Interview: Dirk Fellinghauer. Foto: Arne Landwehr.
BERUF
In diesem Sommer habt ihr zum fünften Mal das von dir initiierte „Nur Mut-Camp“ für 16- bis 22-Jährige veranstaltet – wie ist es entstanden, wofür ist es gut?
Als Zukunfts- und Transformationsforscher beschäftige ich mich mit der Frage: Was braucht es, damit sich Zukünfte verändern in Richtung einer nachhaltigeren Wirtschaft, Mobilität, Bildung, Stadtplanung? Irgendwann, gerade mit eigenen Kindern, kommst du an den Punkt, wo dir klar wird: Bildung ist der Schlüssel dazu, was junge Leute später für Menschen werden, wie sie die Probleme unserer Welt angehen können, wie mutig und kreativ sie sind, wie frei im Kopf. Unser Schulsystem passt nicht zu einer Welt voller Krisen, in der sich junge Leute fragen, wie finde ich meinen Platz in dieser Welt? Das große Thema ist: Wer bin ich? Was will ich? „Nur Mut“ hilft bei der Potenzialentfaltung.
„Wie“ kommen die jungen Leute zum Camp, und „wie“ gehen sie nach fünf gemeinsamen Tagen wieder?
„Nur Mut“ ist ein Angebot an alle 16- bis 22-Jährigen. Es ist völlig egal, von welcher Schule oder Schulform sie kommen, ob sie schon studieren, eine Ausbildung machen oder ein FSJ. Es soll auch inklusiv sein. Es gibt immer 15 Plätze, wer sich zuerst anmeldet, hat seinen Platz. Es kommen vor allem viele junge Menschen, die sagen, ich habe viele Fähigkeiten, aber weiß nicht so recht, wie ich sie nutzen kann, wie ich das priorisieren kann. Sie suchen Orientierung in einer Welt, die voller Chancen ist.
Und das „Nur Mut“-Camp gibt jungen Leuten diese Orientierung?
Oft geht es für sie gerade um den nächsten Schritt im Leben, um die Frage: Und jetzt? Unser Camp ist ein Impulsformat. Wir wollen nichts frontal beibringen, sondern sagen: Lasst euch inspirieren, trefft coole Leute, lernt nützliche Methoden und Herangehensweisen kennen. Viele sagen, sie haben über die fünf Tage zu sich gefunden, sind auf eine Idee gekommen, die sie weiterverfolgen wollen. Sie verlassen das Camp selbstbewusster. Und sie lernen, sich in ihrem Umfeld durchzusetzen – auch gegen „gute“ Ratschläge, was sie anzufangen hätten: Mach was „Gescheites“ mit deinem Leben, denke ans Geld verdienen … Wir regen dazu an, das alles mal auszublenden. Auch weg von dem Irrglauben, eine berufliche Entscheidung von heute sei eine Entscheidung fürs Leben. Unsere Botschaft ist: Bleib´ du selbst, du wirst nur glücklich, wenn du machst, was du auch willst. Es sind oft kleine Schritte, dass man sich als junger Mensch mehr traut als vorher, vielleicht auch einfach nur lauter spricht. Auch Eltern melden sich mit tollem Feedback.
Was läuft schief mit der Bildung bei uns?
Vor allem die Abgrenzung über Noten und die Verteilung in verschiedene Schulformen. Und die Bildung als reine Wissensvermittlung, das Auswendiglernen für ein Abfragen, um irgendwie durchzukommen. Der Lehrer bringt dir etwas bei, und wenn du es gut wiedergibst, bekommst du gute Noten. Es geht um das Reproduzieren anstatt selbst Ideen zu entwickeln. Was das Bildungswesen heute vermittelt, ist überholt, auch für den Arbeitsmarkt. Was gefragt ist – das ist auch die klare Aussage von Konzepten zu nachhaltiger Bildung etwa von WHO oder der UNESCO – ist Teamarbeit, kritisch denken, selbst Lösungen finden, Veränderung herbeiführen. Der Reformpädagoge Otto Herz hat dazu treffend gesagt: „Die Aufgabe der Schule ist es, das Gelingen zu organisieren, nicht das Misslingen zu dokumentieren.“
Wie tickt die „Generation Z“?
Was mich am meisten ärgert: Es herrscht ein völlig verzerrtes Bild von dieser Generation – sie würde nur am Handy rumhängen, nicht anpacken wollen und hätten auf nichts so richtig Lust. Ich erlebe eine Generation, die super informiert, kritisch reflektiert und extrem aufgeklärt ist über die Dinge und die sehr betroffen ist vom Zustand der Welt, speziell bezüglich des Klimawandels. Sie sind sehr interessiert daran, ihren Beitrag in der Welt leisten zu können. Ich sehe da viel Potenzial – all diese Ideen, das Wissen und die Reflektion der jungen Generation, das sollten wir als Gesellschaft viel mehr wertschätzen und nutzen.
MENSCH
„Neues entsteht durch Visionen, mutiges Handeln und der Bereitschaft, radikal aus alten Mustern auszubrechen“, sagst du auf deiner persönlichen Homepage. Wie radikal darf, oder muss, das Neue sein?
Transformation muss per Definition radikal sein. Zugrunde liegt das lateinische Wort „Radix“ – Probleme durch die Wurzel heraus angehen. Es geht darum, Systeme und den Status Quo nicht nur zu optimieren, sondern wirklich grundlegend zu verändern – also Schule und Bildung neu denken und nicht das Problem durch Smartboards oder iPads nur zu verstärken. Mit unserem Verein geht es uns nicht um irgendwelche gefälligen Projekte. Wer Missstände aufzeigt, tritt auch dem ein oder anderen auf die Füße.
Dein eigener Werdegang verlief auch nicht ganz gerade.
Ich komme aus der Pfalz. Nach dem Abi sind die meisten zum Studium nach Kaiserslautern, Mannheim oder nach Mainz. Da hatte ich keinen Bock drauf. Ich habe dann einen Bericht gelesen nach dem Motto: Schau mal, es gibt Städte im Osten Deutschlands mit tollen Universitäten, aber nicht so überlaufen und mit viel weniger Studenten. So habe ich in Ilmenau in Thüringen Medienwissenschaften studiert. Anschließend war ich fast elf Jahre lang bei einer Werbeagentur in Mainz, dort auch in der Geschäftsleitung, mit großen Etats und Marken. Das war eine coole Zeit. Aber als meine Kinder auf die Welt gekommen sind, habe ich mehr und mehr gefragt, was mache ich hier eigentlich? Ich habe mich selbstständig gemacht und gehe seither der Frage nach, wie kann Transformation gelingen. Daneben habe ich 2021 mit Mitstreiter:innen den „Verein zur Erforschung und Entwicklung radikal neu gedachter Zukünfte e.V.“ gegründet, mit dem wir neben „Nur Mut“ auch weitergehende Pläne haben.
Nach zehn Jahren in Festanstellung hast du 2011 den Ausstieg gewagt und Sicherheiten aufgegeben. Was hast du dafür bekommen?
Ich habe meine mentale Gesundheit zurückbekommen. Weg von krankmachendem Stress, ausufernden Arbeitszeiten, durchgemachten Wochenenden. Hin zu neuer Ausgeglichenheit, viel Zeit mit meinen Kindern. Der Sprung in die Selbstständigkeit war gar nicht so mutig. Durch meine zehn Jahre in der Agentur habe ich ein relativ großes Netzwerk an Kontakten aufgebaut. Ich habe den Luxus, mir aussuchen zu können, was ich mache. In einer komplexen Welt ist es vielleicht ein kleiner Beitrag, wenn ich nicht mehr für Unternehmen wie Nestlé oder Autokonzerne Werbung machen muss.
Was war die mutigste Entscheidung deines Lebens?
Ich bin kein mutiger Mensch. Ich mache nichts Verrücktes, kein Bungeejumping oder so. Die Dinge haben sich für mich immer ergeben. Was ich habe, ist ein großes Vertrauen, dass Dinge so kommen, wie sie kommen sollen. Es ist ein guter Weg, wenn man auf sein Herz hört. Mutig ist, was junge Leute tun, wenn sie sich auf Straßen festkleben und wenn Menschen wirklich ihre Komfortzone verlassen.
Wo verlässt dich der Mut?
Wenn ich Nachrichten schaue. Da sehe ich schon die Gefahr, dass wir in vielen Bereichen in eine problematische Richtung laufen und es nicht bemerken. Das macht es mir manchmal schwer, meinen Kindern die Welt zu erklären. Wir müssen irgendwie sicherstellen, dass die nächste Generation nicht komplett der Mut verlässt. Jeder kann einen Unterschied machen und die Welt mitgestalten, auch wenn es aktuell schwer zu erkennen ist.
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Das Nur Mut-Camp findet, unterstützt von sensor als Medienpartner, zweimal jährlich kostenfrei für Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 22 statt. Die nächsten Termine sind: 08.04.-12.04.2024 und 15.-19.07.2024. Anmeldungen sind bereits möglich: https://nurmut.online/
Weiterlese-Tipp: „Was will ich wirklich vom Leben? ´Nur Mut´-Camp bringt junge Leute auf Ideen“