Von Anja Baumgart-Pietsch. Fotos Kai Pelka, Stadtarchiv.
„Auf Anhieb verliebt“ habe sie sich in die kleine Sackgasse zwischen Bahngleisen und Wäldchen, sagt Sigrid Siewior. Seit 1994 wohnt die Chefin des Wiesbadener „Akzent-Theaters“ im Mühltal. Und hat noch keinen Augenblick bereut, wie sie sagt: „Ich fühle mich wohl. Man kennt sich hier. Wenn ich nachts um eins vom Theater nach Hause komme, hat mir schon mehr als einmal jemand irgendwas tragen geholfen. Ich treffe auch zu später Stunde noch Leute, die ihren Hund ausführen. Angst? Warum?“.
„Freiwillig ins Mühltal ziehen – bist du verrückt?“
Bevor sie in der Rheinstraße ihr eigenes kleines Kellertheater eröffnete, hat sie in vielen deutschen Städten Theater gespielt. Manchmal hatte sie auch länger währende Engagements und vor Ort eine Wohnung gemietet, beispielsweise auf der Hamburger Reeperbahn. Aber die Wohnung im Mühltal behielt sie immer bei, „da ist mein Zuhause.“ Auch wenn ihre Verwandtschaft sie anfangs für verrückt erklärte. Als Spätaussiedlerin kam sie nach Wiesbaden, bekam diverse Wohnungen angeboten, entschied sich aber fürs Mühltal. Die Siedlung besteht nur aus wenigen Häusern.
Einst Siedlung für Obdachlose, heute stolze „Mühltaler“
Ihre Geschichte beginnt vor 52 Jahren, wie der heutige Vermieter, die städtische Gesellschaft GWW, berichtet. Vorher hieß das Gebiet „Vorderberg“ und war seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Siedlung für Obdachlose. 1967 wurde in so genannter „Schlichtbauweise“ die Siedlung errichtet und der Name in „Mühltal“ geändert. Sozial engagierte Menschen unterstützten von Anfang an die Bewohner, es wurde der erste Bewohnerrat gegründet, und seit 1972 gab es Gemeinwesenarbeit durch Stadt und Kirchen. Ein Sozialzentrum wurde eröffnet, auch eine Kita. Mitte der 80er Jahre wurden die Häuser erneuert.
Es entstand eine „Sanierungswerkstatt“, an der sich die Bewohner aktiv beteiligten. Mietverträge zu sehr günstigen Bedingungen wurden abgeschlossen, alte Schulden erlassen. „Dadurch wurde den Bewohnern ein Neustart ermöglicht, die niedrigen Mieten sollten dazu beitragen, Unabhängigkeit von staatlichen Leistungen zu ermöglichen“, berichtet Andrea Dingeldein vom Amt für Soziale Arbeit. Heute gibt es in rund 100 Wohnungen, die seit 1999 der GWW gehören, rund 200 „Mühltaler“, die sich zumeist sehr mit ihrer Siedlung identifizieren. „Die Wohnungen werden häufig von erwachsenen Kindern der alteingesessenen Familien angemietet“, so Dingeldein. Auch den Bewohnerrat gibt es noch und die „Arbeitsprojekte Mühltal“ in Trägerschaft der Caritas.
Container-Treffpunkt und Bachelorarbeit
Soziale Arbeit leistet auch das Kinder- und Jugendzentrum Biebrich: 2015 wandte sich der Bewohnerrat an den damaligen Oberbürgermeister mit dem Wunsch nach einem eigenen Jugendraum. Das Team des Biebricher Zentrums ermöglichte 2017 die Aufstellung eines Containers. Mitarbeiter des Zentrums sind regelmäßig vor Ort, die Sozialpädagogin Camille Gamber schrieb ihre Bachelorarbeit über das „Heimatgefühl“ dreier Mühltal-Generationen. Da kommen ganz andere Meinungen zutage als die gängigen Vorurteile über das Quartier, das böse Zungen einst gar als „Tal der tausend Messer“ bezeichneten, wie noch vor kurzem eine reißerische Überschrift in einem Internetportal lautete. Das „Leben in der Sackgasse“ bezieht sich im Mühltal heute tatsächlich nur noch auf die tatsächliche Straße.
Bundesweite Aufmerksamkeit für Konzept des Zutrauens
Das Sanierungsprojekt, das die Bewohner mit einbezog und so den Grad der Identifikation bis hin zum Stolz auf das eigene Quartier erhöhte, fand sogar bundesweite Beachtung: So schrieb 1993 „Die Zeit“ unter der Überschrift „Raus aus dem Ghetto“ über das erfolgreiche Projekt in mit „Motivation und Selbstwertgefühl“ und zitiert einen damaligen städtischen Mitarbeiter: „Das hat den Beweis erbracht, dass jahrzehntelang Ausgegrenzte ungeahnte Fähigkeiten entwickeln, wenn man sie fordert und ihnen was zutraut“. Die heutigen Bewohner sind überzeugte Mühltaler – wie Sigrid Siewior.
Nachbarschaft des Miteinanders
Sie schwört auf die gute Nachbarschaft, an Kritik hat sie lediglich die fehlende Busverbindung und Einkaufsmöglichkeiten – „aber auch da sind die Nachbarn kreativ, es gibt Fahrgemeinschaften, die teilen sich Taxis, und man fragt auch gegenseitig, ob man sich was mitbringen kann.“ Es gebe eine Malgruppe, die sich regelmäßig trifft, und sie habe auch schon ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft als Aushilfe in ihrem Theater gehabt. „Ich weiß auch jederzeit, wo ich klingeln könnte, wenn mal was ist.“ Und das ist doch schon sehr viel mehr, als so manche anderen Nachbarschaften von sich behaupten können.