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Ein Satz mit Herrn X: Bei der Volkshochschule lernen Erwachsene lesen und schreiben

Von Holger Carstensen. Fotos Samira Schulz.

Herr X., 55 Jahre alt, hat bisher in seinem Leben immer alles im Kopf gehabt, nie etwas aufgeschrieben. Er möchte anonym bleiben. Zweimal die Woche kommt er hierher, und das weiß keiner in seinem Umfeld. Zwar hat auch Herr Y. (49) um Anonymität gebeten. Seine Familie und Kollegen wissen aber, was er hier zusammen mit Herrn X. macht. Aber es muss ja nicht jeder wissen. Wir sitzen im Grundbildungszentrum der Volkshochschule. Herr X. und Herr Y. lernen hier lesen und schreiben.

Sie gehören zu den 7,5 Millionen Erwerbsfähigen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren, die das nicht richtig können. Das fand 2011 die sogenannte LEO-Studie heraus. „Betroffene erkennen zwar einzelne Buchstaben und Wörter, scheitern aber an Sätzen und Text“, erklärt Martin-Rüdiger Noack. Noack, seit März 2016 Projektleiter des Grundbildungszentrums, strahlt eine besondere Energie aus. Wenn er das Ziel seiner Alphabetisierungsarbeit erklärt (nämlich Teilhabe an der Gesellschaft durch Bildung), wirkt das nicht nur kompetent, sondern auch herzlich: „Da verzahnt sich Bildung mit Sozialem, und da finde ich mich wieder!“ Das glaubt man ihm. Gern.

Mit kleinen Tricks dem Stigma trotzen

Die Stimmung hier ist gut. Erwähnenswert? Schon. Herr X. und Herr Y. bestehen nicht umsonst auf Anonymität. Wer als Erwachsener nicht lesen und schreiben kann, wird oft stigmatisiert. Als dumm zum Beispiel. Oder faul. In jedem Fall: selbst schuld. Ergo verstecken sich die Betroffenen. Kleine Tricks helfen. „Können Sie mal vorlesen, ich hab meine Brille vergessen“, sagt Herr X. zu einer Dame im Supermarkt. Der Hindernislauf im Alltag, die Angst vorm sozialen Abseits, davor, entdeckt zu werden: das ist kein Spaß. Lebensgeschichten, die im Verborgenen spielen. Die Betroffenen zu erreichen, macht das nicht einfacher. „Wir  versuchen vor allem, Multiplikatoren für das Problem zu sensibilisieren“, sagt Noack. Familie, Kollegen, Fallbearbeiter und andere in der Beratung tätige Personen werden über das VHS-Angebot informiert. Sie sollen wissen und weitersagen: in der VHS bekommen die Betroffenen Hilfe.

Botschaft der Kursleiterin: Es ist nicht zu spät

Zum Beispiel von Frau Schröder, die hier einen der Grundbildungs-Kurse leitet. Die Kursziele seien sehr individuell. Sie habe ihr Konzept, gehe aber auf jeden ein. Ihr sei es wichtig den Teilnehmern zu vermitteln: „es ist nicht zu spät. Du kannst noch was lernen!“ Hilfsbereitschaft und Vertrauen machten den Umgang hier aus, bestätigen Herr X. und Y. Dazu kommen die Erfolgserlebnisse. „Ich fühle mich sicherer. Wenn ich etwas lese, verstehe ich es jetzt. Das macht mich stark, gibt mir Selbstbewusstsein“, sagt Y. Und es bringe ihm den Respekt seiner Kinder ein. „Unbezahlbar!“, lacht er. Herr X. ergänzt: „Hier ist es Bombe. Ne kleine Truppe. Frau Schröder erklärt alles gut, ist geduldig. Ich mache Fortschritte. Das motiviert.“ Er liest jetzt schon Kinderbücher.

Sein erster selbstgeschriebener Satz hängt auf einem Blatt Papier an der Wand in Rüdiger Noacks Büro. 7,5 Millionen Menschen. Wie kommt es zu dieser enormen Zahl in einem Land wie Deutschland, das abonniert ist auf vordere Plätze in OECD- und UN – Studien zu Bildung und Entwicklung? Pauschal-Antworten oder Schuldzuweisungen ans Schulsystem verweigert Noack. Ja, es gebe institutionelles Versagen, denn 7,5 Millionen Einzelfälle – das wäre ein Widerspruch in sich. Für wichtiger hält er jedoch den epochalen gesellschaftlichen Wandel, den die Digitalisierung bedeute: „Früher reichte es wenn du anpacken konntest. Heute musst du dokumentieren, was du angepackt hast.“ Es sei eine gesellschaftliche Aufgabe, diejenigen nicht zu verlieren für die dieser Wandel ein Problem ist. Niedrigschwellige und kostenfreie Hilfs- und Förderangebote nahe an der Lebenswelt der Betroffenen gehören für ihn dazu. „Unsere Hilfe muss alltagstauglich sein. Wenn ein Teilnehmer zu mir kommt und sagt: Ich kann jetzt meiner Freundin eine Whatsapp schreiben! – dann ist das konkrete Teilhabe.“ Er lacht und blickt auf den ersten Satz von Herrn X. an der Wand: eine Erfolgsgeschichte.