Text: Anna Ripka, Hans Lilienthal, Christine Giani, Andreas Hoffmann. Fotos: Samira Schulz.
Ein geplantes Flüchtlingsheim erzürnt potenzielle Nachbarn. Wie wäre es anstelle von plakativer Polarisierung mit Dialog, Transparenz und Begegnung?
Das geplante Flüchtlingsheim im Didier-Gebäude in der City Ost, in das nun die ersten Bewohner:innen eingezogen sind, sorgt für Aufruhr. Die Stadt hält sich bedeckt. Eine Bürgerinitiative mobilisiert, protestiert und prozessiert mit Plakaten. Doch Polarisierung ist das Letzte, was wir als Gesellschaft brauchen. Mal losgesponnen – wie könnte hier eine Utopie aussehen, eine Vision für Wiesbaden? Vielleicht in etwa so:
Wiesbaden an einem warmen Sommertag in naher Zukunft. Im Villenviertel im Südosten der Stadt ist es ruhig und friedlich. Die Autos fahren Schritttempo, Menschen flanieren unter den alten Bäumen, man kennt sich, freundliche Grüße fliegen hin und her. Aus dem Didier-Gebäude in der Lessingstraße erklingt Livemusik, man hört Menschen lachen, Kinder jauchzen und Töpfe klappern. Was hier los ist? Ein Sommerfest!
Die Wiesbadener und Wiesbadenerinnen hatten den weitläufigen Bau zu einem Ort der Begegnung entwickelt. Knapp 200 Menschen lebten nun in dem alten Gebäude, überwiegend Familien, die aus größter Not aus ihrer Heimat geflohen waren, Angehörige verloren hatten und Hab und Gut zurücklassen mussten. In Wiesbaden sahen sie allmählich wieder eine Zukunft für sich.
Ein Rückblick: Unmut und Konflikt
Dabei hatte es mit großer Verunsicherung und einem Konflikt begonnen: Die fehlende Kommunikation der Stadt hatte bei den Anwohnerinnen und Anwohnern Unmut ausgelöst. Es kam zum Streit zwischen der Stadt und den Anwohnern, es ging um Denkmalschutz, Vorwürfe an die Stadtentwicklungsgesellschaft SEG, ein bereits existierendes Flüchtlingsheim in unmittelbarer Nähe, eine marode Schule, Eilanträge vor Gericht – alles schaukelte sich hoch. Eine Bürgerinitiative hatte mit ihren Bannern die Menschen im Viertel zusätzlich verunsichert und für Spaltung gesorgt. Die Fronten waren verhärtet.
Doch dann: ein Umdenken
Es war die Zeit der großen Demonstrationen gegen rechts. Allein in Frankfurt, Mainz und Wiesbaden hatten 70.000 Menschen demonstriert, alle friedlich und mit einer klaren Botschaft für eine offene, vielfältige Gesellschaft. Das machte Mut, die Zeit der Ohnmacht war vorbei. Viele überlegten sich: Demonstrieren ist wichtig, doch was machen wir nach den Demos? Wie lässt sich die neue Hoffnung ins Handeln überführen? Was können wir beitragen? Wo können wir mit unserer positiven Energie etwas Gutes, Verbindendes bewirken?
Spinnen wir die Vision weiter
Niemand musste das Rad neu erfinden. In Wiesbaden gab es bereits sehr viele Menschen, die Erfahrung in der Integration von Flüchtlingen hatten oder sich als Bürgerinnen und Bürger dieser schönen Stadt engagieren wollten. Nach einem Aufruf im sensor (genau der, den Sie gerade in den Händen halten!) hatten sich etliche gemeldet und sich zusammengeschlossen.
Die Stadt hatte viel zum Erfolg beigetragen: Man war aktiv auf die Anwohner:innen zugegangen und hatte für Transparenz gesorgt. Der Diskurs hatte sich versachlicht, man hörte einander wieder zu, verstand die Ängste und Verunsicherung auf der einen Seite und die Sachzwänge auf der anderen Seite. Klar war, es gab eine Notwendigkeit, die Geflüchteten aufzunehmen. Klar war auch, es mussten Lösungen her, die allen gerecht wurden.
Das gemeinsame große Paket
Und so hatten alle gemeinsam ein großes Paket geschnürt: Eine Vertreterin der Stadt hatte ihr Büro im Didier-Gebäude bezogen und stand für Gespräche bereit. Sozialdienste organisierten Begegnungen vor Ort. Landsleute, die schon länger in Wiesbaden lebten, halfen den Neuen beim alltäglichen Ankommen. Es wurden Patenschaften zwischen Anwohnern und den neuen Nachbarn etabliert, Experten für interkulturelle Kommunikation unterstützten bei der Verständigung untereinander, pensionierte Lehrer gaben Deutschunterricht, Wiesbadener Unternehmen engagierten sich im Rahmen ihrer CSR-Aktivitäten, die neuen Nachbarn luden ein zu Kochkursen und Musikabenden, Kreative gaben Workshops und ehrenamtliche Fußballtrainer gingen mit den Jugendlichen kicken.
Und einmal im Jahr trafen sich alle zum Sommerfest im Didier-Gebäude und feierten zusammen.
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Der Aufruf:
Wir glauben, dass sich dieser Weg gemeinsam beschreiten lässt. Wer möchte mit uns weiterdenken und Ideen austauschen? Wer hat Erfahrungen? Wer weiß, was es wirklich braucht und wie sich alles zusammenbringen lässt?
Wir – Anna Ripka, Hans Lilienthal, Christine Giani, Andreas Hoffmann – freuen uns auf eure Nachrichten unter Wiesbaden-kann-mehr@web.de.
Haben auch Sie eine Vision für Wiesbaden? Schicken Sie uns Ihre Kurzbeschreibung an hallo@sensor-wiesbaden.de. In loser Folge geben wir auf einer Seite Wiesbadener Visionären Raum für ihre Gastbeiträge.