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Livekultur im Lockdown!? Augen auf und durch die Stadt spaziert! Hier könnt ihr was „in echt“ erleben

In den letzten Wochen überraschte und faszinierte Eva Engelhorn Passanten mit ihrer „Ich und Ich“-Performance im Kunstraum in der Faulbrunnenstraße. Letzte Chance: heute bis 16 Uhr. Foto: Dirk Fellinghauer

Von Selma Unglaube und Dirk Fellinghauer.

Nichts geht mir im Kulturbetrieb in Pandemiezeiten. Wirklich gar nichts? Auch in Wiesbaden haben alle Einrichtungen geschlossen und können nicht besucht werden. Bitter für Künstler*innen und Veranstalter*innen, bitter auch für das Publikum, das Kultur zum Leben braucht. Und Lockerung: nicht in Sicht. Mit Öffnungen ist auch im Dezember nicht zu rechnen. Einiges wird ins Netz übertragen, es gibt Livestreams mit Licht und Schatten, mit mehr oder weniger stabilen Verbindungen. Es gibt aber auch, trotz allem und allem zum Trotz, tatsächlich noch Möglichkeiten, Kultur „live“ zu erleben. Kunst in erster Line, aber auch anderes.

Im Kunstraum Wiesbaden in der Faulbrunnenstraße zeigt Eva Engelhorn heute von von 12 bis16 Uhr zum letzten Mal ihre beeindruckende Performance „Ich und Ich“ – zu betrachten durch die Fenster von der Straße aus. Immer wieder bleiben Passanten stehen und schauen und staunen. „Ich habe eine zweite Version meiner Selbst geschaffen, eine Puppe, ein zweites Ich, ein Ich, das ich sehen kann, das ebenso wenig perfekt ist wie das Original, aber mindestens ebenso liebenswert.“ So beschreibt die Künstlerin Eva Engelhorn ihr zweites Ich, mit dem sie vor ein paar Wochen in die neu gegründete „Künstler-WG“ im Kunstraum Wiesbaden gezogen war – um „mit sich zu leben und sich dabei selbst zu erleben“.

Auch die Galerie Anke Rohde in Schierstein kam auf den Corona-Sonderweg mit jederzeit zugänglichen Ausstellungen. Die zwei großen Schaufenster ihrer Galerie brachten sie auf die Idee, diese Fläche bis Weihnachten anderen Kolleg*innen zur Verfügung zu stellen. Die Künstlerin und Galeristin, Mitglied im Künstlerverein Walkmühle, im Mainzer „Kunstverein Eisenturm“ und neu im Wiesbadener Kulturbeirat, war es schon lange wichtig, zu vernetzen und gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Zu „Ankes Lieblinge – ausstellen und fördern“. sind alle eingeladen, ganz coronakonform einen ausführlichen Blick in die beiden Schaufenster in der Kettenbornstraße 2 zu werfen und bei Interesse ein Werk zu erwerben. Zu sehen sind jeweils 14 Tage lang Bilder von Katharina Reschke, Sabine Steimer und Herbert Lammers.

Kunst im Schaufenster der Schaustelle. Foto: BBK Wiesbaden

Die Nase plattdrücken können sich Kunstbegeisterte auch am Schaufenster der BBK SCHAUstelle in der Marcobrunnerstraße 3. „Gold wert“, so der Titel der Gemeinschaftsausstellung der Künstler*innen Mireille Jautz, Riitta Soini, Iris Kaczmarczyk, Ulrike von Quast, Wolf Spemann und Claudia Stöber, der mit einem kleinen Seitenblick auf vorweihnachtliche Dekorationen den Wert der Kunst betont.

„Vier Fragen? Deine Antworten!“ Bis zum 7. Dezember stehen – im Rahmen der Reihe „Wir in Wiesbaden“ – in einer interaktiven Freiluftausstellung kurz und knapp vier Fragen des Künstlers Titus Grab im Raum. Rund um die Kreuzung Bismarckring mit Goeben- und Bertramstraße sind sie in der Freiluftgalerie „Westend-Galerie“ zu finden. Tafeln zum Hinterlassen eigener Antworten, lesbar für alle, finden sich ebenfalls dort. Täglich wird alles dokumentiert – und dann werden die Tafeln frei gemacht für neue Aussagen. 2021 bilden die Antworten eine eigene Ausstellung.

Mit einer standesgemäßen und coronakonformen Vernissage wurde die Bauzaun-Ausstellung am entstehenden Museum Reinhard Ernst eröffnet. Foto: Dirk Fellinghauer

Auch in der Freiluft-Galerie an der Baustelle des Museums Reinhard Ernst an der Wilhelmstraße können Besucher erste Werke bestaunen – geschaffen von Schülern, inspiriert von dem, was hier künftig an „großer Kunst“ präsentiert werden soll. Unter dem Titel „Abstraktion im Quadrat“ wird der Bauzaun für die Präsentation von 76 abstrakten Werken genutzt. Die Bilder im Format 1 x 1 Meter stammen von Schüler*innen  aus Wiesbaden; unter Anleitung ihrer Lehrer*innen entstanden farbstarke Arbeiten, die in den Motiven komplett auf Gegenständlichkeit verzichten.

Gezielt betrachten, woran man sonst vorbeigeht

Die Pandemiezeit können wir einfach mal nutzen, um das im Stadtraum, an dem wir sonst achtlos vorübergehen oder was wir höchstens beiläufig im Vorbeigehen betrachten, mal ganz bewusst und genauer anzuschauen. Was steht da eigentlich? Wer sind die Künstler*innen, was die Hintergründe?

Wer Lust auf Kunst (und Bewegung) hat, kann bei einem Spaziergang durch Wiesbaden ganz unterschiedliche Kunstwerke (neu)entdecken. Es gibt viele Skulpturen und dauerhafte Kunst im öffentlichen Raum: vom Heavy Luggage am Bahnhofsvorplatz angefangen über die Skulptur Lauf der Zeit gegenüber des Landeshauses am Kaiser-Friedrich-Ring, das Mahnmal für die deportierten und ermordeten Wiesbadener Sinti und Roma in der Bahnhofstraße, die Große Dreifigurengruppe in der Wilhelmstraße 7, den Skulpturen Gaztelu, Keil, Das zweite Schiff und vielen weiteren am Warmen Damm bis hin zum Flötenspieler und Fisch am und im Kurpark(weiher), der Sizilianischen Marktfrau in der Karl-Glässing-Straße oder auch dem weißen Reh bzw. der Skulptur Die Verweildauer von Augenblicken sollte nicht eingeschränkt werden im Nerotalpark. Bei gutem Wetter lässt es sich von der besonderen gelben Bank, die selbst ein Kunstwerk ist und den großen Baum umschließt, besonders gut und uneingeschränkt verweilen.

Nilhan Sessan war vor einigen Jahren in Wiesbaden zu Besuch, wo ihre Skulptur einen festen Platz am Platz der deutschen Einheit gefunden hat. Foto: Christopher Kissel

Vor der Elly-Heuss-Schule am Platz der Deutschen Einheit ist ein Originalsegment der Berliner Mauer zu finden. Direkt nebenan auf dem Platz steht eine interessante Skulptur. „All waters of the earth interwine“ von Nilhan Sesalan soll, so erzählte die Künstlerin uns mal, „verdeutlichen, dass alles Wasser auf der Welt zusammenfließt und in diesem Kreislauf nichts verloren geht. Auch die Menschen, egal welcher Herkunft, bestehen zum größten Teil aus Wasser und so ist die Skulptur auch ein Symbol der Brüderlichkeit.“

Wiesbadener Galerien können, anders als Museen, grundsätzlich besucht werden, da sie als Ladengeschäfte/Einzelhandel gewertet werden. Und in den Galerien kann natürlich Kunst betrachtet und besprochen – und bei Interesse gekauft – werden. Einen Überblick über die bekanntesten Galerien in der Innenstadt gibt es hier, natürlich gibt es noch weitere kleine und größere in der Stadt.

Pop-Up-Galerist Rouven Heine (Mitte) mit Papa und Künstler auf der Wilhelmstraße. Foto: Dirk Fellinghauer

In der Pop-Up-Galerie RH in der Wilhelmstraße 8 zeigt Rouven Heine großformatige Ölgemälde von Pietro Conti. Den Weg nach Kostheim ist die Galerie Davis-Klemm wert, fast eine kleine Kunsthalle mitten im Ortskern. Die Ausstellung „Günter Beier – Terra Incognita“ wurde bis zum 28. November verlängert. Ebenfalls eine Art Freiluft-Galerie ist der Brückenkopf in Kastel samt Unterführung, der vor wenigen Monaten von jungen Graffiti-Künstlern aus aller Welt anlässlich des „Meeting of Styles“-Festivals neu gestaltet wurde. Deren Macher Manuel Gerrulis hat kürzlich auch die Mauer am Kranzplatz-Spielplatz neu gestaltet.

Wer darüber hinaus die Stadt auf eigene Faust durchsteifen will, kann über www.kultour-und-mehr.de/fuhrungshefte.html unterschiedliche Führungshefte für Touren kaufen, um die Stadt zu erkunden. Die geführten Rundgänge fallen coronabedingt momentan leider aus.

Kirchen als Kulturorte

Wer sich für Bauwerke, Kunst und Architektur interessiert, wirft vielleicht einmal einen Blick in eine der vielen Kirchen der Stadt. Sie gehören zu den wenigen grundsätzlich zugänglichen Orten. Einfach mal reingehen und/oder in Ruhe von außen betrachten. Da wäre zum Beispiel die Dreifaltigkeitskirche zwischen Frauenlob- und Rückertstraße, die neben ihrem Gegenstück, der evangelischen Lutherkirche, eines der Wahrzeichen des Wiesbadener Dichterviertels ist. Die 1912 geweihte, neugotische Hallenkirche wurde mit den charakteristischen vier Kirchtürmen konzipiert. Oder die Ringkirche mit ihren beiden 65 Meter hohen Türmen, bei der Altar, Kanzel, Orgel und Sängerbühne das Zentrum bilden, und um das etwa 1200 Sitzplätze kreisförmig angeordnet sind.

Kulisse für Gottesdienste – und nun auch für Auftritte von Musikern: die Bonifatiuskirche am Luisenplatz. Foto: Dirk Fellinghauer

Die Bonifatiuskirche ist die katholische Stadtkirche Wiesbadens.  Im Juni 1828 wurde die erste Bonifatiuskirche gebaut, die 1831 aber einstürzte. Die Kirche St. Bonifatius ist, obwohl sie erst 1845 bis 1849 erbaut, das älteste Gotteshaus Wiesbadens, abgesehen von einigen Kirchen in eingemeindeten Vororten. Der Entwurf stammt vom nassauischen Oberbaurat Philipp Hoffmann, dem Wiesbaden auch die Griechische Kapelle auf dem Neroberg verdankt. Die Bonifatiuskirche und andere katholische Kirchen in Wiesbaden öffnen sich nun sogar für Livemusik. Sie bieten zur Corona-Auszeit verdammten Musikern die Möglichkeit, im Rahmen von Gottesdiensten aufzutreten und bezahlen sogar Honorare dafür. Ausgemachte Sache sind zum Beispiel schon Auftritte von Abo Karim oder Mara Kochendörfer. (Ausführlicher Bericht folgt).

Die Kreuzkirche in den Walkmühltalanlagen gilt als ein architektonisches Meisterwerk der Endfünfziger Jahre. „Äußerlich zeigt sich dies vor allem in der Schlichtheit des Kirchenschiffes und in der Feinheit der Architektur des Turmes, der als Campanile wie ein Finger Gottes zum Himmel weist“, heißt es in der Beschreibung, und „Die Architektur bestimmt auch den Innenraum der Kirche. Sie ist klar, einfach und edel und erinnert in ihrem Grundriss an die ursprüngliche Form der romanischen Dome. Die darin eingeordneten Werke der bildenden Kunst wurden dabei vom Architekten ins Auge gefasst und als Element der Einstimmung inszeniert.“ Geheimtipp: „Vor allem bei Sonnenschein sollte man nicht versäumen, den Innenraum aufzusuchen. Ein farbenfrohes Lichterspiel hüllt den Betrachter und Kirche dann ein. Ein erhebender Moment!“ Auch die Nauroder Kirche von 1730 mit ihrem oktogonen Zentralbau im barocken Stil ist ein Hingucker: Sie wirkt rund, obwohl sie achteckig ist, da die Außenpilaster neben den Fenstern platziert sind, so dass die Ecken kaum sichtbar werden. Unterstützt wird dieser Eindruck zusätzlich durch das in sich gerundete Dach.

Bibliotheken und Artothek geöffnet

Die Mauritius Mediathek bietet jede Menge Schmöker- und Lauschangebote zum Ausleihen. Foto: Kulturamt Wiesbaden

Die Stadt- und Musikbibliothek in der Mauritius-Mediathek und alle Stadtteilbibliotheken haben weiterhin zur Ausleihe, Rückgabe, Anmeldung, Ausweisverlängerung und zur Zahlung offener Kosten geöffnet. Auch die Artothek Wiesbaden hat weiterhin geöffnet und bietet Besucher*innen die Möglichkeit originale Kunstwerke aus den Bereichen Malerei, Grafik, Fotografie, Skulptur und Objektkunst gegen eine Gebühr für ein halbes Jahr ausleihen. Es wird um eine telefonische Terminvereinbarung unter 0611/58027828 gebeten, Öffnungszeiten: Dienstag und Mittwoch von 11 bis 17 Uhr, Donnerstag von 11 bis 19 Uhr und jeden ersten Samstag im Monat von 11 bis 17 Uhr. Die beliebten Kunst-Koffer steuern weiterhin regelmäßig (Spiel)Plätze an. Die „Tourdaten“ sind unter kunst-koffer.org aufgelistet.

Habt ihr weitere Ideen? Immer her damit – als Kommentar oder per Mail an hallo@sensor-wiesbaden.de