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Alter Hut, neu entdeckt: Heimat wird hip – Erkundungen in Wiesbaden

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Von Alexander Pfeiffer. Fotos Samira Schulz.

„Der Heimatbegriff ist entstanden in einer Phase der Verunsicherung im 19. Jahrhundert“, erklärt Thomas Weichel. Der Leiter der Rathaus-Stabstelle „Wiesbadener Identität – Engagement – Bürgerbeteiligung“ arbeitet sich beruflich daran ab. „Da gab es die Landflucht infolge der Industrialisierung: Menschen verließen die Scholle, um Arbeit in der Stadt zu finden. Nun erleben wir Umbrüche durch Globalisierung, Migration, Flucht. Das wirft Fragen auf: Was hat Bestand? Wo finde ich Identität? Heimat ist nicht mehr selbstverständlich.“ Seit 2015 beschäftigt man sich in der Verwaltung damit. Und versucht, Antworten zu liefern, die es leicht machen, hier heimisch zu sein. „Wir können niemandem Identität befehlen. Aber je mehr ich über einen Ort weiß, desto verbundener bin ich“, sagt Weichel: „Mit Vertrautheit beginnt Heimat. Uns ist der Begriff wichtig, weil er emotional positiv besetzt ist. Wir wollen ihn nicht den rechten Demagogen überlassen.“

Heimat macht Schule

Welchen empirischen Realitäten sich Weichel stellt, zeigt die Statistik: Nur etwa zwanzig Prozent der Wiesbadener Bürger ab 40 Jahren wurden hier geboren. Das heißt: Achtzig Prozent sind Zugezogene. „Die Eltern der meisten Kinder, die hier aufwachsen, sind keine Wiesbadener“, gibt Weichel zu bedenken: „Es gibt einen geringen Wissenstransfer über die Stadt in Familien.“ Darum setzt das erste Projekt bei Schülern an: „Heimatschule“ heißt das Online-Portal, zu dessen Entwicklung im Juni ein Workshop mit Lehrern und Heimatvereinen stattfand. Von „Heimat als Sehnsuchtsort“ sprach OB Sven Gerich da, vom „Drang nach Selbstvergewisserung“ und davon, dass die vielen WEICHEL_01Flüchtlinge uns vor Augen führen, wie sich die Städte verändern. Er formulierte als zentrale Frage: „Wie wollen wir leben?“

Das Portal soll Wissen über die Stadt sammeln und gebündelt zur Verfügung stellen. Erster Adressat sind die Grundschulen, acht Ehrenamtliche realisieren die Umsetzung. Bis zum Herbst werden modellhaft erste Inhalte erarbeitet und hochgeladen sowie eine umfassende Themenliste für das Online-Portal erstellt. Im November wird dann ein zweiter Workshop das weitere Vorgehen beratschlagen.

Fast ironisch mutet es an, dass der Mann, der all dies beaufsichtigt, in Mainz geboren wurde – und wieder dort wohnt. „Ich bin ein schlechter Mainzer“, beschwichtigt Weichel. „Ich habe dort keine sozialen Bezüge.“ Dass in Wiesbaden die „Identifikationsmaschinen“ fehlen, wird für ihn aber am Mainzer Beispiel deutlich. Dort dienen Fußball, Fastnacht und Katholizismus der Verbrüderung in Feldern, wo hier Lücken klaffen. Und: „ Wiesbaden war immer Gaststadt. Das drückt sich auch in den weiten Straßen aus. Nichts ist hier auf den ersten Blick heimelig.“

Grabe, wo du stehst

WEICHEL_14_xEine Straßenecke von Weichels Büro entfernt residiert Bernd Blisch. Dem kommissarischen Direktor des Stadtmuseums fällt zum Begriff „Heimat“ ein Phänomen aus seiner Verwandtschaft ein: „Ein Teil meiner Familie sind ‚Heimatvertriebene‘. Für die war das Sudentenland Heimat – obwohl sie 70 Jahre woanders gelebt haben.“ Dieser nostalgisch-verklärenden Sichtweise aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg setzten Historiker ab den 80ern ein Motto entgegen, dem sich Blisch verbunden fühlt: „Grabe, wo du stehst.“ Auseinandersetzung mit der Vergangenheit findet für ihn dort statt, wo er lebt: „Mich interessiert, wie es vor Ort geschehen konnte, dass Leute ausgegrenzt wurden. Hat da der Nachbar nicht mit dem Nachbarn gesprochen?“ Blisch wurde in Flörsheim im Main-Taunus-Kreis geboren und lebt dort bis heute. Heimat, das sind für ihn die Menschen, mit denen er sie teilt: „Ich fühle mich im Rhein-Main-Gebiet zuhause. Nicht, weil mir der Landstrich über alles geht, sondern weil ich hier Leute habe, von denen ich weiß, dass ich ihnen wichtig bin.“ Eine innere Bindung zu Wiesbaden aufzubauen hat aber gedauert, gesteht er. „Die soziologische Durchmischung ist hier nicht so gegeben. Vielleicht, weil städtebaulich im Krieg viel heil geblieben ist: Es geht um Viertel und die Verbundenheit damit: Westend, Bierstadter Hang, was auch immer – das steht alles nebeneinander.“

WALKM+£HLE_15Auch das Stadtmuseum selbst war lange Zeit auf der Suche nach einer geeigneten Heimstätte. Nach diversen Provisorien und Rückschlägen sieht es nun so aus, dass am 11. September endlich alle Wiesbadener die neuen Räume des „SAM“ (Stadtmuseum am Markt) im Marktkeller in Augenschein nehmen dürfen. „Man merkt, dass Wiesbaden so etwas lange nicht gehabt hat“, sagt Bermd Blisch. „Einen Ort, an dem man über die eigene Stadt nachdenkt. Nicht nur mit Blick auf die Vergangenheit, sondern auch in Bezug auf aktuelle Themen.“

Identifikation im Wandel

WALKM+£HLE_07Als sei es abgesprochen, reibt sich fast die gesamte Kunst- und Kulturszene der Landeshauptstadt derzeit am schwer zu fassenden Heimatbegriff. Das Staatsballett lud für das Partizipationsprojekt „Odyssee_21“ Menschen jeden Alters und jeglicher Herkunft ein, sich tänzerisch der Heimatlosigkeit zu widmen. Premiere ist am 3. Juli. Die Hochschule RheinMain bietet ab Herbst den Studiengang „Baukulturerbe – erhalten und gestalten“ an. Die „Kunst-Koffer“ von Titus Grab und Rita Loitsch zeigen im Juli im „Haselnuss Hofladen“ die Ausstellung „new HEIMAT Wiesbaden“ mit Bildern und Kleinplastiken von Flüchtlingskindern. Das Literaturhaus Villa Clementine präsentiert bis Jahresende Lesungen über Flucht, Fremde und Heimat in der Reihe „Vom Weggehen und Ankommen“. Und der Künstlerverein Walkmühle zeigte zuletzt in der Ausstellung „Heimat – Identifikation im Wandel“ Werke von 29 Künstlern mit 12 Nationalitäten. Der Syrer Tammam Azzam lässt in seinen Fotomontagen ausgebombte Häuserzeilen aus Aleppo über Zentren der politischen Macht in London, Genf und Paris schweben. Die Afghanin Sara Nabil stellte die Einrichtung ihrer ersten Bleibe aus dem Flüchtlingsheim in der Mainzer Straße aus. Christiane Erdmann, die mit Stefanie Blumenbecker als Kuratorin fungiert, erklärt: „Viele der Künstler leben zwischen zwei Kulturen, der Heimatbegriff ist für sie kein eindeutiger.“

Im Gespräch mit dem Philosophen Christian Rabanus im Rahmen der Ausstellung ließ sich herausarbeiten: Heimat hat stark mit vorsprachlicher Prägung zu tun, wird oft mit Erinnerung gleichgesetzt. Was macht man also, wenn man den Ort, an dem diese Prägung stattgefunden hat, verliert? Blumenbecker antwortet: „Leiden.“ Sie führt aus: „Es muss eine Perspektive geben. Sonst gibt es Heimat nur in der Rückschau.“ Noch etwas hat Wulf Winckelmann, Vorsitzender des Künstlervereins, gelernt: „Den Begriff Heimat gibt es nur im Deutschen. Die Bandbreite seiner Bedeutungen lässt sich nicht übersetzen.“

WALKM+£HLE_17Heimatklänge im Kulturpark

Seit fast drei Jahren erklingen in der Kreativfabrik im Kulturpark „Heimatmelodien“: Mit der Konzertreihe bietet man jungen Bands aus der Region eine Plattform. Darf sich die „Krea“ als Trendsetter feiern? „Der Titel ist total ironisch gemeint“, lacht Cornelius Koog, zuständig fürs Booking. In erster Linie geht es ihm darum, das Publikum auf Bands aus der Nachbarschaft aufmerksam zu machen. Koog sieht aber durchaus eine politische Dimension: „Die Wahlen haben gezeigt, dass es auch in Wiesbaden Leute gibt, die sich von selbsternannten ‚Rettern des Abendlandes’ angezogen fühlen. Denen sollte man nicht das Feld überlassen.“ Für ihn ist Wiesbaden vor allem der Kulturpark hinterm Bahnhofsgelände. Er ist im Main-Kinzig-Kreis aufgewachsen, wohnt heute in Mainz. „„Aber ich bin hier mit offenen Armen aufgenommen worden. Außerdem ist Wiesbaden momentan die kulturell interessantere Stadt im Vergleich zu Mainz. Hier tut sich mehr, es gibt mehr Locations für Livemusik.“ Heimat ist für ihn letztlich da, wo man sich wohl fühlt. Oder, wie es im Titelsong seiner favorisierten Sitcom „Cheers“ über eine Bar in Boston heißt: „Where everybody knows your name“.

Heimat Kiosk

Ein Stück Heimat hat Daniel Knußmann am Sedanplatz gefunden. Der „Kiosk Kockal“ diente ihm während des Designstudiums als Anlaufstelle, wenn er sich „abends die Füße vertreten“ wollte. Dass der Mann hinterm Tresen ihn „Bradi“ nannte, zeigte Wirkung: „Bruder“ sollte das heißen – und findet sich wieder im Titel der Kurzfilmserie „Bradi Kiosk“, die Knußmann als Autor und Regisseur verantwortet. Die Idee: „Im Kiosk gehen so viele Leute ein und aus, die müsste man porträtieren – mit ‚Bradi’, dem Verkäufer, als Erzähler.“ Der Pilotfilm wurde Knußmanns Abschlussarbeit, aktuell sind zwei erste Episoden in der Mache. „Surreal“, soll die Erzählweise werden, „psychedelisch und spirituell.“ Drehort ist ein Kiosk in der oberen Webergasse, doch der „Bradi Kiosk“ am BRODIKIOSK_08Sedanplatz bleibt Knußmanns zweite Heimat. Jeden Freitag ab acht Uhr abends lädt er Freunde dorthin ein, zum Schwätzen, Musik hören und Bier trinken – und um Tarot-Karten zu legen. Zu Wiesbaden fällt ihm ein: „Es schläft.“ Aber auch: „Es ist einfach zu sagen: Hier ist nichts los, ich gehe.“ Lieber versucht er, Leute zusammenzubringen. Die Beschäftigung mit dem persönlichen Lebensumfeld erfährt für Knußmann eine Anregung durch Müßiggang: „Wenn man nur zu Hause hockt und arbeitet, kriegt man nichts mit. Wenn man draußen sitzt, sieht man mehr.“ Für ihn bedeutet Heimat: Menschen auf der Straße zu erkennen.

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