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Kurzgeschichte: „Zahnlos La Paloma pfeifen“ – Vorab-Veröffentlichung aus dem ersten Falk Fatal-Buch

sensor-Kolumnist Falk Fatal veröffentlicht sein erstes Buch: „Im Sarg ist man wenigstens allein“. sensor veröffentlicht vorab eine der 19 Kurzgeschichten und Erzählungen: „Zahnlos La Paloma pfeiffen“.

„Ich befinde mich in der Horizontalen. Grelles Licht blendet mich. Ich reiße mein Maul sperrangelweit auf, während drei Augenpaare interessiert in meinen Mund glotzen. Währenddessen bewegen zwei Hände einen kleinen, gebogenen Metallspiegel sowie eine Dental-Sonde in meinem Mund umher. Für einen kurzen Moment habe ich Hoffnung. Die Hoffnung stirbt schließlich zuletzt, doch sie stirbt.

Statt „eins-acht okay, eins-neun okay, drei-fünf okay“ höre ich nur ein „Oh, Oh, Oh“.

Ich weiß Bescheid. Der eigentlich harmlose Kontrollbesuch beim Zahnarzt verwandelt sich augenblicklich in mein persönliches Waterloo.

Dazu muss man wissen, dass ich ein sehr angespanntes Verhältnis zu Zahnärzten habe. Schuld daran hat ein Klempner namens Dr. Rolf Breitzinger, der älteste Spross einer Zahnarztdynastie in meinem Heimatdorf. Gut, Dynastie ist vielleicht etwas übertrieben, aber er übernahm im Jahr 1989 die Zahnarztpraxis seines Vaters. Im Dorf reicht das schon, um eine Dynastie zu errichten. Eine grausame und blutdürstige Dynastie, wie ich noch erwähnen möchte. Aber das war mir im Wendejahr 1989 noch nicht bewusst. Ich hörte „Looking for Freedom“ und freute mich, dass „Knight Rider“ nicht nur die Bösen in die Flucht geschlagen, sondern auch die Mauer zum Einsturz gebracht hatte. Schön, dass Popmusik den „Wind of Change“ entfachen kann.

Das Schreckensregime des Zahnarzttyranns

Welch grausamer und blutdürstiger Zahnarzttyrann dort an der Burgstraße sein Schreckensregime errichtet hatte, bekam ich erst im Alter von 15 Jahren zu spüren. Ein eigentlich harmloser Kontrollbesuch ergab, dass der linke untere Weisheitszahn angeblich ein ganz schlimmer Typ sei und deshalb so schnell wie möglich aus meinem Teenagermund entfernt werden müsse.

Knapp eine Woche später saß ich im Wartezimmer des Tyrannen und blätterte angeregt durch den neuesten „Karius und Baktus“-Comic. Dann wurde ich aufgerufen und es folgte mein Gang zum Schafott. Doch davon ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Auch noch nicht, als mir der Arzt die Betäubungsspritze in die rechte Mundhöhle rammte und nicht in die linke – dort, wo sich der böse Weisheitszahn befand. Ich war jung und dumm und glaubte an die Allmacht der Götter in Weiß.

Diesen Glauben sollte ich einige Minuten später auf ewig verlieren, als sich dieser Klempner mit einer Zange an dem Weisheitszahn links unten zu schaffen machte. Es knackste und knirschte, und Wellen des Schmerzes durchfuhren meinen Körper. Ich reagierte, wie wahrscheinlich jeder in dieser Situation reagiert hätte.

Mann oder Memme? Mmpf!

Ich sagte: „Mmpf, au, oh, ah, mpfgf!“

„Tut es weh?“, fragte Breitzinger scheinheilig.

Ich glaubte, dabei ein fieses, gemeines Grinsen in seiner teigigen Fresse erkennen zu können. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.

Ich nickte heftig. Daraufhin setzte er mir noch eine Spritze in die rechte Mundhöhle. Das Schmerzmittel zeigte bald Wirkung. Die ohnehin schon taube rechte Wange wurde noch tauber. Breitzinger nahm seine Zange und zerrte erneut an dem Weisheitszahn links unten. Also an dem Teil meines Gesichts, das sich nicht nach eingeschlafenen Füßen anfühlte.

„Mmpf, au, oh, ah, mmpf!“, erwiderte ich.

„Jetzt stell dich nicht so an, Falk!“, entgegnete Breitzinger. „Bist du ein Mann oder eine Memme?“, schob der Arsch noch hinterher.

Ich entschied mich für Letzteres und sagte: „Mmpf, au, oh!“

„Jetzt komm schon“, sagte der Arzt, „ein Indianer kennt keinen Schmerz.“

Ein Indianer kennt keinen Schmerz?

‚Soso‘, dachte ich, ‚steile These.‘

Was war denn mit „Winnetou“? Der Tod seiner Schwester „Nscho-tschi“ war doch schmerzhaft für ihn. Vielleicht nicht in einem körperlichen Sinn, aber seelisch garantiert. Das steckt selbst die stärkste Rothaut nicht ohne Weiteres weg. Und führte „Winnetou“ danach nicht einen grausamen Rachefeldzug gegen alle Bleichgesichter? Oder die anderen Apachen, die von den Weißhäuten niedergeballert wurden und mit einem Schmerzensschrei zu Boden fielen? Denen tat das bestimmt auch weh. Doch bevor ich meine – wie ich finde, durchaus berechtigten – Zweifel äußern konnte, riss mir das Arschloch von Zahnarzt den Weisheitszahn einfach heraus.

Einige Wochen vor diesem Ausflug in die Dentistenhölle hatte mich Christina verlassen, meine erste große Teenagerliebe. Wir gingen etwa drei Wochen miteinander. Nachdem sie mir mein kleines Herz aus der Brust gerissen, darauf gespuckt und es schließlich mit den Sohlen ihrer lila Dr. Martens zertreten hatte, hörte ich drei Wochen lang nur „Zu spät“ von den „Ärzten“ und glaubte zu wissen, was Schmerzen sind. Doch dieser Zahnarzt belehrte mich eines Besseren.

Ich war kein harter Checker, kein tougher Kerl. Erst recht kein Rockstar! Ich war nur ein pickeliger Teenager, der den ersten Bartflaum über der Oberlippe trug, auf einem Zahnarztstuhl lag, in ein grelles Licht starrte und die gesamte Praxis vor Schmerzen zusammenschrie. Damals, in jenen Minuten auf dem Zahnarztstuhl bei Dr. Breitzinger, zerbrach etwas in mir.

Ein schmerzverzerrter Entschluss

„Was dich nicht tötet, macht dich stärker“, war der lapidare Kommentar der Teigfresse.

Als ich kurz darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht nach Hause torkelte, fasste ich einen Entschluss. Der alte Falk war tot. Der neue Falk, wiedergeboren und geschmiedet aus purem Schmerz, würde künftig nicht mal zucken, wenn er das Brummen eines Bohrers hörte. Im Gegenteil: Ein Blick würde genügen, um das Folterinstrument zum Explodieren zu bringen. Der neue Falk würde wie „John Rambo“ sein Jagdmesser nehmen, die Gewehrkugel aus dem Oberschenkel schneiden, die klaffende Wunde mit einem ölverschmierten Lappen abbinden, die Armbrust anlegen, einen gezielten Schuss abgegeben und damit den gesamten Vietcong vernichten. Und zum Zahnarzt würde dieser Falk schon gar nicht mehr gehen.

Um der Geburt des neuen, des ultimativen Falks genügend Ausdruck zu verleihen, spuckte ich einen Schwall Blut in meine Hände und rieb es in meinem Gesicht, das sich daraufhin in eine grimmige Fratze verwandelte. So trottete ich heimwärts. Erschrockene Passanten wechselten hastig die Straßenseite.

Müßig zu erwähnen, dass Mama mein Anblick gar nicht gefiel. Doch der neue Falk ließ sich davon nicht beeindrucken. Fortan trug er immer ein kleines schwarzes Messer mit sich herum, damit er, falls er irgendwann einmal von einer Kugel getroffen werden sollte, diese aus dem Fleisch schneiden könnte. Er ging auch nicht mehr zum Zahnarzt. Und eines Morgens fand Dr. Breitzinger eine gefällte Birke in seinem Garten vor. Der Täter wurde nie gefasst.

Der neue Falk existierte sieben Jahre. Dann plagte mich eine Karies so sehr, dass ich doch wieder zum Zahnarzt ging. Das Resultat war vorhersehbar. Meine Zähne wurden wochenlang aufgebohrt, ausgekratzt und wieder aufgefüllt. Trotzdem machte ich meinen Frieden mit den Zahnärzten. Man wird ja reifer und älter. Und es bringt auch nichts, den Boten für die schlechten Nachrichten zu köpfen. Schuld haben andere. Zum Beispiel die Zahnpulpa, die umgangssprachlich auch „Zahnnerv“ genannt wird. Diese füllt den inneren Teil des Zahnes aus und besteht aus Bindegewebe mit Blut- und Lymphgefäßen sowie Nervenfasern. Und diese verwandeln mechanische, thermische oder chemische Reize in Schmerz. Daher kommt das.

Nebenbei bemerkt, ist das der Beweis schlechthin, dass Brian Fallon, der Sänger von „Gaslight Anthem“, Unrecht hat. Der glaubt doch tatsächlich, dass eine höhere Macht, ein göttliches Wesen für unsere Existenz verantwortlich sei. Doch wenn es wirklich eine göttliche Macht gäbe, der wir unser Leben verdanken, hätte sie dann den menschlichen Körper mit so etwas Überflüssigem wie schmerzempfindlichen Zähnen ausgestattet? Ich glaube nicht. Außer es wäre ein grausamer Gott. Ein Gott, der Feuer und Schwefel auf Städte niederregnen lässt, der den sowieso schon krisengebeutelten Ägyptern sieben Plagen schickt oder der die Erde flutet, um fast alles Leben zu vernichten. Aber solch einen Gott würde doch niemand anbeten, oder? Also ist die Evolution das Arschloch, das sich so etwas Hirnrissiges wie die Zahnpulpa ausdenkt. Doch wofür soll die gut sein? Warum können Zähne nicht schmerzunempfindliche Hauer sein, die stumpf das ihnen Dargebotene zerkleinern und zermalmen? Die ihre Aufgabe pflichtbewusst erledigen und dann die Schnauze halten? Wie ein Beamter etwa oder die Schläger von „James Bond“-Bösewichten. Der „Beißer“ hatte bestimmt nie Karies.

Der Traum vom Leben ohne Zahnpulpa

Das Leben wäre ohne Zahnpulpa so viel besser. Zahnschmerzen, Wurzelbehandlungen, Weisheitszähne – all diese Ausformungen menschlichen Leidens gehörten der Vergangenheit an. Klar, der Zahnarztlobby würde das nicht gefallen. Aber für die arbeitslosen Dentisten ließen sich andere Aufgabenfelder finden, auf denen sie ihre sadistische Ader ausleben könnten. Zum Beispiel als Knöllchenverteiler, als Streifenpolizisten oder Folterknechte in Abu Ghraib.

Doch stattdessen liege ich hier auf diesem Zahnarztstuhl am Little Bighorn, meine Zahnärztin schüttelt noch immer den Kopf und sagt nur: „Oh, oh, oh.“

Dann jagt sie mir eine Spritze in die Mundhöhle und bevor ich wegdämmere, wird mir bewusst: Diese Geschichte wird erst ein Happy End finden, wenn auch der letzte Zahn in meinem Mund dem Erdboden gleichgemacht worden ist. Und wenn mich dann jemand fragen sollte, ob ich zahnlos „La Paloma“ pfeifen kann, werde ich antworten: „Ja.““

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Falk Fatal …

…ist Autor, Kolumnist des sensor Magazins, Podcaster und Sänger der Oldie-Punkband FRONT. Jetzt hat er ein Buch geschrieben. „Im Sarg ist man wenigstens allein“ heißt es und enthält 19 Kurzgeschichten und Erzählungen. Sie spielen in dunklen Spelunken, auf Dorffußballplätzen, in Musikfachgeschäften und im Führerbunker. Mit schwarzem Humor erzählt Falk Fatal von Kneipenschlägereien, öden WG-Partys, Fernsehtalkshows, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Schönheitswettbewerben für Kühe und Hansa-Pils und seziert dabei mit scharfem Blick den Irrwitz des menschlichen Verhaltens. Das Cover hat Julian Weber (http://retrocartoons.de/) gestaltet.

Buchvorstellung im Café Klatsch 

Am Sonntag, dem 17. November,  wird Falk Fatal  „Im Sarg ist man wenigstens allein“ im Café Klatsch vorstellen und daraus einige Geschichten lesen. Unterstützt wird er dabei von Jens Jekewitz, einem Urgestein der deutschen Poetry Slam Szene, der nicht nur seit vielen Jahren die Slams in Wiesbaden und in Mainz moderiert, sondern auch selbst mit seinen Texten auf vielen Lesebühnen zu finden war und ist.

Beginn ist 19 Uhr, der Eintritt ist frei.

Café Klatsch | Marcobrunnerstraße 8 | 65197 Wiesbaden (https://cafeklatsch-wiesbaden.de)

„Im Sarg ist man wenigstens allein“ erscheint bei Edition Subkultur (https://www.subkultur.de/edition/)

Mehr Informationen: https://fatalerror.biz