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Keine Fenster, aber jede Menge fantastischer Ideen: „Der visionäre Frühschoppen“ No.6 im Rückblick

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Von Dirk Fellinghauer. Fotos Jonas Werner-Hohensee.

Was treibt Wiesbadener dazu, sich an einem Sonntagvormittag in einem fensterlosen Raum zu versammeln? Offenbar das Bedürfnis, miteinander in Kontakt und ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen, sich inspirieren und vielleicht auch ermutigen zu lassen. „Der visionäre Frühschoppen“, die gemeinsame Veranstaltungsreihe von sensor und dem Walhalla, lockte nun bereits zum sechsten Mal eine schöne Menge Besucher – quer durch die Altersklassen von Mitte Zwanzig bis Ende Siebzig –  in den Spiegelsaal des so besonderen Ortes im Zentrum der Stadt. Im Zentrum des Gesprächsgeschehens stand im bis auf den letzten Platz besetzten Saal diesmal die Frage: „Fremd in der eigenen Stadt – Wie selbstverständlich lebt in Wiesbaden zusammen, wer zusammengehört?“

Die Gesprächsrunde startete unter der Prämisse, dass Wiesbaden zwar eine unbestritten bunte und vielfältige Stadt ist und dass diese Buntheit auch seit einiger Zeit verstärkt zum Vorschein kommt, dass es aber dennoch einige „Teilgruppen“ in der Stadt gibt, die sich – generell oder in bestimmten Situationen – nicht so ganz wohl fühlen. Oder vielleicht doch? Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte den Versuch wider, den Bogen über naheliegende Assoziationen hinaus zu spannen. Klar, „Fremde“ – also Ausländer, Migranten, Flüchtlinge oder auch „einfach so“ Zugezogene – sind natürlich per se erst mal fremd in der Stadt, die ihre eigene werden soll. Aber wie lange? Auch nach vielen Jahren oder gar als hier Geborener und Aufgewachsener kann man sich noch fremd in der eigenen Stadt fühlen. Als Student zum Beispiel, als Schwuler oder als Radfahrer.

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Letztere spielten zunächst eine Hauptrolle in der „Keynote“ des Vormittags. Als ersten Impuls und Einstimmung auf die Thematik las „Verborgene Welten“-Autor Martin Mengden exklusiv, sozusagen als Pre-Listening, vorab seine brandneue Kolumne aus dem November-sensor, der erst einen Tag nach der Veranstaltung in Druck ging. Darin beschreibt er unter dem Titel „Wiesbaden 2040“ unsere Stadt „nach der velophilen Revolte“ und der Teilung in ein eher alternatives „Wies“ (in den bisherigen Vierteln Westend, Rheingauviertel, Bergkirchenviertel) und in ein „Baden“ der Konservativen, der Reichen und der SUV-Fahrer. Er las, das Publikum lauschte. Sehr still und andächtig. „Das hier ist eigentlich lustig gemeint“, unterbrach er sich irgendwann selbst mit Blick auf die ernsten Publikumsgesichter, „aber es ist natürlich auch völlig okay, wenn sie nicht lachen“.

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Trotz tendenziell ernster Thematik wurde dann im weiteren Verlauf des Vormittags auch recht viel gelacht, und das nicht nur bei den höchst amüsanten Zwischenauftritten des Improtheaters „Schwarze Oliven“, das geradezu genial das auf dem Podium Besprochene spontan in kleine, treffende und sehr unterhaltsame Spielszenen verwandelte.

Fünf Visionen auf dem Podium, minutiöse Visionen im Publikum

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Die Riege der Visionäre eröffnete Erdal Aslan, als Redaktionsleiter der frisch mit dem Integrationspreis der Landeshauptstadt ausgezeichneten multikulturellen Stadtteilzeitung „Mensch Westend“ ganz nah dran am „fremden“ Geschehen unserer Stadt und mit seiner Zeitung vielfältig bemüht, Fremdheit in Vertrautheit zu verwandeln. Wie gut ihm das gelingt, können die Leser der 13.000-fach im gesamten Stadtteil flächendeckend verteilten Exemplare monatlich auf 24 spannenden, informativen und unterhaltsamen Seiten nachlesen. Aslan erzählte von der Motivation, aus der heraus die Zeitung entstand,  die in Kooperation mit dem Wiesbadener Kurier seit einem Jahr in der Verlagsgruppe RheinMain erscheint und schon bundesweit für Aufsehen sorgte: „Migranten wurden als Zeitungsleser und Zielgruppe über Jahrzehnte vernachlässigt“. „Mensch Westend“ sei jedoch keine „Ausländerzeitung“, stellte der türkischstämmige Redakteur klar. Vielmehr schafft er mit „Mensch Westend“ den Spagat, einerseits Migranten – ihr Anteil beträgt im Westend über 43% der Bewohner, sie stammen aus über 100 Nationen –  für die Lektüre zu begeistern und stärker für das Stadtgeschehen zu interessieren, andererseits Deutschstämmige mit der Lebenswelt der Migranten vertraut zu machen. Und: „Nicht nur Deutsche wissen wenig von Migranten, auch die verschiedenen Nationalitäten untereinander wissen oft wenig voneinander“. Es sei also nicht zwangsläufig so, dass die Wesend-Bewohner unterschiedlichster Herkünfte, nur deshalb, weil sie auf engem Raum zusammenleben, sich auch besser kennen und damit wenig fremd wären. Aslan ist jedenfalls spürbar begeistert von dem Viertel, dem er mit seiner Zeitung eine Stimme gibt, und verteidigt es auch mit Herzblut – und guten Argumenten und Geschichten – gegen immer noch bestehende Vorurteile.

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Vorurteile sind auch Chris Hastrich sehr vertraut, dem nächsten Visionär auf dem Podium. Als schwuler junger Mann mit dunkler Hautfarbe ist er gleich doppelt potenzielles Ziel von Anfeindungen. Ihm selbst blieben negative Erfahrungen in Wiesbaden bisher weitgehend erspart. Er geht ihnen allerdings auch dadurch aus dem Weg, indem er sich in seinem Verhalten automatisch selbst einschränkt: „Ich würde nicht mit meinem Freund Händchen haltend durch Wiesbaden laufen“, schilderte er, wie weit auch unsere Stadt von völliger Akzeptanz noch entfernt ist. Weniger seine eigenen Erfahrungen, als Schilderungen von Mobbing und Diskriminierung aus seinem direkten Umfeld – „meistens in der Schule oder auch am Arbeitsplatz“ – sowie dramatische Fälle von Teenager-Selbstmorden vor allem in den USA waren Auslöser seines Projektes, das er dem Frühschoppen-Publikum gleich doppelt vorstellte –  als Sänger Chris & Taylor mit einer großartigen und unter die Haut gehenden Unplugged-Darbietung seines Songs „It get´s better“ und mit der Beschreibung seiner Vision des Projektes „Trevor“. Für dieses Projekt rief er Menschen dazu auf, ihm Videobotschaften gegen Mobbing, Diskriminierung und Homophobie zu schicken, die er in einem Musikvideo als starkes Zeichen zusammenführen möchte. „Die Resonanz aus dem In- und Ausland war riesig“, erzählte Chris Hastrich, das Ergebnis wird in Kürze fertig- und online gestellt. Im Gespräch zur Situation von Homo-, Bi-, Trans- und Intersexuellen in Wiesbaden bestätigte er, dass sich in letzter Zeit einiges tut, augenscheinlich etwa die Partyreihe „Let´s go queer“ im Schlachthof oder der Christopher Street Day, der mittlerweile auch wieder mit einer Parade durch die Innenstadt gefeiert wird. Auf die Frage, ob es eine Provokation wäre, wenn die Route des Christopher Street Day auch durch die muslimisch geprägte Wellritzstraße führen würde, empfahl Erdal Aslan lässig: „Ausprobieren!“.

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„Belle Rue Malade – Von den Seiten der Stadt, die zueinander nicht finden“ – für die Künstlerin Angelika Dautzenberg ist ganz klar noch lange nicht alles zusammengewachsen, was zusammengehört. Der Titel ihres von der Ermordung eines Straßenmusikers am Warmen Damm ausgelösten Ausstellungsprojektes, das sie zusammen mit Sonja Welp  realisiert und das ab 21. November im Rathaus gezeigt wird, nimmt Bezug zu der mal mehr, mal weniger augenscheinlichen Teilung unserer Stadt. Als Künstlerin könne sie solche Themen und Problematiken fern des Pragmatismus der Politik mit ganz anderen Mitteln angehen, schilderte sie ihren Ansatz. „Ein idyllisch gelegener Ort ist zum Tatort geworden für eine entsetzliche, sinnlose Tat. Dies ist kein Einzelfall und aus unserer großen Betroffenheit heraus haben wir die Tat zum Ausgangspunkt für unsere Rauminstallation gemacht.“ Die beiden Künstler wollen Fragen aufwerfen im Rathaus, „einem symbolischen Ort für gesellschaftliche Verantwortung“: Junge Menschen werden zu Tätern – warum? Wie entstehen Täter – Opfer? Wo ist unsere Verantwortung? Wie ist Veränderung möglich? Wer hat Teil, wer nicht, wo entsteht Distanz? Wie kann Integration geschaffen werden? Wer verschließt die Augen? Opfer, Täter, Gesellschaft? Durch den gesetzten Fokus möchten die Künstlerinnen die Distanz verringern, eine Annäherung schaffen, die Augen öffnen für das, was da ist „Denn erst beide Seiten zusammen, stellen die Wirklichkeit dar“. Ansatzpunkte, die Welten zusammenzuführen, sehen sie konkret auf den Schulhöfen unserer Stadt.

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Nicht nur fremd, sondern unsichtbar in der eigenen Stadt – so empfinden viele das Thema „Studenten in Wiesbaden“. Studenten in Wiesbaden sichtbarer zu machen – nicht als Selbstzweck, sondern mit verschiedenen Absichten bis hin zur Einbeziehung in Aktivitäten hiesiger Unternehmen – das ist das Anliegen der Initiative „Studentenfutter“, die Petra Monsees von der Stabsstelle Hochschulstandort der Landeshauptstadt Wiesbaden vorstellte. Ziel der vielfältigen Anstrengungen sei es, eine Willkommenskultur für Studenten in der Stadt aufzubauen. „Der Stadt sind die Studenten fremd“, beschrieb sie unmissverständlich den Ist-Zustand und nannte im gleichen Zug das erklärte Ziel: „Das wollen wir ändern.“ Der Weg zum Ziel führe seitens der Stadt über verschiedene Ansatzpunkte wie: Campusbau der Hochschule RheinMain unterstützen, Bau von Studentenwohnheimen fördern oder Zusammenarbeit mit dem Asta-Verkehrsreferat. Die zum dritten Mal durchgeführte Aktionstage „Studentenfutter“ würden sich immer weiter entwickeln. Zur Eröffnungsveranstaltung mit der Schriftstellerin und Philosophin Thea Dorn lud Petra Monsees ausdrücklich alle Wiesbadener ein. Nicht nur Studenten, auch deren Eltern umwirbt die Stadt. Ende November lädt der Oberbürgermeister zu einem „Schnupperwochenende für Studi-Eltern“ inklusive Empfang im Rathaus und günstiger Hotelkontingente. „Das hat auch Marketingeffekte“, erklärte Petra Monsees Hintergedanken solcher Maßnahmen, für die die Stadt auch ordentlich Geld in die Hand nehme. Viel Potenzial sieht die Stadt auch noch im „Netzwerk der Wissenschaften“, über das das vorhandene enorme wissenschaftliche Potenzial für die Entwicklung der Stadt genutzt werden soll. Petra Monsees rief Firmen dazu auf, verstärkt auf Kooperationen mit Hochschulen zu setzen und freut sich über Kontakte via hochschule@wiesbaden.de

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Auch die Spezies der Fahrradfahrer ist – bisher – weitgehend unsichtbar in unserer Stadt.   Der „anzüglichste“ Beitrag des Vormittags kam von André Muno, in Wiesbaden lebender und intensiv Rad fahrender Projektleiter des bundesweiten Klimabündnis-Projektes „Stadtradeln“, an dem sich in diesem Sommer erstmals auch endlich seine Heimatstadt beteiligte. Er kam im Anzug zum eigentlich eher leger angelegten Frühschoppen –  um zu zeigen, dass Radfahren auch im Businessoutfit problemlos möglich ist. Und eröffnete seinen visionären Vortrag mit einer klitzekleinen Zahl auf der riesengroßen Beamerwand: 5%. Dies ist der Radverkehrsanteil in Wiesbaden, der bundesweite Durchschnitt liegt bei 11%. „Wiesbaden – wir haben ein Problem!“, konstatierte der Experte, der täglich per Rad und Bahn zu seinem Arbeitsplatz nach Frankfurt fährt, und belegte diese These auch mit aktuellen Headlines wie „Radfahren lebensgefährlich“, „Weitere Weg zur Fahrradstadt“ oder „Nichts für schwache Nerven“. Das von ihm täglich praktizierte Radfahren auf dem 1. Ring könne er „nicht uneingeschränkt empfehlen“, weiß André Muno um die Gefahrenlage für Radfahrer. Seine Vision ist, dass unsere Stadt aktiv einlädt zum Radfahren, das nicht nur Spaß mache, sondern auch aktiver Klimaschutz sei und auch positive Gesundheitseffekte habe. Mit spektakulären Beispielen aus anderen Städten zeigte er, was in unserer Stadt in absehbarer Zeit sicher kaum geht, nannte aber auch Beispiele für Maßnahmen, die ganz einfach und ohne große Kosten zu realisieren seien, etwa die Freigabe von Einbahnstraßen für Radfahrer. Er schlug auch optimistische Töne an und lobte jüngste Initiativen der Stadt wie das Radverkehrsforum – oder eben die Teilnahme am „Stadtradeln“, die auch 2015 wieder geplant sei.

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In der visionären Minute nutzte das Publikum wie immer die Gelegenheit, ganz persönliche Visionen vorzutragen, in maximal 60 Sekunden. Dass es auch viel kürzer geht, bewies der Gast, der einfach loswerden wollte: „Vergesst die Kinder nicht“. Einer Dame lag ebenfalls die „Fahrradstadt“ Wiesbaden am Herzen, sie lud zum angstfreien gemeinsamen Erfahren der Stadt beim Fahrradkorso ein. Ein anderer Gast regte an, einfach mehr miteinander ins Gespräch zu kommen. Genau dies ist das Anliegen des visionären Frühschoppens – auch über die Veranstaltung hinaus. Zum einen tauschten sich Visionäre und Besucher nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung noch rege aus, zum anderen soll die Seite www.wiesbadenervisionen.de, die die beiden Wiesbadener Steve Hoffmann und Nico Becher in großartiger Eigeninitiative an den Start gebracht haben, als virtuelle Fortsetzung des Frühschoppen-Geschehens und als die visionäre Plattform für unsere Stadt etabliert werden.

Der nächste visionäre Frühschoppen wird am 25. Januar 2015 stattfinden. Die Veranstalter freuen sich darauf, wenn sich dann wieder an einem Sonntagvormittag jede Menge toller Menschen in einem fensterlosen Raum versammeln, um …

www.wiesbadenervisionen.de

www.walhalla-studio.de 

www.jonas-werner.com

Die Fotogalerie vom Visionären Frühschoppen No. 6 findet ihr hier.