Text Hendrik Jung. Fotos Kai Pelka
Straßennamen ehren Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, bei Wahlen macht jeder Fünfte sein Kreuz bei der AfD. Die Zusammensetzung der Bevölkerung ist äußerst bunt, die Umgebung wohltuend grün. Erkundungen zwischen Klischee und Überraschung.
Verschlafen. Überaltert. Fast schon spießig. Das sind Eindrücke aus Klarenthal, die bei einer Besucherin aus Hamburg entstanden sind. Zwei Mal war Sarah Adam mit ihren Kollegen des Projekts „A Wall is a Screen“ in dem Wiesbadener Stadtteil unterwegs. Sie wollten geeignete Gebäude zu finden, die bei einem abendlichen Rundgang als Projektionsfläche für Kurzfilme aus Mittel- und Osteuropa dienen könnten. Eigentlich gedacht als Aktion im Rahmen der zwanzigsten Ausgabe des diesjährigen goEast-Filmfestivals, steht derzeit noch nicht fest, wann es dazu kommen wird. Die Route, die streng geheim bleibt, ist bereits definiert. „Als wir unterwegs waren, haben wir das Viertel als extrem ruhig wahrgenommen. Dabei war es ja noch vor der Kontaktsperre“ berichtet Adam. Vor allem Jugendliche, die Sport treiben und Menschen, die ihren Hund ausführen, seien ihr begegnet. Dennoch habe sie den Eindruck gewonnen, der Stadtteil sei ein bisschen überaltert.
Erbaut, um Wohnraum für viele Menschen zu schaffen
Die Statistik verrät Folgendes über die mehr als zehntausend Menschen, die hier leben: Laut der Zahlen des Jahres 2019 ist gut ein Fünftel der Bevölkerung jünger als 18 Jahre. Etwas mehr als ein Drittel der Erwachsenen ist jünger als fünfzig. Nahezu die Hälfte ist älter, was natürlich auch daran liegt, dass hier mehrere Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren zu finden sind. Als „ein bisschen traurig“ haben die Besucher aus Hamburg die Anbindung an den Öffentlichen Personennahverkehr wahrgenommen. „Zu später Stunde fahren nicht mehr so viel Busse. Was machen denn die jungen Leute, wenn sie mal ins Kino wollen?“, fragt sich Sarah Adam. Ungewöhnlich für einen „A Wall is a Screen“-Spielort sei die große Homogenität in der Struktur des Stadtteils, der in den 1960-er Jahren als „Trabantenstadt“ auf freiem Feld entstanden ist, um für viele Menschen Wohnraum zu schaffen.
Hochhäuser prägen das Bild, sind aber nicht die einzige Wohnform
„Solche Satelliten-Stadtteile sind oft als Problemviertel verrufen. Aber wenn man sich mal hinbegibt und damit auseinandersetzt, merkt man, dass das gar nicht der Fall ist“, verdeutlicht Sarah Adam. Das habe sie auch andernorts schon so wahrgenommen. Hochhäuser sind denn auch eine prägende, aber keinesfalls die einzige Wohnform in dem Ortsbezirk, in dem bei der letzten Bundestagswahl rund 20% die AfD gewählt haben (CDU und SPD je 25%, Grüne 5,6%, Linke knapp, FDP gut 10%).
Einen ganz guten Eindruck gewinnt man von Klarenthal, wenn man sich entlang der grünen Lunge durch den Stadtteil bewegt, die hier zum Glück entstanden ist. Nicht umsonst wählt auch das Team von der aufsuchenden Jugendarbeit den Klosterweg, um mit den Jugendlichen im Viertel ins Gespräch zu kommen. Zwei bis drei Mal pro Woche sind sie bisher hier unterwegs gewesen, bis sie Mitte März aufgrund der Corona-Pandemie ihre Angebote einstellen mussten und vorübergehend lediglich telefonisch oder über digitale Kanäle für die Zielgruppe der zehn- bis 21-jährigen erreichbar sind.
Mit Moja-Logo auf Augenhöhe zu den Jugendlichen
Vor Ort tragen die Mitarbeiter*innen der Mobilen Jugendarbeit eigens Westen mit dem Moja-Logo, um gleich erkennbar zu sein. „Die Jugendlichen wollen auf den Plätzen, die sie vereinnahmen, nicht unbedingt von Erwachsenen angesprochen werden“, verdeutlicht André Kohl. Auch mit Erwachsenen, die sich an den Treffpunkten der Jugendlichen aufhalten, suche man das Gespräch. „Wir dokumentieren, wen wir angetroffen haben. Nicht mit Namen natürlich, aber mit Alter und Geschlecht. Auch wie das Wetter ist und ob an den Plätzen etwas kaputt ist“, erklärt Fenja Hoffmann. Aus Richtung Süden kommend. findet eine erste Begegnung auf dem Schulhof der Carl-von-Ossietzky-Schule statt. „Gefühlt ist hier nicht mehr so viel los, seit klar ist, dass sie abgerissen wird. Es gibt so Plätze, die eine Zeit lang gebraucht und dann nicht mehr frequentiert werden“, berichtet André Kohl.
Auf dem Gummiplatz ist immer was los
Immerhin blickt Moja im Klarenthal bereits auf neun Jahre Erfahrung mit dem Projekt zurück, das der Ortsbeirat co-finanziert. Zentraler Ort ist der sogenannte Gummiplatz, ein Sportfeld, das zum Schulgelände der Geschwister-Scholl-Schule gehört. Hier hat Moja einen Container mit Material stehen, um Freizeitangebote von sportlichen Aktivitäten bis zum gemeinsamen Grillen anbieten zu können. Einmal im Monat macht man sich aber auch mit einer Gruppe von zehn- bis 15-jährigen beim „Clean up your hood“-Tag auf den Weg, um stark frequentierte Plätze zu säubern. „Auf dem Gummiplatz ist immer was los“, weiß Benedict Dondoyano vom Moja-Team. Tatsächlich kommt gleich ein halbes Dutzend Jugendlicher auf das Trio zugestürmt. Beherrschendes Thema an diesem Tag ist, dass gerade entschieden wurde, dass die Schulen zunächst bis zum Ende der Osterferien geschlossen bleiben. „Und zu den Großeltern dürfen wir auch nicht. Das wird langweilig“, befürchtet der 13-jährige Felipe.
Alles okay – bis auf die Drogen
Er findet vor allem die Tagesausflüge mit Moja cool, etwa ins Fußballstadion nach Mainz. Der 14-jährige Cassidy kommt nicht nur zum Kicken hierher, sondern gehört auch zu einer Clique, deren weibliche Mitglieder sich unterdessen mit der 27-jährigen Fenja austauschen. „Ich wohne gerne hier. Es gibt zwar nicht so viele Angebote, aber es ist gut. Wir sind auch viel woanders unterwegs“, urteilt die 16-jährige Michelle, die in Klarenthal aufgewachsen ist. Ein Junge, der mit seinem Bruder Basketball spielt, fühlt sich ebenfalls wohl. „Ich habe viele Freunde hier und alles ist in der Nähe. Der Gummiplatz und die Schule“, findet der 14-jährige Lucas. Auch die offenen Angebote von Moja und dem Stadtteilzentrum seien gut. Manche kritisieren allerdings das Verhalten Älterer, die den Gummiplatz nutzen. „Es ist nicht okay, wenn hier Böller nach Leuten geschmissen oder Drogen verkauft werden“, betont ein 14-jähriger, der namentlich nicht genannt werden möchte. „Wir sprechen auch mit denen. Es ist nicht cool, hier zu kiffen, wenn die Jungen da sind. Die haben ja eine Vorbildfunktion. Aber mehr als drüber reden können wir nicht tun. Wir haben hier kein Hausrecht“, verdeutlicht André Kohl.
Früherer Bundesliga-Ringer will Kids von der Straße holen
Wer eher auf körperliche Ertüchtigung als auf Kiffen steht, der wird nicht weit vom Klosterweg fündig. Vor einem halben Jahr ist hier Waldemar Streib mit seiner Sportschule eingezogen, nachdem er zuvor schon im Kohlheck Kinder, Jugendliche und Erwachsene hauptsächlich im Ringen und im Kickboxen trainiert hat. Der Fokus des ehemaligen Bundesliga-Ringers liegt aber eindeutig auf dem Nachwuchs. „Mein Ziel ist, die Kinder von der Straße zu holen und gute Jugendarbeit zu machen“, betont Waldemar Streib. Als er das Mitte März sagt, sind zwanzig Kinder beim Zirkeltraining am Schwitzen. So lange er seine Sportschule coronabedingt geschlossen halten muss, gibt er seinen Schützlingen über das Internet Tipps, wie sie sich fit halten können. „Heute gibt es Training mit einem Wasserkasten“, berichtet der 33-jährige Mitte April. Er selbst nutze die Zeit mit Bauarbeiten in und an der Sportschule. Wenn die versprochene finanzielle Unterstützung der Landesregierung komme, wolle er in Geschenke investieren, um die Sportler*innen zu motivieren. Denkbar sei etwa die Produktion von Sportschul-Pullovern.
Traum vom eigenen Bundesliga-Team
Der Drittplatzierte der Deutschen Meisterschaften im griechisch-römischen Stil von 2014, der noch vor zwei Jahren auf höchster nationaler Ebene gerungen hat, hat einen Traum. „Mein Ziel ist die Wettkampfförderung von Kindern und irgendwann mit der eigenen Jugend in Wiesbaden in der Bundesliga ringen können“, betont Waldemar Streib. Für diesen Traum würde er sich mehr Unterstützung von der Stadt Wiesbaden wünschen. So sei es für ihn schwierig, für Sportveranstaltungen mal eine Halle zu bekommen. Außerdem würde finanzielle Unterstützung der Schule ermöglichen, auch mal im Ausland an Wettkämpfen teilzunehmen. Im Inland sei er nahezu jedes Wochenende mit seinen Schützlingen auf Turnieren unterwegs gewesen, als noch welche stattgefunden haben. Sehr zufrieden dürfte er Mitte Februar von den Hessischen Meisterschaften in Arheiligen zurückgekommen sein.
Fast ein Drittel hat Wurzeln in Ex-Sowjetunion
Die vier A-Jugendlichen sind dort im griechisch-römischen Stil so erfolgreich gewesen, dass der Kampfsportverein Wiesbaden, dessen Vereinsvorsitzender er ist, die Vereinswertung für sich entschieden hat. Luis Greif und Adam Shtrom sind in ihren Gewichtsklassen sogar Hessenmeister geworden. Beide haben sie in diesem Jahr bereits für den Hessischen Ringer-Verband an einem Kaderturnier des Deutschen Ringer-Bundes teilgenommen. Und beide haben – genau wie ihr Trainer – Vorfahren, die als Russland-Deutsche in die Bundesrepublik gekommen sind. Nicht ungewöhnlich im Klarenthal, wo 2019 nicht weniger als 14,9 Prozent der Bevölkerung als Spätaussiedler geführt worden sind. Die ehemalige Sowjetunion ist denn auch der ausländische Kulturraum, aus dem mit Abstand die meisten Menschen des Viertels stammen. Zu Beginn des Jahres sind es fast dreißig Prozent gewesen. Knapp die Hälfte dieses Wertes erreichen diejenigen, die türkische Wurzeln haben, wiederum halb so viele folgen an dritter Position mit einem familiären Hintergrund in Syrien.
Dass Menschen mit Wurzeln im Kulturraum der einstigen Sowjetunion das gesellschaftliche Leben in Klarenthal entscheidend mitprägen, ist also kein Wunder. Etwa im Veranstaltungsprogramm des Volksbildungswerks, das in diesem Jahr fünfzigjähriges Bestehen feiert. Vor einem Jahr ist dort ein Chor-Angebot entstanden, das sich um Volkslieder aus Russland, der Ukraine und Deutschland dreht. „Es ist besser, wenn man russisch spricht, aber alles ist auch in deutschen Buchstaben notiert, so dass alle mit uns singen können“, erläutert Chorleiter Yukhim Grinman. Wenn die wöchentlichen Proben wieder stattfinden können, würde er sich weitere Verstärkung für zwei Frauen- und eine Männerstimme sowie den Kinderchor wünschen.
Tanz, Genuss und Austausch bei Mini-Disko, Tanz-Café und „Club Samowar”
An Erwachsene wie auch an Kinder richten sich auch die Angebote Matrjoschka Mini-Disko und Tanz-Café, die musikalisch von Peter Schumacher gestaltet werden. „Beim ersten Mal waren dreißig Leute da“, freut sich Nina Japs. Die Russland-Deutsche organisiert schon seit vielen Jahren auch den Club Samowar, bei dem alle Gäste etwas zum gemeinsamen Büfett beisteuern. „Jeder bringt, was er hat. Wer einen Garten hat, bringt auch mal, was er eingelegt hat“, erläutert die 67-jährige. Bei dem Treff könne jeder seine Probleme vortragen und Hilfe finden. Um Menschen im Stadtteil aus der Altersarmut herauszuholen, möchte sich nun das Volksbildungswerk beim Förderprogramm Gemeinwesenarbeit Hessen bewerben. „Wir hoffen, dass wir trotz Corona im Sommer starten können“, betont Geschäftsführer Stefan Knab.
Supermarkt mit Sowjet-Spezialitäten und „Aussiedlerbote“
Von Russland-Deutschen geprägt ist auch das kleine Einkaufszentrum im Norden des Stadtteils. Das beginnt bei Ewald Schulz in dessen Supermarkt neben vielen Spezialitäten aus ehemaligen Sowjetstaaten auch die Zeitung „Aussiedlerbote“ oder Volumenschrumpf-Etiketten erhältlich sind, mit denen sich Ikonen-Motive auf Ostereier bannen lassen. Auch die Friseurin und der Leiter des Reisebüros gehören zu dieser Gruppe. Harald Paschek, an dessen Büdchen sich Kinder mit Eis und Erwachsene mit Bier eindecken, stammt ursprünglich aus Schlesien, und im Restaurant Ararat werden armenische und russische Spezialitäten angeboten. Aber es gibt auch eine afghanische Moschee und eine türkische Bäckerei. Dort sitzen schon in den letzten Wintertagen die ersten Gäste vor der Tür. „Ich treffe mich gerne mit meinen Freundinnen hier oder in der anderen Bäckerei.
Sonst gibt es ja nichts“, berichtet die aus Polen stammende Agnießka. Trotzdem fühle sie sich im Klarenthal sehr wohl. Zum einen wegen der Nachbarschaft. „Meine 15-jährige Tochter kennt hier jeder. Die geht nicht verloren“, erläutert die 38-jährige schmunzelnd. Zum anderen wegen der Nähe zur Natur, denn von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung zum ehemaligen Kloster, dem der Stadtteil seinen Namen verdankt sowie in den Stadtwald oder zum Tier- und Pflanzenpark Fasanerie.
Stadtteil-Steckbrief
Entstehung: 1964, entwickelt nach Plänen von Ernst May durch die Nassauische Heimstätte. Name: bezieht sich auf ehemaliges Kloster Klarenthal (1296-1559), das in Teilen noch erhalten ist. PLZ: 65197. Ortsvorsteher: Gunther Ludwig (SPD). 10.654 Einwohner*innen (Wiesbaden gesamt 290.560), jünger 18 Jahre 20,5% (17%), älter 75 Jahre 14,5% (10,4%). Ein-Personen-Haushalte 75+ 13,5% (7,6%). Anteil Migrationshintergrund 55,4% (38,5 %), Spätaussiedler 14,2% (3,8%). Arbeitslosenquote 10,8% (6,8%), Bezieher*innen SGB II < 65 Jahre 23,4% (13,2%). Eigenbezeichnung: Das grüne Tor nach Wiesbaden.
Klarenthaler Spezialitäten
Klarenthal hat manches, was andere Wiesbadener Stadtteile nicht haben: Einen eigenen Fernsehsender – „K4“ heißt das Stadtteilfernsehen mit spannenden Beiträgen, zu finden auf YouTube. Den jährlichen Klarenthaler Hochhauslauf. Eine Schule mit besonderem pädagogischem Konzept – den Campus Klarenthal. Ein eigenes Concierge Team im Hochhausquartier als Ansprechpartner für alle Mieter*innen der Geno50, der GWW Wiesbaden und der Nassauischen Heimstätte. Ein Fußball-Bundestrainer als Bewohner. „Der Mann mit der Mütze“, Helmut Schön (1915-1996), lebte in Klarenthal in der Paul-Lazarus-Straße 2. Das Bundesleistungszentrum für Schießsport des Deutschen Schützenbundes (DSB). Den Tier- und Pflanzenpark Fasanerie.
Sehr interessanter Querschnitt durch Klarenthal