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Vor einem Buch sind alle gleich: Menschen lesen für Menschen – 24 Stunden lang im Wiesbadener Rathaus

Von Stefanie Pietzsch. Foto Samira Schulz

Texte laut vorzulesen, sei ein Gesprächsangebot und fördere die Toleranz, sagen die Macher von „Menschen lesen für Menschen“. Wiesbaden beheimatet heute knapp 300 000 Einwohner. Davon sind 36 Prozent hier geboren. Der Rest stammt aus anderen Teilen Deutschlands oder der Welt. Auch die junge Kurstadt-Geschichte, beginnend im vorletzten Jahrhundert, belegt, dass Wiesbaden von Zuwanderung und damit kultureller Vielfalt geprägt ist. Für Philipp Salomon-Menger, Volkshochschul-Direktor und Mitinitiator der 24-Stunden-Lesung, ein mögliches Indiz der städtischen Offenheit für eine „im ersten Moment vielleicht skurril anmutende Veranstaltung“, wie er sagt: 24 Stunden lang, von Samstag, 17. März, 19.23 Uhr, bis Sonntag, 18. März, 19.23 Uhr, sollen Menschen jeden Alters einander vorlesen und zuhören. sensor ist Medienpartner.

Vielleicht skurril, aber nicht neu ist die Idee einer offenen Lesung in Wiesbaden, die auf 24 Stunden angelegt ist. Bereits 1992 verbuchte „Menschen lesen Menschrechte“ einen großen Erfolg. Vor allem das laut Vorlesen hat die jetzigen Treiber begeistert und deshalb lautet der aktuelle Titel „Menschen lesen für Menschen“. Vorab angemeldete Leser bekommen im Festsaal des Rathauses für jeweils zehn Minuten das Podium, um einen selbst ausgewählten Teil aus großer, kleiner, bekannter oder ferner Literatur vorzulesen.

„Geschriebener Text braucht auch manchmal das laute Aussprechen im Raum mit Anwesenden, damit er eine andere Wirkkraft bekommt.“ Davon ist Frontfrau Ruth Huppert, Leiterin der Evangelischen Stadtakademie, überzeugt. Intonation und Bedeutungen können durch das Vorlesen unterschiedlich transportiert werden. Der vhs-Direktor: „Sich gegenseitig Texte zu erzählen, die eine gesellschaftlich Bedeutung jenseits des eigenen Lebens haben oder persönlich sehr wichtig sind, ist schließlich der Ursprung aller kulturellen Äußerungen in schriftlicher Form.“

Verbinden in der geteilten Stadt Wiesbaden

Lesen sei ein Gleichmacher, sagen die Initiatoren der XXL-Lesung, zu der ausdrücklich auch Schüler und Jugendliche willkommen sind. Bildung und Texte seien losgelöst von Herkunft oder Status. Das Verstehen würde durch die persönliche Sozialisation zwar unterschiedlich sein, doch sei gerade deshalb der Austausch über Literatur so befruchtend. Dem vorausgegangen war die Feststellung neben der kulturellen Vielfalt, dass Wiesbaden quasi eine geteilte Stadt ist, in der es auf der einen Seite viel Wohlstand auf der anderen Seite sehr viel weniger gibt. Auch diese Tatsache ist für die Macher ein guter Grund, solch eine Lesung in Wiesbaden zu machen. Letztlich gehöre Offenheit auch für das Bündel an Akteuren dazu, die in Wiesbaden verwurzelt oder verortet sind und bereit sind, etwas auf die Beine zu stellen, und im Rathaus als „dem zentralen Ort der Bürger“, wie Huppert bemerkt. „Wir haben hier in Wiesbaden erlebt, als es den AfD-Aufmarsch gab, dass die Zivilgesellschaft ganz schnell aktiviert werden konnte – auf einen friedliche, positive nach vorne gewandte Art“, erinnert Salamon-Menger. Dass ihre Veranstaltung thematisch sehr gut in die vom 12. bis 25. März in Wiesbaden laufenden „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ passt, fügte sich im Planungsjahr ergänzend hinzu.

24 Stunden vs. 160 Zeichen

Was kann und soll aber eine Veranstaltung, bei der 24 Stunden lang vorgelesen wird, bringen? „Wir lesen heute so viele Kurztexte und Nachrichten oder Kommentare zu Befindlichkeiten. Dazu soll die 24 Stunden-Lesung eine Art Gegenentwurf sein: Sich mit Muse großen Gedankengütern aussetzen statt im Zeitraffer auf 160 Zeichen Zusammenfassung, “ antwortet Ruth Huppert. Das Beispiel einer Zusammenfassung eines Klassikers der Weltliteratur bringt diesen Gedanken ganz gut auf den Punkt: „Kleine Leute kriegen große Probleme bei dem Versuch, gestohlenen Schmuck zurückzugeben.“ Irgendwie erfasse es Tolkiens „Herr der Ringe“, aber es fehle doch ganz Wesentliches. „Genau das wollen wir nicht, wir wollen nicht Texte zusammenfassen, sondern es soll ein Stück aus einem Text gelesen werden. Die Literarizität soll erhalten bleiben, “ ergänzt Salamon . Dabei müssen es keine großen Klassiker sein. Erlaubt ist, was gefällt und was einen möglicherweise persönlich geprägt hat – ob Janoschs „Oh, wie schön ist Panama“, Luthers Tischreden oder Lyrik der Persischen Moderne.

„Menschen lesen für Menschen“ findet, mit sensor als Medienpartner, zwischen 17. März, 19.23 Uhr, und 18. März, 19.23 Uhr, im Festsaal des Rathauses Wiesbaden statt. Für die 10-Minuten-Leseslots können sich alle, die möchten, auf www.lesen-fuer-menschen.de anmelden. Zum Zuhören sind natürlich alle jederzeit rund um die Uhr willkommen. Initiatoren und Organisatoren sind die Wiesbadener Einrichtungen und Institutionen Katholische Erwachsenenbildung, Evangelische Stadtakademie, Jüdische Gemeinde, Jugendinitiative Spiegelbild, Hochschule RheinMain, Volkshochschule, Friedrich-Ebert-Stiftung, Kulturamt.

www.lesen-fuer-menschen.de, www.spiegelbild.de