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Eine Antwort schuldig geblieben – Wiesbaden, Erdoğans Zeigefinger und die Biennale

Von Malte Albrecht. Foto Dirk Fellinghauer.
Das Drama – oder die Tragödie? – um die Installation einer goldfarben besprühten – nicht goldenen – Statue des türkischen Präsidenten mitten in Wiesbaden war vielleicht das mutigste und klügste Projekt der diesjährigen „Wiesbaden Biennale“. Denn sie hat eines gezeigt: Es gibt sie noch, die politische Provokation, das demokratische Lebenselixier. Das Politische kehrt zu seinem eigenen Grundsatz zurück: dem Streit. Die Biennale hat dabei auch gezeigt, was passiert, wenn Politik im Angesicht demokratischer Praxis erstarrt und ihren Mut verliert. Denn es ist die Aufgabe von Politik, mutig Räume zu schaffen für öffentlichen Streit unter demokratischen Vorzeichen.

Es wird viel geschimpft in diesen Tagen, geschrien, auf Menschen gezeigt, mit Messern eingestochen, mit Fäusten, Ketten eingeschlagen. Die Szenen sind Ausdruck tief liegender Widersprüche unserer Gesellschaft, die einer drängenden Klärung bedürfen. Doch wer hätte das gedacht? Am Fuße einer zur moralischen Pose des erhobenen Zeigefingers erstarrten Statue eines blutigen, geliebten und verhassten Herrschers; an diesem seltsamen, surrealen Ort ließen sich vernunftgeleitete, emphatische Gespräche und erhitzte Gemüter verfolgen. Nicht Politiker, keine Akademiker, keine sogenannten Leistungsträger ließen sich bewegen, an diesem Ort des Widerspruchs das Wort zu ergreifen. Arrogante Floskeln über Twitter mussten reichen.
„Was meinen Sie dazu?“ war die am häufigsten gestellte Frage
Es waren Jugendliche, Halbstarke, die ohne Scheu, offen und dennoch sicheren Standpunktes aufeinander zugingen. Es war der Moment, in dem die Urbanität ihre Wirkung entfaltete: Im Schutze der Anonymität wurde der Fremde Kraft des Verstandes durch Vertrauensvorschuss als Freund behandelt. Argumente wurden ausgetauscht, das Recht auf eigene Meinung ebenso betont, wie die Pflicht, andere Meinungen zu tolerieren. Hier wurden demokratische Lernprozesse in Gang gesetzt. Die Diskussion blieb nie auf einen festen Personen-Kreis begrenzt. „Was meinen Sie dazu?“ war die am häufigsten gestellte Frage. Eine Einladung zum Eintritt in das Gespräch, ohne Tabu. Auf manche Gewaltandrohung erhob sich eine Stimme, die die Rückkehr zum vernünftigen Gespräch anmahnte.
Interesse, Offenheit, auch Hass und Dissens – also reale Demokratie
Es gab hier kein Paradies der Demokratie. Es gab Interesse, Offenheit, aber auch Hass und Dissens, manches Mal mit Tendenz zur Gewalt. Es war reale Demokratie. Die Decke unserer Zivilisation ist dünn, das wissen wir alle. Und es war mutig von der Stadt, dieser Entwicklung den verdienten Raum zu geben. Was sich danach zeigte, war unter dem Brennglas dargebotenes Lehrstück einer Entwicklung, die sich seit einiger Zeit in Deutschland zeigt: Auftritt von geschlossenen Gruppen, inhaltsoffene Parolen, Ende der Gespräche. Die Polizei wusste wieder, was zu tun war: Sicherheit und Ordnung wahren.
Das desaströse Mantra unserer Zeit: Konsens statt Dissens
Dass der Oberbürgermeister der Empfehlung der Polizei folgte, Dissens durch Sicherheit ersetzte, war die denkbar unpolitischste Reaktion. Der leichte Weg. Auf politischen Mut zur Diskussion und das Bekenntnis zur Freiheit der Kunst folgte der politische Kniefall Sven Gerichs unter das Mantra unserer Zeit: Konsens statt Dissens, denn es gibt keine Alternative. Die Freiheit der Kunst währte ganze 36 Stunden. Diese Kehrtwende war desaströs. Erinnert sie doch an die Zeit, als Menschenrechte nicht nach Gesetz, sondern nach Königs Gnaden gewährt und verwehrt wurden. Und doch hatte der OB auch Recht: Denn es ist unsere Aufgabe, Bedürfnisse und politische Forderungen zu entwickeln. Es ist die seine gewesen, der Einladung durch die Biennale zu folgen und Diskussionen zu ermöglichen. Schließlich sind viele kompetente Moderatoren, Streitschlichter und Sozialarbeiter bei der Stadt beschäftigt.
… lernen, in die Augen derjenigen zu blicken, die wir ansprechen
Es ist noch nicht vorbei. Die Biennale klingt nach. Und auch die Themen bestehen fort. Gründe gibt es genug, das wir miteinander sprechen, ohne schützenden Bildschirm, vor Ort. Dass wir lernen, in die Augen derjenigen zu blicken, die wir ansprechen. Es war eine großartige Idee der Biennalisten, Erdoğans Figur zu einem politischen Willensbildungprozess einladen zu lassen. Einem Prozess, der ihm in etwa so fern sein dürfte wie die geographische Distanz zwischen Ankara und seinem Ebenbild. Ein Bildnis des Staatspräsidenten anzufertigen, ist in der Türkei selbst untersagt. Doch auch in Deutschland scheint es unerträglich.
Die Fragen, die die Statue uns mitgibt
Zwei Fragen hat die Statue uns auf den Weg gegeben: Wie wollen wir leben in Wiesbaden? Und was hat das mit Erdoğan zu tun? Wir alle erleben Diskriminierung und Unterdrückung im Alltag: Wir merken, dass unserer Person und unserem Leben nur ein Wert beigemessen wird, wenn wir aus der Sicht einer Verwertungslogik nützlich sind. Sei es, weil wir Arbeit haben und den Reichtum der Wenigen mehren; sei es, weil wir keine Erwerbsarbeit haben und dafür abgewertet werden; sei es, weil uns andere Menschen im Alltag ein Aussehen, eine Identität zuschreiben und uns dafür verachten.
Warum also die Idee der Statue nicht weiter denken? Etwa durch eine Lichtinstallation und einen Pavillon ersetzen: Erdoğan und Rojava, Chemnitz und Berlin, Fahrrad und Auto. Ein selbstverwaltetes Diskussionszentrum in und über Wiesbaden und die Welt. Es scheint, als sei es an uns, einen eigenen politischen Willen im Austausch miteinander zu entwickeln und zu artikulieren. Bisher sind die Wiesbadener der Biennale den zweiten Teil einer Antwort schuldig geblieben. Lasst uns nicht vergessen.
Im Nachgang zur Wiesbaden Biennale und zur umstrittenen Kunstaktion rund um die “Erdogan-Statue” auf dem Platz der deutschen Einheit veröffentlichen wir in loser Folge Debattenbeiträge.
Malte Albrecht, geboren 1987 in Wiesbaden, ist Politikwissenschaftler und Promotions-Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. Im Rahmen seiner Dissertation forscht er an der Universität Marburg über die gesellschaftlichen Ursachen von Rechtspopulismus. Er ist Vorsitzender des Vereins NatWiss e.V. (http://natwiss.de), engagiert sich in der Kampagne „Abrüsten statt Aufrüsten“ (https://abruesten.jetzt) und berichtet gelegentlich als freier Reporter aus Wiesbaden für Wiesbaden.

1 response to “Eine Antwort schuldig geblieben – Wiesbaden, Erdoğans Zeigefinger und die Biennale

  1. Das Thema Kunstfreiheit ist eine sensible Angelegenheit, zumal eigentlich jedem klar sein müsste, dass Freiheit an sich kein endlos dehnbarer Begriff sein kann.
    Selbst als „Bad News“ verkauft, war diese Aktion in meinen Augen noch zweifelhaft. Wer will schon über Monate hinweg so offensichtlich mit schlechten Nachrichten konfrontiert werden. Hätte man von vornherein mit offenen Karten gespielt, wäre sicherlich eine Kompromisslösung zustande gekommen und der Vorwurf der Zensur würde nicht wieder im Raum stehen. Dieser Begriff wird m. E. sowieso überstrapaziert. Heißt es nicht, die eigenen Rechte enden dort, wo sie die Rechte anderer berühren und sollte das nicht auch bei Künstlern gelten? In diesem speziellen Fall meine ich im Hinblick auf die nicht wenigen Menschen, die sich angesichts des umstrittenen Kunstwerks unterdrückt, gedemütigt oder beleidigt fühlten. Wie steht es mit der Würde des Menschen und dem Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit? Ist dieses Recht etwa nachrangig zu sehen gegenüber dem Recht auf Kunstfreiheit?
    Einen zeitnahen Kommentar zum Geschehen hatte ich übrigens bereits auf der folgenden Seite abgegeben:
    https://wiesbaden-lebt.de/ein-tag-erdogan-ist-schon-zu-viel#comment-5693

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