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Wir können auch anders – Unbekannter Rheingau

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Text Hannah Weiner und Hendrik Jung
Fotos Kai Pelka

Direkt vor der Wiesbadener Haustür erstreckt sich eine Region, die vor Tradition und Klischees strotzt. Es ist aber auch eine spannende, moderne und überraschende Region im Auf- und Umbruch. sensor hat Rheingauer aufgespürt, die etwas anders sind als viele andere.

Vom Klassenzimmer zum Liveclub
Sie sind enthusiastische Kultur-Liebhaber. Seit sechs Jahren investieren Volker Nägler und Sabine Bierfreund viel Zeit und jede Menge Geld in die Alte Schule von Stephanshausen. Sie haben die einstige Dorfschule des Örtchens mit seinen heute etwa 1000 Einwohnern in einen einzigartigen Veranstaltungsort verwandelt. Dort, wo früher die Kinder paukten, staunt  das Publikum heute über eine Clubatmosphäre, die es in Sachen Ambiente, Ausstattung und künstlerischem Niveau mit Großstädten aufnehmen kann. Schon das Foyer sorgt für Aha-Erlebnisse. „Jedes Gebäude wird durch solch einen Turm aufgewertet“, findet Bau-Ingenieur Volker Nägler, der beim Umbau zum „Tower of Power“ viel selbst gestaltet hat. Da der Schlagzeuger der Formation Beat Box schon seit 50 Jahren selbst Musik macht, hat er auch bei der technischen Ausstattung seine Idealvorstellungen verwirklicht. So ist die Bühne ein eigener, auf Gummi gelagerter Resonanzkörper, der keinen Kontakt zur Wand hat. Die Musiker können sich in einem Proberaum warm spielen, und für weibliche Künstler gibt es eine zusätzliche eigene Backstage mit Schminktisch und Garderobenspiegel. Der exponierteste Platz ist aber ein Balkon im Zuschauerraum, der über eine Leiter zugänglich ist. „Die Gäste, die dort Platz nehmen, tun das unter dem Beifall des Publikums“, berichtet Sabine Bierfreund. Kein Wunder, dass sämtliche Veranstaltungen vom Chanson-Abend über hochkarätige Jazz- und Blueskonzerte oder die Ü70-Party bis zum Burlesque-Workshop und Theater- oder Kabarettabend durchweg ausverkauft sind. www.alteschule-rheingau.de

Käse in Vollendung

Sie sind absolute Genussmenschen. Reiner Wechs und seine Tochter Anke Heymach haben daraus ihren Beruf gemacht. Als „Rheingau-Affineure“ veredeln sie Käse, die aus kleinen, oft bio-zertifizierten Käsereien stammen, mit Rheingauer Produkten wie Riesling oder dem Trester des Spätburgunders. „Gute Lebensmittel müssen lange reifen“, findet Reiner Wechs. Einige der Käse sind deshalb in vier Kellern gereift. Die letzte Station ihrer Entwicklung ist ein seit mehr als 250 Jahren als Weinkeller genutztes Gewölbe des Erbacher Weinguts Jakob Jung. Dessen Mikroflora macht Sorten wie Zisterzienserkäse, Spätburgunderkäse oder Rheintaler unverwechselbar. „Man schmeckt die Käse, die hier gereift sind, absolut raus“, betont Anke Heymach. Etwa 15 verschiedene Variationen gibt es derzeit. Ständig werden neue Ideen umgesetzt. Gerade sei man dabei einen Blauschimmel-Käse mit Spätburgunder zu besprühen und mit Trauben zu belegen. Solche Spezialitäten sind außer in der Gastronomie bislang ausschließlich im Eltviller Käseladen erhältlich. Ab diesem Monat wird die 32-jährige jedoch in ihrem Käse-Mobil auch auf Messen und Veranstaltungen vertreten sein, wie etwa am 9. und 10. November bei der Premiere der Gaumentestspiele im Marktgewölbe Wiesbaden. www.rheingauer-affineur.de

Rheingau-Rebellen

Der Rhein glitzert zwischen den Weinbergen, Wanderer genießen die milde Herbstsonne,  junge Familien lassen Drachen steigen. Mitten in dieser ländlichen Idylle Geisenheims entsteht zwischen Räucherstäbchenschwaden, Buddha-Figuren und Fotos von nackten Brüsten extravagante Körperkunst. Seit 13 Jahren sind Alex Witowski und Bamba de Rosa die Chefs vom „Rheingau Tattoo“. Hier wird gepierct, tätowiert und erotisch fotografiert. Alex, auf dessen Schädel ein buddhistisches Gebet prangt, kam als Sozialhilfe-Empfänger nach Geisenheim. Er hat hier seine Liebe gefunden und den Traum vom eigenen Studio verwirklicht. Bamba wurde vor 46 Jahren in Eltville geboren. Sie hat ihr ganzes Leben inklusive Punkvergangenheit im Rheingau verbracht. „Früher stand hier in jedem Bus „Bamba for President“ geschrieben“, lacht sie. Konventionell ist bei diesem Paar nichts. Von RTL 2 ließen sie sich begleiten, „um Werbung zu machen“. Gelegentlich kommt ein thailändischer Mönch zu Besuch um heilige Tattoos zu stechen. So leben sie etwas abseits der Norm und genießen es: „Wir werden unseren Rheingau nie verlassen.“ www.rheingau-tattoo.de

Wildes Wohnen

Nicht weit vom „Rheingau Tattoo“ entfernt wohnt Dirk Klinner. Der Eventmanager, der auch treibende Kraft hinter dem jährlichen „Besser als nix!“-Festival und seinem nagelneuen Ableger „Tonflimmern – das Video-Festival“ ist, lebt direkt am Geisenheimer Bahnhof in einer senfgelben, etwas verwunschenen Villa. Vor 15 Jahren hat er sich für eine ungewöhnliche Art des Wohnens entschieden: „Die Dachterrasse“ – eine Mischung aus überdimensionaler WG und Wohnprojekt. Seit über 30 Jahren vermieten die Winzer Eva und Lothar Grimm auf den fast 1000 Quadratmetern ihres Weinguts sechs Wohnungen. Es ist ein Biotop in den Zeiten der anonymen Nachbarschaft. Spürbar ist die kollektive Philosophie der offenen Türen. Das gemeinsame Leben der zurzeit 15 Bewohner findet auf der Terrasse statt – dem liebevoll mit Blumen, Obst und Gemüse bepflanzten Herz der Hausgemeinschaft. Früher ging es oft hoch her, erinnern sich die Vermieter Grimm an die „wilden 80er“. Studenten, Auszubildende und Berufstätige aus 17 Nationen kamen hier zusammen. Heute ist Klinner 45 und lebt mit Freundin und Kindern noch immer hier. Anfang nächsten Jahres zieht er „mit einem weinenden Auge“ aus. Das bedeutet aber nicht, dass es dann ruhiger wird. Die neue Generation steht bereits in den Startlöchern. www.besser-als-nix-festival.de , www.tonflimmern-festival.de

Die 6000-Liter-Hotelzimmer

Sie ist ein Kind der Drosselgasse. Im dortigen Hotel Lindenwirt ist Marlene Breuer am wohl bekanntesten aller Orte im Rheingau aufgewachsen. „Im Winter sind wir in der Drosselgasse Schlitten gefahren“, blickt die 63-jährige zurück. Abends sei sie mit Melodien wie „Warum ist es am Rhein so schön?“ eingeschlafen, denn täglich zwischen 14 und 24 Uhr gibt es hier Livemusik. „Angefangen hat das gegenüber im Drosselhof mit Musikanten, die aufgetreten sind, um sich ein Glas Wein zu verdienen“, erläutert Marlene Breuer. Heute gehört das zu den Markenzeichen der Drosselgasse. Genau wie die sechs historischen Weinfässer im Hof des Hotels Lindenwirt, die zum Angebot der insgesamt 190 Betten gehören. Denn in den bis zu 6.000 Liter fassenden Fässern sind jeweils zwei Betten eingerichtet. Gäste von bis zu 1,85 Meter Körperlänge können hier einmal ganz und gar in die Welt des Weines eintauchen. Für längere Weinfreunde steht im hinten angebauten Wohnzimmer ein drittes Bett zur Verfügung. In einem weiteren Bauteil befindet sich außerdem ein geräumiges Bad. „Das Angebot ist sehr gefragt, vor allem für Gutscheine“, berichtet Marlene Breuer, die den Betrieb seit 1976 gemeinsam mit Bruder Peter Ohlig führt. Warum es am Rhein so schön ist, weiß sie also genau: Man ist selten allein und niemand bleibt lange durstig. www.lindenwirt.com

Ein Mann für alle Felle

Er ist ein Pionier seiner Branche. In diesem Monat feiert Volker Träuptmann, alias Drumboo, das zehnjährige Bestehen seines Unternehmen Drumsigns. Als der 32-jährige im letzten Moment seinen Ausbildungsplatz im Grafik-Bereich wieder abgesagt bekommt, macht er sich einfach selbstständig. Sein Produkt: Frontfelle für Bass Drums. „Ein Schlagzeug tauscht man nicht so schnell aus wie eine Gitarre. Das muss cool aussehen. Außerdem gibt es in vielen Clubs keine Möglichkeit ein Banner zu hängen, also druckt man sein Logo auf das Frontfell“, erläutert der Unternehmer, der selbst seit 16 Jahren trommelt. Zu seinen Kunden gehören so bekannte Szene-Größen wie Flo Dauner von den Fantastischen Vier, Dennis Poschwatta von den Guano Apes oder Gomezz von Reamonn, dessen Trauzeuge er ist und der bei Auftritten im Rhein-Main-Gebiet regelmäßig in Winkel übernachtet. Der berühmteste von allen dürfte jedoch Kiss-Trommler Eric Singer sein. Dieser Kunde hat Volker Träuptmann nicht nur viele Türen geöffnet. Es ist für ihn auch eines der größten Privilegien, dass er durch seinen Beruf mit dem Musiker befreundet sein kann, wegen dem er einst selbst angefangen hat zu trommeln. www.drumsigns.com

Weg von der Flasche

Jürgen Cantstetter hat eine ungewöhnliche Leidenschaft. Der 76-Jährige ist stolzer Besitzer von Europas größter Sammlung von Kunst-Weinetiketten. Im eigenen Keller hat er rund 18000 Exemplare zusammengetragen, die fein säuberlich in Ordnern abgelegt sind oder in kleinen Bilderrahmen an der Wand hängen. Klar, dass er dazu auch den maßgeschneiderten Verein gegründet hat. Der „Deutsche Freundeskreis Weinetiketten-Sammler“ mit Hauptsitz in Rüdesheim veranstaltet seit 1997 Tauschbörsen und Weinwandertage. „Überall werden wir ein bisschen belächelt, nur hier nicht“, freut sich der Rentner. Das Sammeln und Tauschen ist eine Wissenschaft für sich. Von der Weinflasche bis an Cantstetters Keller-Wand ist es ein oft steiniger Weg. Beschaffung und besonders das Ablösen, für das es spezielle Folien- oder Flüssigkeitstechniken gibt, sind Herausforderungen. Für die „Must-Haves“ unter den Etiketten nahm er in 40 Jahren Sammler-Karriere fast alles in Kauf und ist in der DDR sogar mehrfach verhaftet worden. Über sich selbst und die rund 100 Mitglieder des international vernetzten Freundeskreises muss er selbst manchmal schmunzeln: „Wir sind alles Bekloppte.“ www.weinetikettensammler.de

Ran an die Flasche

Für seinen Wein ist der Rheingau weltbekannt. Bier dagegen hat bisher keine große Rolle gespielt. Wenn es nach Martin Volz, Getränkehändler aus Rüdesheim und selbsternannter Bundesdurstbeauftragter, geht, soll sich das jetzt ändern. Für die regionspatriotischen unter den Biertrinkern hat er eine 4,9-prozentige Lösung parat: Das Rheingauer Landbier. Volz‘ Vater Robert fand 2005 beim sonntäglichen Aufräumen des Dachbodens eine handschriftliche Rezeptur in altdeutscher Schrift. Woher genau sie kommt, weiß man nicht. „Es stammt wohl aus den 50ern“, vermutet Volz. Gemeinsam zogen Vater und Sohn los, machten sich bei einer Brauerei schlau und ließen das Bier frischweg herstellen. Und es schmeckte. Herb und süffig zugleich. Vor 8 Jahren meldete er das Patent an und verkaufte vorerst nur im Fass. Irgendwann hatten die Kunden eine Idee: „Mensch, Volz, kannste uns des Bier net auch uff de’ Flasch’ anbiede’?“ Gefragt, getan. Besonders die Verbindung zur Region ist dem Getränkehändler wichtig. „Jawoll“, prosten sich die Volzens zu. Bier sei schon immer ihre Leidenschaft und eine Herzblutangelegenheit, erzählen sie stolz. www.getraenke-volz.de