staatssekretär fordert Ende der Diskriminierung

Anlässlich des Internationalen Tags der Sinti und Roma am 8. April fordert Staatssekretär Jo Dreiseitel, Bevollmächtigter der Hessischen Landesregierung für Integration und Antidiskriminierung, der Diskriminierung und Ausgrenzung von Sinti und Roma ein Ende zu setzen: „Es ist traurige Realität, dass es Sinti und Roma in Deutschland gibt, die diesen Hintergrund verschweigen, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie mit  verletzenden Vorurteilen und Benachteiligungen konfrontiert werden, sobald bekannt wird, dass sie dieser Minderheitengruppe angehören. “ Das sei besonders tragisch, wenn man sich bewusst mache, dass Sinti und Roma seit 600 Jahren in Deutschland beheimatet sind. Während der Unrechtsherrschaft der Nationalsozialisten wurden Sinti und Roma in Konzentrationslager deportiert. Eine sechsstellige Zahl wurde in den Vernichtungslagern Opfer vom Völkermord auf der Grundlage der nationalsozialistischen Rassenideologie.

Staatssekretär Dreiseitel weist darauf hin, dass die Hessische Landesregierung eine Antidiskriminierungsstelle im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration eingerichtet hat, an die sich alle Menschen in Hessen wenden können, die Opfer von Diskriminierung werden. „Mit der Arbeit der Antidiskriminierungsstelle wollen wir der Diskriminierung von Minderheiten entgegentreten. Es geht darum, dass Betroffene eine Anlaufstelle haben. Darüber hinaus wollen wir für die Thematik sensibilisieren und damit zur Aufklärung und Prävention beitragen.“

Der Internationale Tag der Sinti und Roma findet jährlich am 08. April statt. Er erinnert an den ersten Internationalen Roma-Kongress, der im Jahr 1971 in London stattfand.