Direkt zum Inhalt wechseln
|

In der Ferne ganz nah: Iranisches Leben in Wiesbaden im Zeichen von „Frau – Leben – Freiheit“

Von Hendrik Jung. Fotos Arne Landwehr.

„Frau – Leben – Freiheit“. Unter diesem Slogan steht die jüngste Protestbewegung im Iran. Mit aller Härte geht das Mullah-Regime dagegen vor. Entwicklungen, die auch in etwa 3800 Kilometer Luftlinie Entfernung aus Wiesbaden genau beobachtet werden. Gut 3.000 Menschen iranischer Herkunft leben in der Landeshauptstadt. Diese sind wahrscheinlich ungefähr genauso vielfältig wie die Zusammensetzung der Bevölkerung des Vielvölkerstaats. Mitglieder des Islamischen Kulturvereins Imam Hossein haben sich nicht für ein Interview bereit erklärt. Dafür drei Männer und zwei Frauen, die dem Regime kritisch gegenüberstehen.

„Nie geglaubt, dass sie so mutig sind“

„Ich bin überaus stolz auf mein Volk. Es ist unglaublich, was die jungen Leute auf der Straße machen. Ich hätte nie geglaubt, dass sie so mutig sind“, erläutert Zohre Shahi (Foto oben). Mit Kochkursen und -büchern arbeitet sie seit Jahren daran, die persische Kultur in ihrer zweiten Heimat bekannt zu machen. Für ihre alte Heimat hoffe sie nun sehr auf eine Revolution. „Es sind so viele Kinder, die sterben. Ich bin jeden Tag am Heulen. Dann mache ich eine Pause von Instagram“, erzählt Shahi. Doch es sei wichtig, immer wieder in den sozialen Medien auf die Situation aufmerksam zu machen.

Nach Möglichkeit telefoniere man nicht mit Angehörigen und Freunden im Iran. Ein Gespräch ihrer in Kanada lebenden Schwester mit deren Schwägerin in Teheran habe gezeigt, warum das so sei. „Als ihre Schwägerin gerade davon erzählt hat, dass es an der Universität zu lauten Protesten gekommen ist, war das Gespräch weg. Da hatten wir sofort Angst“, berichtet Shahi.

Obwohl ihre Schwester eine doppelte Staatsbürgerschaft habe und damit Gefahr laufe, als Agentin betrachtet zu werden, sei sie bis Anfang November vier Wochen im Iran gewesen. Als Ärztin habe sie dort dagegen demonstriert, dass die Menschen, die bei Demonstrationen verletzt werden, nicht behandelt werden dürfen. In diesem Zusammenhang sei sie selbst Zeugin geworden, wie eine Demonstrantin schwer verletzt und mit einem Auto abtransportiert worden sei.

Für das System sind Helfende Verräter

Auch der psychologische Psychotherapeut Mohammad Tabatabai kennt das Dilemma der medizinischen Versorgung der Demonstranten. Seine Schwester arbeite in einer privaten Einrichtung als Krankenschwester und könne daher anders als in staatlichen Krankenhäusern den Verletzten beiseite stehen. „Aber sie muss aufpassen. Das System sieht sie als Verräter. Es ist eine schwierige Situation. Die Milizen sind in Krankenhäuser gegangen und haben verhindert, dass Menschen versorgt werden“, schildert Tabatabai die Lage.

In der aktuellen Situation müsse man eine klare Haltung entwickeln, findet er. Der 48-Jährige hat gleich mehrfach Stellung bezogen. Zum einen mit einem offenen Brief an Bundesärzte-, Bundespsychotherapeuten- sowie Bundesapotherkerkammer, den achtzig Kollegen unterzeichnet haben. Darin fordert er, Druck aufzubauen, um die iranische Ärzteschaft bei ihrem Bestreben zu unterstützen, dem hippokratischen Eid Folge leisten zu können.

Brief an Baerbock

In einem anderen Schreiben hat Tabatabai sich an Außenministerin Annalena Baerbock gewendet, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass die iranische Opposition dem deutsch-iranischen Autor Adnan Tabatabai enge Kontakte zum Mullah-Regime vorwirft. Klar ist, dass Medien den Sohn von Sadegh Tabatabai, der ein Vertrauter von Ayatollah Khomeini gewesen sein soll, gerne als Iran-Experten beschäftigen und befragen. Es steht aber auch zur Diskussion, dass er das Auswärtige Amt beraten haben soll. In einem dritten Schreiben – nachzulesen auch hier bei sensor – setzt der Wahl-Wiesbadener sich mit dem Phänomen der Wut als schöpferische Kraft auseinander.

Ein anderer aus dem Iran stammender Wahl-Wiesbadener hat dagegen schon früh nach dem Tod der iranischen Kurdin Mahsa Amini, der der Auslöser der aktuellen Proteste gewesen ist, damit aufgehört, sich schriftlich in sozialen Medien dazu zu äußern. „Ich habe gepostet: Bleibt friedlich, lasst euch nicht provozieren. Dafür bin ich sehr angegangen und als Verräter bezeichnet worden“, berichtet Manocheher Seyed Mortazavi.

Hass verhindert Dialog

Der Hass sei sehr groß zwischen beiden Seiten, und bei Hass könne man leider nicht argumentieren. „Sie sind noch nicht an der Macht und schon posten sie: Wenn die Zeit kommt, werden wir Sie nicht vergessen. Da frage ich mich: Was habt ihr gelernt?“, bedauert der 57-Jährige, der überzeugter Pazifist ist. Er habe nicht nur am eigenen Leib erfahren, dass das Regime Menschen unterdrückt.

Sein Vater und seine Onkel hätten bereits unter der Regentschaft des letzten Schahs im Gefängnis gesessen. Dennoch sei er gegen eine Revolution, zumal das Land in den vergangenen Jahrzehnten auch friedlich viel erreicht habe. „Ich befürchte, wenn die Situation eskaliert, haben wir im Iran syrische Verhältnisse. Wer will denn die Regierung übernehmen? Die Analyse zeigt, es gibt keine Struktur, die übernimmt“, verdeutlicht der Architekt. Kritisch stehe er jedoch einer Einmischung aus dem Ausland gegenüber. Schließlich ist im Jahr 1953 auf Bestreben Großbritanniens und mit Unterstützung insbesondere der Vereinigten Staaten von Amerika eine demokratisch gewählte Regierung im Iran gestürzt worden. Hintergrund ist, wie so oft im Nahen Osten, auch damals die Frage nach dem Zugriff auf Erdölvorkommen gewesen.

Hoffen auf eigene Kraft der Iraner

„Ich hoffe, dass keine Kräfte von außen eingreifen. Es wäre schön, wenn das Land es selbst regeln könnte, sonst kann man die Zukunft gleich vergessen“, findet auch Mehdi Abdollahie. Zwar habe er ein bisschen Angst um sein Heimatland, weil es keine Garantie dafür gebe, dass die Situation nach einem Machtwechsel wirklich besser werde. Aber man müsse Schritt für Schritt denken und zunächst einmal müsse sich das System ändern. Ein System, das der 32-Jährige lediglich aus frühster Kindheit persönlich kennt und an das er keine guten Erinnerungen hat. Schließlich habe sein Vater bereits vor der Geburt Mehdis vier Jahre lang im Gefängnis gesessen, weil er gegen das Regime aufbegehrt hat.

Der Gastronom selbst erinnert sich daran, dass er ungefähr im Alter von fünf Jahren auf dem Weg zum Brotkauf erleben musste, dass jemand auf einem öffentlichen Platz erhängt worden sei. Anderthalb Jahre später sei die Familie dann dem Vater nach Deutschland gefolgt, wo der heutige Inhaber des Café Fari am Herderplatz immer wieder bei Demonstrationen und Protesten aktiv gewesen ist und über die Situation in seinem Heimatland informiert habe.

Unterschiedliche Realitäten

So oft, dass er dieses Mal bislang noch relativ wenig aktiv gewesen sei, weil sich bislang am Ende immer das Regime durchgesetzt habe. Dennoch habe er diesmal viel Hoffnung, dass ein Umsturz gelingt. Eine Hoffnung, die jedoch nicht alle seine Verwandten im Iran teilten. „Bei den Gesprächen, die ich geführt habe, habe ich gesehen, dass es nichts bringt. Wir leben einfach in unterschiedlichen Realitäten“, verdeutlicht Abdollahie.

Doch auch für viele Menschen im Iran ändert sich die Realität. „Die Korruption ist immer schlimmer geworden im Laufe der Jahre und alles wird teurer. Manche brauchen vier Jobs, um über die Runden zu kommen. Außerdem wird der Unterschied zwischen arm und reich immer größer“, berichtet Farzaneh Badbanchi. Dazu komme die Rolle der Medien. Früher habe man sich zwar vorstellen können, dass im Umfeld des Regimes Wasser gepredigt, aber Wein getrunken wird. Heute jedoch bekomme die Bevölkerung die herrschende Doppelmoral geradezu vor Augen geführt und das mache einen großen Unterschied.

Generation ohne Angst

„Die neue Generation ist ohne Angst, das fasziniert mich. So waren wir nicht, aber wenn man keine Perspektive hat, verliert man auch nicht so viel“, betont die Gynäkologin. Dabei ist Perspektivlosigkeit auch für sie einst der Grund gewesen, ihre Heimat zu verlassen. „Im Iran hatte ich keine Chance auf ein Medizinstudium. Das lag an der Aufnahmeprüfung: Das Regime schleust seine eigenen Leute ein“, erklärt die 52-jährige. Beginnend mit der Ältesten seien nach und nach alle vier Schwestern nach Deutschland gegangen.

Ihren Landsfrauen helfe es nur wenig, dass heute mit 60 Prozent die Mehrheit aller Studierenden weiblich sei. Denn man benötige einfach Beziehungen, um dann auch eine Arbeitsstelle zu finden. „Ich wünsche mir, dass die Bewegung Erfolg hat und der Iran eine demokratische Regierung erhält. Aber das muss man auch lernen, das braucht bestimmt zwei Generationen“, betont Badbanchi. Über genügend kluge Leute verfüge das Land jedenfalls und sie hoffe, dass sich eine künftige Regierung aus vielen verschiedenen Strömungen zusammensetze. Es sei jedenfalls neu, dass bei den Protesten keine politischen Botschaften im Vordergrund ständen, sondern alle den Slogan skandierten: Frau – Leben – Freiheit.