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Unruhe im Karton: Eine neue Partei will Europa progressiv in Form bringen. Die Basis: 30 Kilo Unterstützung

Fröhliche Runde voller Europa-Begeisterung: (von links) Mirco Lattwein, der Europawahl-Kandidat Florian Köhler-Langes, Tilmann Potthof, Magdalena Ragus und Daniela Gust.

Von Carolin Wollschied. Fotos Samira Schulz, Dirk Fellinghauer.

Zwei Kisten, bis zum Rand voll mit 5373 Formularen, 30 Kilogramm schwer. Sie stehen auf einem Holz-Rollwagen im Foyer des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden. Darum versammelt acht junge Menschen. Es herrscht Aufregung im sonst eher unaufgeregten Foyer der Behörde. „Wir werden die Unterlagen jetzt auf Vollständigkeit prüfen“, sagt eine Dame, die im Büro des Bundeswahlleiters mit Sitz im Statistischen Bundesamt arbeitet. Um die Gruppe herum klickt es, Fotos werden geschossen. Die Dame blickt nochmal in die Gesichter der Gruppe, nickt und fährt den Wagen mit den Kartons voller Papier in Richtung Aufzug. Freude bricht aus, einige klatschen. Beamte in Anzug oder Kostüm, die vorbeikommen, schauen interessiert.Gestartet ist die Gruppe junger Menschen an diesem Montagmorgen in Mainz am Hauptbahnhof. Für die Abgabe der Formulare sind sie hier aus ganz Deutschland zusammengekommen, von Berlin über Aachen bis Frankfurt. Ihr Ziel war die Behörde des Bundeswahlleiters. Dorthin ging es mit dem Zug, möglichst viele Menschen sollten sie sehen. Die Gruppe ist Teil einer jungen, laut Selbstbeschreibung paneuropäischen und progressiven Partei, Volt. Ausgestattet sind sie mit Fahnen, Flyern und Pullovern, darauf das Logo von Volt – alles in einem auffälligen lila, der Farbe der Partei. Immer in ihrer Mitte ist ein roter Buggy, der an diesem Tag das Wichtigste transportiert: die Formulare. Normalerweise darf die Tochter eines Parteimitglieds in ihm Platz nehmen.

Was einfach klingt, wird zur Mammutaufgabe

An jenem Montag entscheiden die Formulare über die Zulassung der Partei zur Europawahl, dafür müssen sie in Wiesbaden beim Bundeswahlleiter abgegeben werden. Die Hürde: mindestens 4000 gesammelte sogenannte „Unterstützungsunterschriften“. Diese vorzulegen, schreibt das Europawahlgesetz für Parteien vor, die nicht im Bundestag oder einem Landesparlament vertreten sind. Die Mitglieder von Volt haben in den letzten Monaten nicht nur 4000, sondern 5373 Unterschriften gesammelt – und diese sind teilweise weit gereist.

Allein 2500 Kilometer seien sie durch ganz Deutschland gefahren, erzählt Tilman Potthof. Der 31 Jahre alte Mainzer hat gemeinsam mit anderen Parteimitgliedern die Unterschriftensammlung für Volt organisiert. Was einfach klingt, entpuppte sich als Mammutaufgabe: Jeder Unterstützer muss ein Formular ausfüllen, seine Gemeinde wiederum mit Stempel bestätigen, dass die Person dort gemeldet und wahlberechtigt ist. „Das war echt eine krasse logistische Aufgabe“, sagt Potthof, ein schnelles Lachen huscht über sein Gesicht. Anfang des Jahres habe er sich mit anderen Parteimitgliedern in Berlin getroffen, die Formulare sortiert, an alle zuständigen Gemeinden geschickt.

Europawahl als Generationenaufgabe

Bis zur Europawahl sind es zum Zeitpunkt der Unterschriftenübergabe keine drei Monate mehr. Fast überall in Europa sind nationalistische Parteien auf dem Vormarsch, der Brexit steht kurz bevor. Paul Loeper, Vorstandsmitglied bei Volt, spricht von der Wahl als einer „Generationenaufgabe“. In diese Stimmung hinein wurde vor zwei Jahren Volt als grenzübergreifende Partei gegründet, als eine Bewegung für Europa. Heute ist sie europaweit in 31 Ländern vertreten, hat mehr als 15.000 Unterstützer – Tendenz steigend. Der Name ist Programm: Volt steht für Energie, Energie für Europa. Die politischen Ziele: Lösungen auf EU-Ebene, eine gemeinsame europäische Regierung, ein föderales Europa. Ausführlich formuliert ist das Programm, das nach eigener Einschätzung „zugleich visionär in seinen Ambitionen und realistisch in seiner Umsetzung ist“, in der gut zwanzigseitigen „Amsterdam Deklaration“. Um es umzusetzen, muss die Partei aber erst einmal in das Europaparlament einziehen.

„Meet & Greet“ heißt das Format, mit dem die Volt-Akteure mit Interessierten ganz locker ins Gespräch kommen möchten. In Wiesbaden finden die Treffen im 60/40 am Schlachthof statt – das letzte Mal vor der Wahl am 21. Mai.

Auf dem Weg zum Bundeswahlleiter sind manche Passanten von der Gruppe genervt. „Nicht schon wieder ‘ne Demo“, sagt ein Mann im Vorbeigehen. Im vollen Zug sind die Gemüter besser gestimmt. „Wer seid ihr?“, „Wofür steht ihr?“, fragen manche. Paul Loeper freut sich. Er nutzt den Moment, um Flyer zu verteilen, die er in seiner Jackentasche verstaut hat. Sie schauen ein wenig heraus, sodass man darauf in weißen Lettern „Europa-Fan“ lesen kann. Immer wieder auf dem Weg zum Bundeswahlleiter versucht Loeper die Flyer unters Volk zu bringen und Menschen von ihrer Idee zu begeistern.

Den Job gekündigt, um sich Volt zu widmen

Währenddessen fragen immer wieder welche aus der Gruppe Tilman Potthof, was er jetzt, nach Übergabe der Unterschriften, mit seiner vielen Zeit anfangen will, und ob er sich wie ein Vater fühlt, dessen erwachsene Kinder ausziehen. Das Sammeln und Organisieren der Unterschriften hat ihn viel Zeit gekostet. „Letztes Jahr hatte ich noch 30 Überstunden auf der Arbeit, jetzt bin ich mit zig Stunden im Minus“, erzählt Potthof. Er arbeitet bei einem Wiesbadener IT-Dienstleister als Software-Entwickler, nach der Europawahl will er die Stunden wieder reinholen. Einige nicken und stimmen ihm zu – sie kennen das. Andere wie Paul Loeper haben ihren Job ganz gekündigt, um sich Volt und der bevorstehenden Aufgabe, der Europawahl und dem Wahlkampf, voll und ganz zu widmen.

Angekommen am Statistischen Bundesamt, werden noch schnell Fotos geschossen, ein Video gedreht, Unterlagen überprüft, die letzte Mappe geschlossen. Dann geht es hinein, in das schicke Foyer. Die Gruppe: voller Spannung. Die Frauen am Empfang: eher gelangweilt. „Welche Partei seid ihr?“ Die einstimmige Antwort: „Volt!“. Jetzt werden auch die zwei Frauen neugierig, sie verfolgen die Szene. Doch erstmal heißt es warten, bis die 30 Kilogramm Papier abgeholt werden.

Historischer Moment: Übergabe der Unterstützungs-Unterschriften an den Bundeswahlleiter im Statistischen Bundesamt. Die Dame, die die Kartons entgegennimmt, stimmt die aus ganz Deutschland angereiste Volt-Truppe ein: „Mit über 5000 Unterschriften müssen Sie sich eigentlich keine Gedanken über die Zulassung zur Wahl machen.“

Nach zehn Minuten erscheint die Dame aus dem Büro des Bundeswahlleiters. Bevor sie wieder verschwindet, sagt sie: „Mit über 5000 Unterschriften müssen sie sich eigentlich keine Gedanken über die Zulassung zur Wahl machen.“ Die Parteimitglieder freuen sich riesig. Potthof, der an diesem Tag Geburtstag hat, sagt erleichtert: „Das ist das schönste Geschenk!“ Bevor sich die Gruppe jetzt wieder in ganz Deutschland zerstreut, wollen sie mit einem Kaffee in der Cafeteria des Statistischen Bundesamts anstoßen. Loeper blickt die anderen an und fragt: „Hättet ihr das vor einem Jahr gedacht, dass wir mal beim Bundeswahlleiter in die Cafeteria gehen?“ Die Dame, die die Unterschriften entgegen genommen hatte, sollte Recht behalten: „Volt“ steht auf dem Stimmzettel zur Europawahl: auf Position 40, zum Abschluss einer langen Liste von – bekannten und unbekannten, etablierten und neu aufgetauchten, realpolitischen und radikalen und von europafreundlichen-, skeptischen-, kritischen-, feindlichen und –begeisterten – Parteien.

Der „Volt-Citylead Mainz Wiesbaden“ lädt alle Interessierten zum offenen Meet&Greet-Abend : 21. Mai, 20 Uhr, 60/40 Wiesbaden. www.voltdeutschland.org/mainz_wiesbaden

Das 5+1-Prinzip: Volt hat 5+1 grundlegende Herausforderungen definiert, die sie in jedem europäischen Land angehen wollen. Die ersten 5 Herausforderungen – Smart State, Wirtschaftliche Erneuerung, Soziale Gerechtigkeit, Globales Gleichgewicht, Bürgerbeteiligung –  werden jeweils auf nationaler Ebene angepasst, um alle lokalen Gegebenheiten mit einbeziehen zu können. Die „+1-Herausforderung“ steht für das Volt-Vorhaben, die EU zu reformieren und zu stärken und ist somit in allen nationalen Programmen identisch. 

Informieren und wählen: Fakten, Initiativen und Aktivitäten zur Europawahl

Die Europawahl findet in den Mitgliedsstaaten vom 23. bis 26. Mai statt, in Deutschland am 26. Mai von 8 bis 18 Uhr, in Wiesbaden zeitgleich mit den OB-Wahlen. Briefwahl ist bereits möglich. Wahlberechtigt sind alle EU-Bürger ab 18 Jahren. Jede/r Wahlberechtigte hat nur 1 Stimme für 1 Partei, Einzelpersonen können nicht direkt gewählt werden. Sage und schreibe 40 Parteien und Gruppierungen treten in Deutschland an. Deutschland entsendet 96 Abgeordnet in das Europäische Parlament. Diese werden nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts bestimmt. Die Wahlperiode beträgt fünf Jahre.

www.wiesbaden.de/rathaus/stadtpolitik/wahlen/europawahl/europawahl.php Alle Infos zur Europawahl in Wiesbaden.

www.diesmalwaehleich.eu: „Diesmal genügt es nicht, nur auf eine bessere Zukunft zu hoffen: Diesmal müssen wir alle Verantwortung übernehmen. Deshalb solltest Du diesmal nicht nur selbst wählen, sondern auch andere motivieren, ihre Stimme abzugeben“.

www.europeanmay.eu: „Unser Grundgedanke ist, darauf aufmerksam zu machen, dass der bessere Weg `mehr Europa` lautet – und nicht weniger.“  Um diese Meinung in die Gesellschaft zu bringen, organisiert das Bündnis vom 1. bis 9. Mai eine umfangreiche Aktionswoche, unter anderem in Mainz.

www.what-europe-does-for-me.eu: Wie beeinflusst die EU unseren Alltag? Wie wirkt sie sich auf unsere Arbeit, unsere Familie, unsere Gesundheitsversorgung, unsere Hobbys, unsere Reisen, unsere Sicherheit, unsere Verbraucherentscheidungen und unsere sozialen Rechte aus? Und wie ist die EU in unseren Städten und Bundesländern gegenwärtig?