Von Dirk Fellinghauer. Foto Sven-Helge Czichy, Dirk Fellinghauer, Tim Dechent.
„Großveranstaltungen bleiben bis mindestens 31. August verboten.“ Eine der Entscheidungen, die Bund und Länder gestern wie berichtet getroffen haben. Aber wie groß ist „groß“? Das fragen sich seither potenzielle Besucher*innen von geplanten Veranstaltungen, aber natürlich auch zahlreiche Veranstalter, die unsicher sind, ob eine Durchführung ihrer Veranstaltungen noch möglich sein könnte. Neben Festveranstaltern – Wiesbadener Lieblingsfeste wie Rheingauer Weinwoche und Theatrium sind bereits „gestorben“ – lauern vor allem Kulturinstitutionen auf Details. Heute nun hat dazu, und zu weiteren Punkten wie insbesondere Regelungen für Schulen und Kitas, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier Stellung bezogen.
Eine Entscheidung darüber, welche Veranstaltungen als Großveranstaltungen gelten und damit definitiv bis 31. August verboten bleiben, stellte Bouffier erst für den 22. April in Aussicht. „Wir diskutieren darüber. Ich hoffe, dass wir bis kommenden Mittwoch zu einem Ergebnis kommen“, sagte der hessische Landeschef. Man schaue auch danach, wie andere Bundesländer verfahren.
Staatstheater sagt Vorstellungen vorerst nur bis 19. Mai ab
Beim Staatstheater Wiesbaden hofft man jedenfalls, dass die Aufführungen des Hauses nicht als Großveranstaltung gelten. „Corona-Virus: Vorstellungsbetrieb bleibt bis einschließlich 19. Mai 2020 eingestellt“, ist eine heute Nachmittag wenige Munde nach Beendigung der Bouffier-Pressekonferenz versandte Pressemitteilung überschrieben. In der Mitteilung heißt es: „Im Rahmen der Maßnahmen zur Eindämmung der Infektion mit dem Corona-Virus bleibt der Vorstellungsbetrieb des Hessischen Staatstheaters Wiesbadens weiterhin unterbrochen. Hiermit werden alle Vorstellungen bis einschließlich 19. Mai 2020 abgesagt.“ Für die Zeit danach gibt die Theaterleitung offenbar die Hoffnung noch nicht auf. Offiziell läuft die aktuelle Spielzeit noch bis 5. Juli. Die Maifestspiele waren bereits auf Anordnung der Landeshauptstadt Wiesbaden abgesagt worden.
Noch keine endgültigen Informationen gibt es zum Rheingau Musik Festival, das vom 20. Juni bis 5. September mit über 150 Konzerten unterschiedlichster Größenordnungen, drinnen und draußen, an verschiedensten Orten geplant war. „Wir warten noch auf die genauen Details und werden Sie dann umgehend über die Auswirkungen auf die Veranstaltungen des Rheingau Musik Festivals informieren“, heißt es auf der Homepage.
Die Hoffnung noch nicht aufgeben wollen die Indie-Open-Air-Festivals Heimspiel Knyphausen (24. bis 26. Juli) und Golden Leaves Festival (29./30. August, Foto). „Gegenwärtig halten wir mit den zuständigen Behörden bezüglich detaillierter Angaben Rücksprache und werden Euch selbstverständlich sobald als möglich informieren, wie die nächsten Schritte aussehen“, war heute beim Heimspiel Knyphausen zu lesen.“Klar ist , dass wir uns in Zeiten, in denen 2 schon eine Party ist, Gedanken machen“, schreibt Golden Leaves: „In den letzten Wochen haben wir daher auch schon die Zeit genutzt, um verschiedene Ideen auszuarbeiten und einen Plan zu entwickeln für den Fall der Fälle. Solange jedoch noch keine genauen Vorgaben der Landesregierung vorliegen, gehen wir erstmal davon aus, dass das Golden Leaves weiterhin wie geplant stattfindet.“
Schulen starten schrittweise, Kitas bis auf Weiteres zu
Die Hessische Landesregierung hatte sich gestern Abend nach der Videokonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder beraten und das weitere Vorgehen in der Corona-Krise festgelegt. Insbesondere zur Frage, zu welchem Zeitpunkt die Schule mit welchen Klassen wieder beginnen wird, informierten der Ministerpräsident Bouffier und der Kultusminister Alexander Lorz heute in Wiesbaden. „Wir sind uns sehr bewusst: Jede Lockerung, jede Schulklasse, die wir wieder zulassen, führt zu einem erhöhten Infektionsrisiko. Gleichzeitig wollen wir unseren Schülerinnen und Schülern aber so viel Bildung wie möglich anbieten“, sagte der Kultusminister.
Folgende Punkte wurden speziell für Hessen vereinbart:
- Der Schulunterricht startet in Hessen schrittweise ab dem 27. April für rund 230.000 Schülerinnen und Schüler. Begonnen wird mit den Abschlussklassen von Haupt-, Real- und Berufsschulen sowie den vierten Klassen der Grundschulen. Auch für die 12. Klassen fängt die Schule am 27. April wieder an, die Abiturientinnen und Abiturienten müssen nur noch zur mündlichen Prüfung erscheinen. Um die Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln zu gewährleisten, werden die Klassen auf eine maximale Größe von 15 Schülerinnen und Schülern verkleinert. Die zentralen Haupt- und Realschulprüfungen finden nun vom 25. – 29. Mai statt.
- Kindertagesstätten bleiben weiterhin geschlossen. Die Hessische Landesregierung hat jedoch beschlossen, die Notbetreuung weiter auszubauen. Einen Anspruch auf Kinderbetreuung erhalten ab dem 20. April auch alleinerziehende Berufstätige, egal welchen Beruf sie ausüben.
Alle weiteren Maßnahmen und Beschränkungen für Hessen richten sich nach dem Beschluss von Bund und Ländern.
- Das bisherige Kontaktverbot bleibt bis zum 3. Mai 2020 bestehen. Das bedeutet, auch weiterhin dürfen sich Personen maximal zu zweit oder nur mit Personen des eigenen Hausstands in der Öffentlichkeit aufhalten. Der Mindestabstand von 1,5 Metern muss eingehalten werden. Verstöße gegen diese Beschränkungen werden entsprechend von den Behörden geahndet.
- Erste Lockerungen der Beschränkungen gibt es im Einzelhandel: Geschäfte mit einer Verkaufsfläche bis zu 800 Quadratmetern dürfen ab kommende Woche wieder öffnen. Auf die Frage, ob größere Geschäfte eine entsprechende Fläche abtrennen könnten, antwortete Bouffier heute: „Ich rate, hier nicht zu tricksen“, und verwies vor allem auf Aspekte des Buarechts. Dabei müssen strenge Schutzkonzepte mit Abstands- und Hygieneregeln eingehalten sowie Warteschlangen vermieden werden. Als Richtwert gilt, dass sich eine Person auf einer Fläche von 20 Quadratmetern aufhalten darf. Unabhängig von ihrer Größe können Kfz- und Fahrradhändler, Buchhandlungen, Bibliotheken und Archive ab dem 20. April öffnen.
- Restaurants und Gaststätten bleiben weiterhin geschlossen. Für diese Betriebe sind wie bisher nur Bestellungen zum Mitnehmen und Lieferungen möglich.
- Neu ist, dass ab Montag auch Eisdielen ausliefern dürfen. Bislang waren sie davon ausgenommen.
- Friseure dürfen ihre Läden ab dem 4. Mai öffnen. Auch für sie gelten Hygiene- und Schutzmaßnahmen.
- Die Hessische Landesregierung empfiehlt, dass die Menschen beispielsweise im öffentlichen Nahverkehr oder beim Einkaufen Alltagsmasken tragen, um die Ausbreitung des Corona-Virus weiter zu verlangsamen. Eine Maskenpflicht wird nicht eingeführt.
- Um zukünftig Infektionsketten schnell zu erkennen, zielgerichtete Testungen durchzuführen, eine vollständige Kontaktnachverfolgung zu gewährleisten und die Betroffenen professionell zu betreuen, werden in den öffentlichen Gesundheitsdiensten vor Ort erhebliche zusätzliche Personalkapazitäten geschaffen. Mindestens ein Team von 5 Personen pro 20.000 Einwohner soll zur Verfügung stehen. In besonders betroffenen Gebieten sollen zusätzliche Teams der Länder eingesetzt werden. Auch die Bundeswehr wird mit geschultem Personal solche Regionen bei der Kontaktnachverfolgung und -betreuung unterstützen. Das Ziel ist es, alle Infektionsketten nachzuvollziehen und möglichst schnell zu unterbrechen. Um das Meldewesen der Fallzahlen zu optimieren und die Zusammenarbeit der Gesundheitsdienste mit dem RKI bei der Kontaktnachverfolgung zu verbessern, führt das Bundesverwaltungsamt Online- Schulungen durch.
OB Mende sieht richtige Richtung und große Herausforderungen
Wiesbadens OB Gert-Uwe Mende meldete sich am Mittwochabend mit einer „ersten Einschätzung“ zu den Beschlüssen und Maßnahmen und meinte: „Sie gehen grundsätzlich in die richtige Richtung.“ Er stellte aber auch fest: „Die angekündigten Lockerungen gehen mit Vorgaben einher, die sich in der Realität erst einmal bewähren müssen. Wie zum Beispiel das Entstehen von Warteschlangen vor Geschäften vermieden werden soll, erschließt sich mir noch nicht. (Nebenbei: Wie viele Personen sind denn eine Warteschlange?). Mende lobtet die Ankündigung des Bundes, sich noch stärker um die Beschaffung von Schutzmaterial, die Ausweitung von Testkapazitäten und die Impfforschung zu kümmern. Zu den Fragen der Schulen blieben die Beschlüsse sehr vage. „Da werden die Kultusminister noch viel arbeiten müssen, um praktikable Lösungen zu finden.“ Zum Thema Öffnung von Schulen hat der Wiesbadener Verwaltungsstab heute beschlossen, eine Arbeitsgruppe Schule, zu der auch ein Vertreterinnen und Vertreter des staatlichen Schulamts hinzugeladen werden soll, einzurichten, die sich ab sofort der Thematik Hygieneplan und Schulbusbetrieb intensiv widmet, um vorbereitet zu sein.
Die Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes zur Kontaktnachverfolgung Infizierter sei mit konkreten Zahlen versehen und würde allein für Wiesbaden 75 zusätzliche Mitarbeitende bedeuten: „Das wird uns vor große Herausforderungen stellen“, so Mende.
Ein anderes akutes Thema: Am Montag beginnt für Muslime der Fastenmonat Ramadan. Hier stehe Wiesbaden in intensivem Austausch mit den muslimischen Gemeinden, da auch Zusammenkünfte von Glaubensgemeinschaften weiterhin nicht stattfinden sollen.
Hessische Wirtschaft lobt ermutigende Zeichen und kritisiert Wettbewerbsverzerrungen
Als „ein ermutigendes Zeichen für Hessens Wirtschaft“ bewertete Eberhard Flammer, Präsident des Hessischen Industrie- und Handelskammertages, die „Corona-Lockerungen“, äußerte sich aber auch kritisch: „Mit der nun angestoßenen Öffnung von Teilen des Einzelhandels in der kommenden Woche beginnt auch die schrittweise Wiederbelebung der hessischen Innenstädte. Die konkreten Vorgaben zur Öffnung nach Verkaufsflächen und einzelnen Branchen können wir allerdings nur schwer nachvollziehen. Sie führen zu Abgrenzungsproblemen, Rechtsunsicherheit und unnötigen Wettbewerbsverzerrungen.“ Die hessische Wirtschaft wünsche sich von der Politik „eine diskriminierungsfreie Öffnung des gesamten stationären Einzelhandels“.
Corona-Infektionen in Hessen
In Hessen haben sich bis heute (16.04., Stand: 14.00 Uhr) nach Angaben des Sozialministeriums 6590 Menschen nachweislich mit dem Erreger Sars-CoV-2 angesteckt. Die Zahl der Todesfälle stieg auf 192, in Wiesbaden forderte das Virus bisher 9 Todesopfer. Die Kapazität freier Betten in den Klinken beträgt laut Sozialminister Kai Klose 11.418 Betten. Die Basisreproduktionszahl R0 ist hilfreich, um die mögliche weitere Ausbreitung einer Epidemie einzuschätzen. Diese Maßzahl gibt an, wie viele weitere Menschen im Schnitt von einer einzelnen infizierten Person angesteckt werden. In Hessen liegt diese Zahl aktuell schätzungsweise bei 1,1.