Direkt zum Inhalt wechseln
|

Im Fieber der Zwanziger: Swing und Burlesque

Von Hendrik Jung. Fotos Katharina Dubno.

Der Swing ist zurück. Und bringt das extravagante Lebensgefühl mit heißer Musik, laszivem Hüftschwung und stilechter Kleidung gleich mit. Eine der brodelnden Hauptstädte der Bewegung ist Wiesbaden.

 Wer die geschwungenen Treppen des Walhalla hinauf steigt, könnte den Eindruck gewinnen, dass er mit jeder Stufe weiter in die Vergangenheit zurück schreitet. Schon die Gestaltung des Spiegelsaals mit seinem Art Déco-Stil bringt das Lebensgefühl der 20er Jahre zurück. Beim mittlerweile sechsten DecaDance-Wochenende fügt sich jedoch auch ein Großteil der Gäste perfekt in die Umgebung ein. Selbstbewusste Frauen tragen Seidenbänder im Haar und Federboas um den Hals. Moderne Männer haben sich Schiebermützen aufgesetzt und Hosenträger an ihre Leinenhosen geclipt. Gemeinsam tanzen sie in zum Teil rasantem Tempo den Lindy Hop. Eine vierköpfige Livecombo spielt All-Time-Standards wie „Puttin on the Ritz“, „Sweet Georgia Brown“ oder „Sunny side of the street“.

In einer schummrigen Ecke haben Irina Daßler und Jan Beyer ihre „Absintherie” eingerichtet. Fünf ausgewählte Sorten des Wermutschnapses bieten sie zur stilvollen Verkostung an, mit brennendem Zuckerwürfel auf dem Absinth-Löffel und einer im Art-Déco-Stil gebauten Fontäne, die bei Bedarf aus vier Hähnen Eiswasser spendet. Die beiden sind aus Nürnberg gekommen, um ihre Leidenschaft mit Gleichgesinnten zu teilen. „Bei uns gibt es auch solche Veranstaltungen. Aber ich habe das Gefühl, dass sie hier besser besucht sind“, berichet Irina Daßler, die bereits zum zweiten Mal zur Decadance gekommen ist. „Vor allem die Tänzer fehlen bei uns noch“, fügt Jan Beyer hinzu. Auch aus Leipzig, Heidelberg oder Darmstadt und sogar aus Belgien und Luxemburg sind die Gäste für den großen Ball am folgenden Abend in der Halle des Turnverein Biebrich angereist.

Wer weiß, wie oft der gewaltige Kronleuchter an der Decke des Spiegelsaals in den vergangenen hundert Jahren schon von Tanzschritten in Schwingung versetzt worden ist? Einige der Gäste, die trotz ihres schlohweißen Haars auf der Tanzfläche zu finden sind, waren vielleicht schon in ihrer Jugend hier. Denn neben dem Park Café gehörte wohl auch das Walhalla zu den Zentren der örtlichen Swing-Jugend, bis die Wiesbadener Nationalsozialisten dem „undeutschen und entarteten“ Tanzvergnügen 1941 schließlich ein Ende bereiteten. „Ich selber habe das nicht mehr mit erlebt, dafür bin ich damals zu jung gewesen“, berichtet der 82-jährige Dieter Middendorf, der bei Radio Rheinwelle seit 1999 einmal im Monat zwei Stunden lang Swing sendet. „Aber von meiner fünf Jahre älteren Schwester weiß ich, dass bei den Hausbällen der Tanzschule Bier Swing-Platten aufgelegt worden sind“, fügt er hinzu.

Heimlicher Swing im Opelbad

„Wir haben damals heimlich Swing in den Ecken getanzt. Aber wenn der Herr Bier das gesehen hat, dann hat er ganz schnell eine Polka aufgelegt“, berichtet auch Sylvia von Pagenhardt lachend. Die verpönte Musik habe sie heimlich mit ihren Freunden im Opelbad auf einem transportablen Grammophon gehört. „Die Platten kamen immer von den Jungs. Den Soldaten, die in Frankreich oder Norwegen gewesen sind. Die haben sie dann an die Mädchen weiter geben“, fügt die 88-jährige hinzu. Gut könne sie sich etwa noch daran erinnern, dass sie damals eine Aufnahme des Tiger Rags besessen habe. Hugo Braum dagegen berichtet, dass man in dieser Zeit neue Platten nur habe kaufen können, wenn man gleichzeitig eine andere Scheibe abgegeben habe. So sei die Klassiksammlung seiner Eltern nach und nach seiner Leidenschaft für Tanzmusik zum Opfer gefallen. „Schellack ist ein Importgut gewesen und die Reichsmark war nicht konvertierbar. Wahrscheinlich sind die Platten eingeschmolzen worden, um neue herzustellen“, vermutet der 88-jährige. Zum Glück fällt den Swing-Fans heute keine Mozart-Aufnahme mehr zum Opfer.

Hot Club in stilechter Deko

Auf dem Neroberg wird der Leidenschaft auch heute wieder gefrönt. „Wenn wir da tanzen, hocken sich die Leute auf die Bänke außen rum und gucken zu“, erläutert Kai Unger von „Swing in Wiesbaden“. Die Aktivitäten des tanzbegeisterten Freundeskreises, der auch die „Decadance“ organisiert, zieht sich wie ein roter Faden durch die Wiesbadener Swing-Szene. Denn Paare, die in stilechter Kleidung Charleston, Lindy Hop oder Shag tanzen, sind begehrt. Auch beim Hot Club in der Kreativfabrik, wo der moderne Electro-Swing auf dem Programm steht. „Bei der Musik, die wir hier auflegen dient der Swing aber nicht einfach als Sample-Pool für House-Musik. Die Elektronik hilft, die ohnehin coole Swing-Musik wieder zu beleben“, betont DJ Janeck Altshuler. „Wir dekorieren auch den Raum in dem Stil. Mit Teppichen, alten Lampen, Radio und Grammophon“, fügt Hot-Club-Mitbegründerin Sabrina Theisen hinzu. Auch bei der „Bohème Sauvage“, die regelmäßig im Wiesbadener Thalhaus stattfindet, bieten die Aktivisten von „Swing in Wiesbaden“ Tanzkurse an. Bei dieser Veranstaltung herrscht ein strikter 20er-Jahre-Dresscode, zwischendurch kann auch Tango oder Walzer getanzt und am Spieltisch gezockt werden.

Burlesque im Walhalla

Außerdem treten die Tänzer immer wieder bei der Show „Let’s Burlesque“ im Walhalla auf, die von Chanteuse Evi Niessner und ihrer Wild Troup organisiert wird. „Uns geht es um Burlesque im engeren Sinne. Um Freigeistigkeit im Sinne der 20er-Jahre mit Tanz, Entertainment, Nacktheit und Verrücktheit“, erläutert Evi Niessner das Konzept aus Konzert, Show und Ballroom-Party. Sie sieht in der heutigen Swing-Szene eine Gegenbewegung zur Gleichmacherei der Moderne. Das findet auch Elke Peschke, die in der Grabenstraße ein kleines Geschäft mit Mode, Schmuck und Accessoires im Stil der 20-er Jahre betreibt. „Auch Geschäftsfrauen wollen mal Weibchen sein. Sich Zeit nehmen für sich selbst, schöne Stoffe tragen und dieses Lebensgefühl zelebrieren“, erklärt die 49-jährige, bei der von Federn aller Art über Schmuck im Art-Deco-Stil bis zu Seidenkleidern in fantasievollen Dessins alles zu finden ist, was man für einen glamourösen Abend benötigt. Dass die Nachfrage nach Kleidung im Stil der Swing-Ära durchaus vorhanden ist, haben auch Janet Seifert und Kai Unger fest gestellt. Sie setzen ihre Leidenschaft dafür mit ihrem Modelabel „Vecona Vintage“ um. „Wir verwenden viel Mischgewebe, weil das für Tanzende pflegeleicht ist“, erläutert Kai Unger. Schließlich kennen die beiden als passionierte Swing-Tänzer des Wiesbadener Freundeskreises die Bedürfnisse dieser Zielgruppe bestens.

Hendrik Jung

Termine und Orte des Swing-Geschehens in Wiesbaden

5. Mai, 18 Uhr, Gemeindesaal Bergkirche, „Du bist verrückt mein Kind“, 20-er Jahre Schellack-Schlager mit Evi Niessner

25./26. Mai, Tanzschule Ralf S., Lindy Hop Workshop

26. Mai, 10 – 12 Uhr, Radio-Rheinwelle, Swingparty mit Dieter Middendorf

8. Juni, 21 Uhr, Thalhaus, Bohème Sauvage

21. Juni, 22 Uhr, Kreativfabrik, Hot Club

31. August, 20 Uhr, Walhalla, Let’s Burlesque

Außerdem veranstaltet “Swing in Wiesbaden” jeden vierten Freitag ab 19 Uhr im 7Grad am Mainzer Zollhafen eine Swing-Tanzparty.

Klamotten: EP’s Diva, Grabenstraße 6, Vecona Vintage, Adolf-Todt-Straße 12