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Neue Zeiten am Alten Gericht: Auf dem historischen Areal entwickelt sich Zukunftsweisendes – sensor war vor Ort

Von Anne-Marie Butzek. Fotos: Kai Pelka, Erika Noack, Wiesbaden /wiesbaden-fotos.de (Luftaufnahme)

Es staubt, es scheppert, es dröhnt zwischen Moritzstraße und Oranienstraße. Mittendrin brummen Bagger, ächzen Kräne, rufen sich Bauarbeiter über das Getöse Satzfetzen zu. Auf dem Gelände des Alten Gerichts herrscht nun seit bald anderthalb Jahren rege Aktivität – dort, wo lange Zeit eher bedrückende Stille regierte. Treibende Kraft dahinter ist die private Hochschule Fresenius, flankiert von „heimathafen“ und Nassauische Heimstätte: Ab  Frühjahr 2019 dürfte sich das Areal in einen Campus verwandelt haben, der viel mehr sein soll als bloß ein Ort für Studium und Lehre. Im besten Fall gibt das, was hier entsteht, dem ganzen Viertel einen Kick – und vielleicht sogar der ganzen Stadt. Es riecht nach Happy End für eine bisher unendliche Geschichte geplatzter Träume.

Was bisher geschah

Man erinnere sich: 2009 zogen die Gerichte von hier aus um in die Mainzer Straße und ließen das Alte Gericht – nun …: – alt aussehen. Das denkmalgeschützte Gebäude – inklusive Gelände im Besitz des Landes Hessen – wurde von vielen beäugt – zu schön, zu bedeutend, um dem Leerstand und Verfall überlassen zu werden. Der Ortsbeirat Mitte, aber auch verschiedene Bürgerinitiativen wie die „Interessengemeinschaft Moritzstraße“ und die „Bürgerinitiative Altes Gericht“ mit ihrem Plan für ein „Haus der Stadtkultur“ versuchten vergeblich, dem Brachliegen des Geländes ein Ende zu setzen. Nur kurze Unterbrechungen kannte dieses, in denen etwa Künstler Räume des weitläufigen Gebäudes als  Ateliers nutzten. Jahre verstrichen, bis die European Business School mit der Stadt unter dem damaligen Oberbürgermeister Dr. Helmut Müller verhandelte – und ihre Finanzierung platzte.

Fresenius-Wurzeln reichen zurück bis 1848

2013 dann kam die Hochschule Fresenius ins Spiel, die bundesweit und sogar in New York Standorte und ihren Hauptsitz in Idstein hat. Obwohl ihre Wurzeln zurückreichen ins Jahr 1848 in Carl Remigius Fresenius‘ Chemisches Laboratorium in der Kapellenstraße, war sie 1995 aus Wiesbaden dorthin gezogen. Ann-Kristin Lauber, Standortleiterin der Hochschule in Wiesbaden, erklärt: „Den Gedanken zurückzukehren, haben wir schon sehr lang. Idstein ist aus allen Nähten geplatzt.“ Fresenius ergriff also die Chance und unterzeichnete den Erbrechtsvertrag über einen Teil des Geländes mit dem Land Hessen. Dort erfolgte im November 2016 der Spatenstich zum Neubau.

Vom Parkplatz zum Campus

„Am 1. März 2019 wollen wir die Türen das erste Mal öffnen“, sagt Lauber entschlossen: „Dafür wird gerade rund um die Uhr geackert. Sorry an die Anwohner!“ Leise geht es nicht zu beim Errichten des L-förmigen Neubaus, der Platz für  die 75 Mitarbeiter und rund 1000 Studierende bieten wird. Die Eckdaten: 12000 Kubikmeter Boden sind bewegt und 1300 Tonnen Stahlbeton verarbeitet worden. Auf der ehemaligen Freifläche, die zuletzt als behelfsmäßiger Parkplatz ihr Dasein fristete, sind 6200 Quadratmeter Nutzfläche entstanden. Auf 6 Etagen verteilen sich eine Tiefgarage, 30 Hörsäle, etliche Seminar- und PC-Räume sowie eine kleine Bibliothek und Büros, ein eiförmiger Eingangsbereich zur Moritzstraße und eine Mensa.

Im obersten Geschoss schweift der Blick vom Balkon aus über ganz Wiesbaden. Hochschule Fresenius-Pressesprecher  Alexander Pradka betont: „Wir wollen die Öffnung hin zur Stadt.“ Damit es auch umgekehrt zu Augenkontakt kommen kann, entsteht im Erdgeschoss ein Bürgersaal. Auch der Innenhof soll laut Pradka mit „viel Grün“ und seiner großen Freifläche nicht nur Studierende zum Fläzen und Flanieren einladen. Als im März Richtfest gefeiert wurde mit einer illustren Gästeschar, erklärte Bauleiter Achim Kleinz, ganz fertig sei der Rohbau erst im Mai. Kleinz ist viel beschäftigt, neun oder zehn Stunden am Tag, auch samstags, denn: „Der Bauzeitplan ist eng gestrickt.“ Zu einer großen Verzögerung sei es bei den Erdarbeiten gekommen,  da sich der Boden als kontaminiert erwies. Schlüsselfertig solle der Hochschulneubau zum 31. Dezember dieses Jahres sein. 5 Millionen Euro Eigenleistung ist der Hochschule Fresenius das Vorhaben wert.

Nachhaltigkeit leben und lehren

Das Gebäude hat die höchste Energieklasse, die Dämmung ist rund 20-30 Zentimeter dick und die Fenster dreifach verglast. Einen ökologischen Anspruch mag man auch an anderen Stellen wähnen. Beispielsweise bietet der Neubau 325 Fahrradstellplätze gegenüber rund 90 für PKW, und die Hochschule ist bemüht um angemessene Anbindung an den ÖPNV. Außerdem betont Pressesprecher Pradka: „Zum Studium bei Fresenius gehört die Unterstützung bei der Persönlichkeitsbildung genauso wie Wissen um Nachhaltigkeit und schonenden Umgang mit Ressourcen.“ In der Moritzstraße entsteht also ein „richtiger Campus“, so Pradka: „Die Studierenden werden auch merken, dass es sich lohnt, in der Region zu bleiben.“

Bestandsstudierende der Studiengänge Wirtschaft und  Medien, sowie von zwei neuen Fächern aus dem Studiengang Design können dies bald selbst überprüfen. Standortleiterin Lauber: „Wir wollen Wiesbadens Portfolio erweitern und die Studienlandschaft ergänzen.“ Schon vor Baubeginn waren von städtischer Seite ausschließlich Freudenbekundungen zu hören. Die Wiesbadener Hochschulbeauftragte Petra Monsees betont: „Alle sind ausdrücklich dafür gewesen, Fresenius ins Alte Gericht zu holen, auch die anderen Hochschulen.“ Sie erwarte „kreative junge Köpfe“ im Viertel. Mitte-Ortsvorsteher  Roland Presber spricht sicher vielen Stadtteil- und Stadtpolitikern aus dem Herzen, wenn er sagt: „Fresenius ist für Wiesbaden schon eine Perle in der Krone. Dank der Zusage der Hochschule für das Gelände wird es jetzt außerdem eine öffentliche Nutzung geben – statt Luxuswohnungen im Alten Gericht.“ Was er meint: Gleichzeitig mit dem Abtreten eines Teils des Geländes ist noch eine Menge mehr ins Rollen gekommen.

(Fast) alles neu im Alten Gericht

Für das eigentliche Alte Gericht ist ebenfalls jede Menge in Planung. Zukünftig dürfte der Staub, den die Jahre trockener Rechtsprechung und des Leerstands hinterlassen haben, gehörig aufgewirbelt werden.  Neben Wohnungen soll ein „Kreativ- und Innovationszentrum“ entstehen. Für erstere ist die Nassauische Heimstätte verantwortlich. Bisher bekannt ist: Im ehemaligen Beamtenwohnhaus zur Oranienstraße raus sollen auf 3 000 Quadratmetern ein Studierendenwohnheim mit 100 bis 120 Plätzen entstehen, im Gerichtsaltbau sind auf 3 500 Quadratmetern 58 Wohnungen, jeweils mit einer Größe von 40 bis 145 Quadratmetern zu 12 Euro je Quadratmeter geplant – und auf 1 600 Quadratmetern gewerbliche Flächen. Außerdem soll noch eine zweite Tiefgarage gebaut werden. Der Bauantrag ist  gestellt. Bezüglich des aktuellen Stands hüllt sich die Nassauische Heimstätte jedoch weitestgehend in Schweigen.

Verhandlungen laufen einerseits mit der Hochschule, andererseits mit einem weiteren Akteur, der zumindest im Viertel wohlbekannt ist – und weniger um Auskunft verlegen. Das Café und Co-Working-Urgestein „heimathafen“ hat das Alte Gericht schon lange im Visier. Dominik Hofmann, der Hansdampf in vielen Gassen-Verantwortliche des Betreiberduos, stellte im April die heimathafen-Vision für das Alte Gericht vor.

Grundlage bildet ein Ideenpapier, das schon im Sommer 2016  entwickelt und seither gehörig weitergestrickt und konkretisiert wurde. Am bisherigen Standort in der Karlstraße ist alles „geil, aber eng“: Der Platz im eigenen Café reiche schon lange nicht mehr, die Co-Working-Flächen seien ausgebucht, das Publikum bei Veranstaltungen stets (zu) dicht gedrängt. Keine 300 Meter Fußweg entfernt warten ganze drei Etagen mit einmaligem Ambiente zum Austoben und „Potenzial entfalten“, wie Hofmann es gerne nennt: mehr Arbeitsplätze, ein Café mit mehr Raum und Möglichkeiten, ein ausgedienter Schwurgerichtssaal, Ausstellungsräume,  „Maker Space“ (Mitmachwerkstatt), Social Lab („Zukunftslabor“).

Ein Ort als Betriebssystem von vielen für viele

„Wir wollen eine Plattform schaffen, quasi das Betriebssystem sein; Frei nach dem Motto: Von vielen für viele.“ begeistert sich Hofmann – und will viele in der Stadt zum Mitdenken und Mitmachen animieren. Angesprochen seien sowohl junge Unternehmer als auch Bürger, die neuen Studierenden so sehr wie alteingesessene Kunst- und Kulturschaffende, Vereine und Initiativen ebenso wie Einzelpersonen. Kurz „alle, die sich die Frage stellen: Wie wollen wir in Wiesbaden leben?“  Zur Kostendeckung – mit 12 bis 14 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter und noch mal ca. der Hälfte drauf für Nebenkosten schlage die 1700 Quadratmeter große Fläche  zu Buche – könne zum Beispiel der Schwurgerichtssaal tagsüber für Tagungen und Konferenzen vermietet werden, abends für Veranstaltungen zur Verfügung stehen.

So fänden sich auch die Wünsche der Bürgerinitiative(n) nach kultureller und sozialer Nutzung statt kommerzieller zu einem Großteil wieder. Sein Kollege Abi von Schnurbein erklärt: „Wir müssen zwar Gewinn machen, aber unser Ziel ist nicht, den Profit zu maximieren.“ Für das Alte Gericht will der heimathafen noch in der ersten Jahreshälfte einen Verein gründen, außerdem gelte es mittels Sponsorenwerbung und Crowdfunding eine immer noch bestehende Finanzierungslücke von 160000 Euro zu schließen. Der Vertrag mit der Heimstätte müsse noch in trockene Tücher, dann ein Bauantrag gestellt werden. Trotz aller verbleibenden Unwägbarkeiten ist Hofmann optimistisch: „Es sieht sehr gut aus!“ Ähnlich klingt es bei den Verhandlungspartnern: „Wir befinden uns auf einem sehr guten Weg“, sagt Ulrich Albersmeyer, Leiter des Regionalcenters Wiesbaden der Nassauischen Heimstätte. Zwar seien weder die Verhandlungen mit dem heimathafen abgeschlossen, noch der Bauantrag durch, aber: „Im Mai könnten wir mit unseren Bauarbeiten beginnen.“

heimathafen wird Mensa betreiben

Im Januar hatte schon mal der Magistrat sein Okay gegeben für das Kreativ- und Innovationszentrum – und sogar eine städtische Anschubfinanzierung  über jeweils 80000 Euro in den angestrebten ersten beiden Betriebsjahren zugesagt. Ortsvorsteher Presber hält ein ganz neues Altes Gericht ab 2020 für realistisch. Und würde sogar noch einen Schritt weiter gehen: „Möglich wäre auch, die Gerichtsstraße verkehrsberuhigt zu machen, als Terrasse für Gastronomie oder Spielplatz für einer Kita zu nutzen.“ Grund zur Zuversicht gibt auch, Fresenius im Boot zu wissen, eine „spannende Kombination“ in Hofmanns Worten. Hochschule-Pressesprecher Pradka erläutert die gemeinsame Basis: „Wiesbaden hat eine sehr aktive Gründerszene. Den vielen jungen Menschen mit guten Ideen fehlt es aber oft an Unterstützung.“

Bereits vor dem eigenen Einzug ins Gericht wird der heimathafen schon mal die Mensa der Hochschule betreiben, die allen offen stehen wird. Diese soll laut Dominik Hofmann „auf der einen Seite satt machen, auf der anderen Seite hungrig: auf Ideen.“

Die Ideen, Pläne, Visionen und Einladung zum Mitdenken und Mitgestalten hat der heimathafen hier geballt veröffentlicht.

Oranienstraße: Auf dem Weg zum Hotspot? 

Klar ist: das Alte Gericht wird auch in das Viertel hinein wirken. Fresenius-Sprecher Pradka wird nicht müde, die „Belebung“ und „Aufwertung des Geländes“ zu betonen, auf die auch Hochschulbeauftragte Monsees und Ortsvorsteher Presber setzen. Was aber bedeutet das konkret? Und vor allem: Wer von den etwa 22 000 Einwohnern des Stadtteils Mitte wird etwas davon haben? „Letztendlich profitieren alle“, meint Pradka. Auch Marcel Paul, Studienmanager an der Fresenius, ist optimistisch: „Bisher ist die Moritzstraße eher eine Durchgangsstraße. Bald wird hier viel mehr los sein.“ Als gebürtiger Wiesbadener habe er beobachtet, wie sich die Moritzstraße entwickelte; die Veränderungen würden seiner Meinung nach Wiesbaden jünger machen das Studentenleben bereichern.

Standortleiterin Lauber prophezeit: „Eine bunte Gruppe wird mit einem Schlag das Viertel aufwerten.“ Entsprechend erwartungsfroh zeigt man sich auch in der Nachbarschaft. Im Elektrofachgeschäft Bender an der Ecke des zukünftigen Campus beispielsweise ist Inhaber Kai Bender positiv gestimmt und erwartet eine Belebung. Mit seinem Meisterbetrieb sei er einer der wenigen Verbleibenden in der ansonsten derzeit recht spielhallenlastigen Straße: „Ich habe zwar keine Riesenerwartungen, dass ich mehr Geschäft mache … Und Parkplätze wären natürlich schön gewesen.“

Loae Hamad vom Imbiss „Al Petra“ direkt gegenüber des Areals findet das Projekt „sehr gut“ und strahlt: „Vorher war tote Hose, jetzt wird viel mehr los sein!“

Gesunder Mix oder Gentrifizierung?

Obwohl ihn die Baustelle sehr gestört und im Sommer sogar dazu gezwungen habe, die Glasfront geschlossen zu halten, freut Hamad sich nach acht Jahren („in denen das Geschäft durchaus gut lief“) auf Zuwachs. Im Kiosk „Tabak Storch“ ein paar Häuser weiter erwartet man eine ähnliche Belebung des Geschäfts. Der Weggang der Gerichte habe sich bemerkbar gemacht, Kundschaft bleibe auch aufgrund der Baustellen aus. Dies bestätigen das „Reformhaus Freya“ und „Eisenwaren Steib“. Der dortige Geschäftsführer Marcus von Hoeßle ist „eher positiv gestimmt“ und sagt: „Wir haben lange darauf gewartet, so lang wie kaum einer befürchtet hatte. Leerstand ist einfach schlecht.“ Dagegen halte er eine „niveauvolle Nutzung“ für wichtig: „Die Hochschule wird alles  ein wenig jugendlicher machen, aber mit einem nicht so schlechten Niveau. Natürlich werden nicht alle Probleme direkt beseitigt,“ ergänzt er, auf Wettbüros und Drogengeschäfte in der Moritzstraße verweisend. Insgesamt glaubt er, „dass es einen  gesünderen Mix geben wird.“

In der Bierkneipe „Moritzstube“, die bald einen neuen Namen und ein neues Konzept verpasst bekommen soll, meint der Inhaber: „Tausend Studenten? Wenn vielleicht zehn davon kommen, ist das schon mal gut!“ Bedenken hat er bei einem anderen Thema: „Vielleicht steigen die Mieten?“ Auch der Steib-Chef denkt: „Die Wohnungsmieten werden noch mehr steigen, wenn das überhaupt möglich ist.“ Für Ortsvorsteher Presber liegt auf der Hand, dass das Projekt zu „erhöhtem Druck auf die Mietpreise“ führe. Und obwohl er die Veränderungen, die auf Mitte zukommen, für „ein Plus“ hält, stellt er klar: Junge Unternehmer, Co-Worker, Studierende einer privaten Hochschule –  all das  werde „natürlich die Gentrifizierung vorantreiben.“  Also alles neu, alles gut im Alten Gericht? Wohin Justitias Waagschale kippen wird, wird Wiesbaden in den kommenden Jahren bezeugen können.