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So wohnt Wiesbaden: Wie vollen wir leben? Nicht mit Baustaub und Angst! Geschichte einer Gentrifizierung

Von Patrick Siegfried (Text und Fotos).

Seit einigen Monaten wissen wir, wie ein aufgeheizter Immobilienmarkt mit seinen sozialen Auswirkungen riecht – es ist ein Geruch von Baustaub und Angst. Unsere (Ent-)Wohn-Geschichte geht so:

Vor knapp zehn Jahren zogen wir als kinderloses Mittdreißiger-Pärchen in eine in der Stadtmitte gelegenen Altbauwohnung. Die Miete unschlagbar günstig, das kleinbürgerliche Regiment des Eigentümer-Pärchens begrenzte sich auf die korrekte Treppenhausreinigung und Müllentsorgung. Der Kontakt zu den Nachbarn war freundlich. Dann kamen unsere Kinder. Auf den langen Fluren unserer Wohnung wurde gekrabbelt, gelaufen, gerannt.

Leer gewordene Wohnungen nicht mehr vermietet

Vor zwei Jahren wurde das Haus an einen Investor verkauft. Wir rechneten mit dem schlimmsten. 770,- kalt, 150 Quadratmeter. Aber wir waren in unserem Viertel angekommen, unsere Kinder gingen in den in der Nähe gelegenen Kindergarten und die befürchtete Mieterhöhung blieb aus. Zwischenzeitlich zogen Mietparteien aus. Die Wohnungen wurden nicht mehr neu vermietet.

September 2020, hinter uns lagen Corona-Monate. Seit Ausbruch der Pandemie hatten wir den ganzen Wahnsinn aus Homeoffice, Kinderbetreuung und dem Alltag der Verunsicherung irgendwie bewältigt bekommen. Der schmucklose Hof des Hauses hatte sich währenddessen zum Spielplatz unserer Kinder entwickelt. Wir hatten Glück, sichere Jobs in leitenden Positionen.

Fremde Personen begannen, das Haus anzuschauen

Gegen Ende des Sommers begannen fremde Personen, sich das Haus anzuschauen. Zufällige Begegnungen mit Männern in Anzügen, deren Gespräche im Treppenflur zu hören waren, wenn es um „hundert Einheiten in Leipzig“ ging. Ende September trat ein Mann an mich heran, während ich mit meinen Kindern im Hof spielte und teilte mir mit, er sei der neue Eigentümer des Hauses. „Sind das Ihre Fahrräder in dem Schuppen? Die müssen alle raus. Der Schuppen kommt weg, wir machen einen schönen Garten hin. Wir machen alles neu.“ Ohne sich vorzustellen, ohne einen Namen, ein Schreiben oder irgendwas begannen zwei Wochen später Kernsanierungsarbeiten in den leeren Wohnungen und dem Treppenhaus. Wir versuchten, von der Hausverwaltung in Erfahrung zu bringen, was hier vor sich ging.

Schutt, Staub und nackte Wände

Beim Verlassen unserer Wohnung starrten wir jetzt auf die nackten Wände eines mit Schutt und Staub eingedeckten Treppenhauses. In den Treppenfluren lagerten Baumaterialien. Wo zwei Wochen zuvor der Schuppen stand, stapelten sich jetzt Müllsäcke mit Bauschutt, die in unregelmäßigen Abständen an unserem Küchenfenster vorbeiflogen und den Boden bis in die Nachbarhäuser erschütterten.

Post vom Anwalt – „da steht alles drin“

Während sich die Bohrhammer ihren Weg durch die Mauern hämmerten, erhielten wir wiederholt unangekündigten Besuch von dem Mann, der sich als neuer Eigentümer vorgestellt hatte: Er müsse in die Wohnung um neue Heizungsrohre zu verlegen, er müsse Fenster vermessen, um sie vor Weihnachten austauschen zu können, er müsse Wände aufstemmen und einen Schacht freilegen. Wir wiesen freundlich darauf hin, dass uns bisher keine Nachricht oder Bestätigung über den Wechsel der Eigentumsverhältnisse erreicht hätte und wir ihn daher nicht einfach in unsere Wohnung lassen könnten. „Sie bekommen einen Brief von meinem Anwalt, da steht alles drin.“

Der Brief kam. Die verbliebenen Mietparteien – eine weitere Familie, ein älterer Herr, der seit 30 Jahren im Haus lebte und wir – wurden aufgefordert, innerhalb von zwei Monaten die Wohnungen besenrein zu übergeben, da sie in Folge der Sanierungsarbeiten für mehrere Monate unbewohnbar werden würden. Von unserer Hauverwaltung erhielten wir kurz darauf die Bestätigung, dass das Haus verkauft worden sei, aber erst in zwei Monaten an den neuen Eigentümer übergehen würde. Wir suchten den Austausch mit den Nachbarn, setzten Schreiben auf, studierten Gesetzestexte und Mietminderungstabellen. Unser Anwalt beruhigte uns, das Schreiben und die Fristen nichtig seien nichtig, wir müssten niemanden in unsere Wohnung lassen.

Leben im Belagerungszustand

Die Anwälte schickten sich Briefe hin und her, die Bauarbeiten schritten ungehindert fort. Wir führten ein Leben im Belagerungszustand: Durchbrüche in den Wänden, Wasser aus den Decken, überlaufende Sanitäranlagen. Dem älteren Herrn hatten sie seine auf dem Treppenflur liegende Toilette entfernt. Auf Nachdruck wurde sie wieder eingebaut, ohne aber die Tür wieder einzusetzen. Die ganze Situation ging an die Substanz. Zwischenzeitlich mussten unsere beiden Kinder in Quarantäne, während wir im Homeoffice dem Baulärm trotzend arbeiteten und die Kinder betreuten.

Corona-Winter-Camping im Wohnzimmer

Aus Angst vor dem Klageweg und dem Abbruch der Verhandlungen über eine mögliche Abstandszahlung, willigten wir schließlich ein, die Arbeiten in unserer Wohnung zuzulassen. Mitten in einem zugespitzten Corona-Winter campten wir in unserem Wohnzimmer, während wenige Meter von uns entfernt die Wände aufgestemmt wurden und unser Anwalt begann uns darauf einzustimmen, auch ohne eine Abfindung vorzeitig aus dem Mietvertrag auszusteigen. Die Nachbarn ergriffen nach und nach die Flucht. Der ältere Herr hatte aus lauter Verzweiflung einen Aufhebungsvertrag unterschrieben, ohne eine Wohnung in Aussicht zu haben. Wir waren alle am Rande der psychischen Belastbarkeit.

Inzwischen hat ein neues (Corona-) Jahr begonnen. Um uns herum liegen die letzten unausgepackten Umzugskartons in einer Wohnung mit Garten, in einem ruhig gelegenen Teil der Stadt, zum doppelten Preis der bisherigen Miete, versteht sich. Letztlich froh, die Entscheidung zum Auszug gefällt zu haben, war uns klar, dass wir keine wirkliche Wahl gehabt hatten. Das Aufwachen aus einer vermeintlich sicheren Mittelschichtsblase hinterließ uns mit der Idee, dass es anders gehen kann und muss, wenn wir uns nicht mit einem Leben in sozialer Kälte und Rücksichtslosigkeit zufriedengeben wollen.

In unserer Rubrik „So wohnt Wiesbaden“ stellen wir Wohnen in Wiesbaden in seiner ganzen Vielfalt und Unterschiedlichkeit vor – einfach, luxuriös, prekär, einfach, originell, spektakulär, zentral, abgelegen, allein, mit vielen … Ideen und Vorschläge? Gerne an hallo@sensor-wiesbaden.de, Betreff „Wohnen“