Auf das Kleingedruckte kommt es an, liebe sensor-Leserinnen und –Leser,
aber darauf komme ich gleich nochmal zurück. Es geht um die aktuelle Kampagne unserer Stadt zur Luftreinhaltung, zur Reduzierung der Stickoxid-Werte, zum Abwenden eines Diesel-Fahrverbots. Ein paar knallgelbe Plakate mit markanten Motiven aufgehängt, das Ganze nochmal in Kleinformat per Postkarten verteilt und für die besonders Aufnahmefähigen umfangreiche Broschüren dazu, und fertig ist der „frische Wind für Wiesbaden“? Nein, so einfach ist das natürlich bei weitem nicht.
So einfach ist es ganz bestimmt nicht, wenn es um die Lösung eines Problems geht, das uns allen Gesundheit, Lebensqualität, Lebensfreude und vielleicht sogar unser (Diesel-)Auto raubt. Ist die breit angelegte Kampagne mit Plakaten, Postkarten, Broschüren also für die Katz´? Das ganz sicher auch nicht. Zumindest dann nicht, wenn sie als das verstanden wird, was sie sein kann: ein flankierender Mosaikstein auf dem Weg zu wirklichen, grundlegenden, im wahrsten Sinne des Wortes durchgreifenden Veränderungen.
Damit komme ich, wie versprochen, zurück zum Kleingedruckten. In der Kampagnenbroschüre zitiert Umwelt- und Verkehrsdezernent Andreas Kowol jenseits der knackigen Headlines den Städteplaner Mikael Colville-Andersen.
Der weltweit gefragte Experte für urbane Mobilität war in diesem Jahr als Keynote-Sprecher bei der „see conference“ in Wiesbaden zu Gast – seinen im ausverkauften Schlachthof gehaltenen Vortrag können Sie hier nochmal komplett anschauen und -hören. Ich war vor Ort und kann Ihnen versprechen: Es lohnt sich.
In seiner Wahlheimatstadt Kopenhagen hat er der eloquente Designer und Mobilitätsexperte beigetragen, dass über 60% des täglichen Berufsverkehrs mit dem Rad zurückgelegt werden. Die umgesetzten Ideen werden inzwischen weltweit exportiert, adaptiert, evaluiert – schauen Sie mal nach auf „Copenhagenize“.
Zeitmaschine Wiesbaden – zurück in die Fünfziger …
Sein klares Statement: „Es geht um die Infrastruktur – don´t talk – do it!“ Und damit schießt er den Ball volley zu den Verantwortlichen der Stadt – hier in Wiesbaden zu den Verantwortlichen einer Stadt, in der Colville-Andersen sich in Sachen Radfahr-Bedingungen „wie mit einer Zeitmaschine in die 50er Jahre zurückgeworfen“ wähnte: „Solche Städte sieht man nicht mehr so oft“, lautete sein vernichtendes Verdikt.
Ein drohendes Diesel-Fahrverbot – die Gerichtsentscheidung für Wiesbaden steht Mitte Dezember an – mag der Auslöser für eine solche Kampagne, für ein Bündel an Maßnahmen sein. Es sollte aber längst nicht der einzige Grund dafür sein. Sondern unsere Gesundheit, unsere Lebensqualität, unsere Lebensfreude, unser „Wiesbaden-Gefühl“. Diese sind in Gefahr, diese stehen auf dem Spiel.
Vorbild für nachhaltige Stadtentwicklung
Allen Politikern, allen Planern, allen Skeptikern und Zauderern – aber natürlich auch allen Veränderungssehnsüchtigen – empfehle ich die Lektüre des Buches „Von New York lernen“. Dieses beschreibt sehr kompakt, anschaulich und ansteckend die Anstrengungen des Millionenmolochs – nicht nur seitens der Stadt, sondern auch mit bürgerschaftlichem Engagement – auf dem Weg zum Vorbild einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Für 7,95 Euro bekommen Sie hier Ideen ohne Ende geliefert, die auch Wiesbaden wohltuend verändern könnten. „Aber Wiesbaden ist doch nicht New York!“, höre ich Sie sagen. „Na und!?“, sage ich – und die Autorin Susanne Lehmann-Reupert gibt Ihnen am Ende eines jeden Kapitels zu jedem Thema konkrete Antworten auf die Frage: „Aber wie können wir denn von New York City lernen, wenn wir nicht New York City sind?“
Keine Ausreden mehr, nur noch Ansatzpunkte
Für ein Umsteuern und Umdenken – konsequent, vielleicht auch radikal – gibt es keine Ausreden mehr, sondern eigentlich nur noch Ansatzpunkte. Was mir Hoffnung macht: Ganz vieles entsteht, wächst, brodelt auch schon in Wiesbaden. Neue Ideen – auch von außen – bekommen spürbar mehr Raum und stoßen auf Resonanz, „frischer Wind“ ist durchaus verstärkt zu spüren. Was mir Sorge macht: Viel zu vieles davon wird immer noch ignoriert, blockiert und torpediert. Sollten wir das hinnehmen? Ich finde nicht.
Dirk Fellinghauer, sensor-Windmacher