Von Dirk Fellinghauer. Fotos – oben: Ansgar Klostermann/RMF/ Galerie: Dirk Fellinghauer.
Wie nur, wenn überhaupt, lässt sich wohl die Klassik „retten“? Diese Frage treibt viele um. Die Antwort gab nun, beim und mit dem Rheingau Musik Festival (und mit sensor als Medienpartner) der Pianist Francesco Tristano: Ganz locker! Das „Wagnis“, ein Konzert des altehrwürdigen Festivals – herzlichen Glückwunsch zum 40., der mit diesem „Sommer voller Musik“ gefeiert wird – im Schlachthof zu veranstalten, geriet zum Fest. 650 Konzertgänger reagierten begeistert auf die aufregende und berauschende „Expedition Sound“, die Francesco Tristano unter dem Motto „Classic meets Electronic Beats“ gemeinsam mit Geneva Camerata und David Greilsammer (Klavier und Leitung) veranstaltete.
Das eingangs erwähnte Attribut „locker“ ist nun ganz und gar nicht misszuverstehen in dem Sinne, dass die Beteiligten die Musik, die dargeboten wird, nicht ernst nehmen würden. Im Gegenteil. Locker aber in dem Sinne, dass man sich selbst und die ganze Veranstaltung nicht zu ernst nimmt. Der Weg in der Kulisse der großen Schlachthof-Halle: Zwei intensive Non-stop-Stunden lang schleuderte der 35-Jährige Künstler, der an den Tasten so virtuos ist wie an Knöpfen und Reglern agiert, das Publikum gemeinsam mit seinen im besten Sinne „spiel“freudigen und ebenfalls bestens aufgelegten Mitstreitern aus Genf durch musikalische Welten von Barock bis Techno. Das Ziel: Jubel. Strahlen. Zugaben.
Werke aus einer Zeitspanne von fast 300 Jahren – und alle klingen nach „heute“
Mit „seinem“ musikalischen „Hello“ stellte sich der gebürtige Luxemburger, der seit einigen Jahren mit Frau und zwei (bald drei) Kindern in Barcelona lebt, wenn er nicht für Auftritte in Konzerthäusern und Clubs um die Welt jettet, vor. Treibend. Hypnotisch. Faszinierend. Spannend. Sanft in der Erscheinung, energisch und zupackend an den Instrumenten.
„Hello“ und willkommen in einer musikalischen Welt, in der so ziemlich alles möglich ist. Grenzen? So überflüssig wie ein Klavierstuhl! Tristano spielte im Stehen, sein Publikum lauschte im Stehen. Seinen eigenen Stücken so gespannt wie den Bach-Klavierkonzerten oder dem John Adams-Meisterwerk „Shaker Loop“. 1685 (Bach), 1947 (Adams), 1981 (Tristano) sind die Geburtsjahre der Komponisten des Abends. Was alle Werke gemeinsam haben: So interpretiert und dargeboten wie an diesem Abend klingen sie alle nach … heute!
Das ist keine leichte Kost, das ist alles andere als „Easy Listening“. Das ist auch manchmal anstrengend.Und doch macht diese Location, dieses Format, diese Idee das Ganze zu einer lockeren Angelegenheit. Weil das Publikum eben nicht wie sonst so oft in der antiquierten Klassikwelt mit ihren Regeln und Ritualen steif in einem schlecht belüfteten Raum auf unbequemen Stühlen sitzt und Angst hat zu atmen, um bloß nicht das heilige Geschehen auf der Bühne zu stören. Weil das Publikum machen darf, was es will. Und siehe da, es will zuallererst – und vielleicht unterm Strich konzentrierter und aufmerksamer und wertschätzender als bei einem „klassischen“ Klassikkonzert – zuhören, musikalische Welten entdecken und in sie eintauchen, sich überraschen und mitreißen lassen.
Einladung zum Leben – da wippt sogar der Ex-OB
Das Publikum – im Schnitt, aber nicht durchweg, deutlich jünger als die „klassischen“ Rheingau-Musik-Festival-Gänger – kann, darf und will aber eben auch ein Bierchen dabei trinken, die Freundin oder den Freund im Arm halten, auch mal ein paar Worte mit den Kumpels wechseln. Oder auch tanzen. Sogar Wiesbadens OB a.D., Kulturfonds RheinMain-Geschäftsführer Helmut Müller, bestens gelaunt mitten im buntest gemischten Publikum mit Sohnemann im Schlepptau und Weizenglas in der Hand, fing irgendwann an mitzuwippen.
„Musik ist eine Einladung zum Leben“ sagte uns Francesco Tristano, als wir ihn – glücklich und frisch geduscht, nachdem er sein T-Shirt beim auch physisch anstrengenden Konzert restlos durchgeschwitzt hatte – nach der umjubelten Show zum Interview in seiner Schlachthof-Garderobe trafen. Wie wahr dieser Satz ist, und wie beglückend die Annahme dieser Einladung geraten kann, hatte er an diesem Abend im Schlachthof eindrucksvoll bewiesen. Wir freuen uns schon jetzt auf ein Wiedersehen und -hören in Wiesbaden – vielleicht dann sogar auch nebenan im Schlachthof-Kesselhaus. Wir sind uns ziemlich sicher: Der Techno-Francesco, der uns schon diesmal vom Schlachthof und seiner „subversiven“ Philosphie vorschwärmte, wäre vom Club und dem dortigen Sound begeistert – und er würde seinerseits die Clubgänger in Wiesbaden begeistern.
Das ausführliche Interview mit Francesco Tristano findet ihr hier. Am 8. September veröffentlicht der Künstler sein Album „Piano Circle Songs“, auf dem auch mit der unvergleichliche Chilly Gonzales (der seinerseits am 19. August im Kurhaus aufspielt) mitgewirkt hat, bei Sony Classical. Das Album mit erstmals ausschließlich eigenen Klavierkompositionen soll auch Bestandteil seines Konzerts am 24. September in der Alten Oper Frankfurt sein.