Von Marc Peschke. Fotos Heinrich Völkel und Andrea Diefenbach, Archiv Sohm, Hartmut Jahn.
Der Urknall einer weltweiten Kunstbewegung ereignete sich vor fünfzig Jahren in Wiesbaden. Bis heute weiß niemand so wirklich, was Fluxus ist. Das muss gefeiert werden … Was Fluxus ist? Das können selbst eingeschworene Fluxisten nicht beantworten. „Das Wichtigste ist, dass niemand weiß, was es ist. Es soll wenigstens etwas geben, das die Experten nicht verstehen. Ich sehe Fluxus, wo ich auch hingehe”, erklärte der Fluxus-Künstler Robert Watts einmal. Immerhin eines ist gewiss: Wiesbaden wird in diesem Sommer zum Zentrum der internationalen Fluxus-Bewegung. Wieder einmal. Denn offiziell angefangen hat alles hier. Vor 50 Jahren.
1962 war das Museum Wiesbaden Schauplatz der Geburt von Fluxus – als Gründungsakt gelten die dreiwöchigen „Fluxus Festspiele Neuester Musik“, organisiert von dem bei der US-Army arbeitenden Architekten und Künstler George Maciunas. Weltbekannt wurde vor allem die Nummer mit dem Steinway-Flügel, den fünf Fluxisten im Vortragssaal malträtierten und zersägten: ein symbolischer Akt von Antikunst, eine respektlose Neudefinition des Kunstbegriffs. Das war der Sound zu einer neuen, „fließenden“ Freiheit. Doch die Flügel-Performance hatte auch ganz praktische Gründe: Geld zum Abtransport war keines da. Kleinholz war günstiger zu entsorgen. Ein Beitrag der Hessenschau vom 22. September 1962 zeigt ein irritiertes, verwirrtes Publikum. Damals konnte man noch richtig schockieren!
Die Errungenschaft der gleichzeitig in Japan, Amerika und Europa operierenden Fluxus-Bewegung ist vor allem ihr multimedialer Ansatz: Musik, Performance, Bildende Kunst, Literatur und Theater verschmolzen zum Gesamtkunstwerk. Ansonsten sagt Fluxus nicht mehr als „fließen“: permanente Bewegung. „Fluxus-Amusement“, so definierte Pionier Maciunas, „soll einfach, unterhaltend und anspruchslos sein, sich mit Belanglosigkeiten beschäftigen, weder besondere Fähigkeiten noch zahllose Proben erfordern, weder handelbar noch institutionalisierbar sein”. Ergo: Fluxist konnte jeder sein.
Wenn man es versteht, ist es zu spät!
Fluxus soll auch Spaß machen, wie der Wiesbadener Fluxus-Sammler und Mäzen Michael Berger immer wieder betont. Und selbst für Experten muss Fluxus irgendwie unverständlich bleiben. Die vielleicht beste Antwort, was Fluxus eigentlich sei, hat der Künstler Willem de Ridder gegeben: „Fluxus: Wenn man es versteht, ist es zu spät!“
Regelmäßig wurden in Wiesbaden runde Fluxus-Geburtstage gefeiert. 2002 sagte Kurator René Block: „Fluxus hat die verschiedensten Einschätzungen und Interpretationen erfahren: Von der Geringschätzung als unseliges Chaos über den Vorwurf der puren Provokation bis hin zur Überhöhung als einzig mögliche Kunstform. Sicher ist, dass Fluxus sich über die Jahre hinweg als eine bis heute jung gebliebene Anschauung erwiesen hat.“
Museumsdirektor will anarchischen Geist zeigen
2012 kommt das Festival ohne übergeordneten Kurator aus. „FLUXUS AT 50“ heißt die Schau im „Originalschauplatz“ Museum Wiesbaden. Wie zeigt man Fluxus? „Nicht ganz einfach“, sagt Museumsdirektor Dr. Alexander Klar. „Fluxus“, sinniert er, „ist das tägliche Leben.“ Die Ausstellung solle so „anti-Objekthaft wir möglich“ sein. Der anarchische Geist von Fluxus, sein interdisziplinäres Wesen soll eingefangen werden – ein Blick zurück, aber auch einer in die Gegenwart und Zukunft gewagt werden. Das Publikum wird – auch durch einen besonderen Fluxus-Audioguide – selbst zum handelnden Künstler, zum Performer. Vor dem Museum wird Benjamin Patterson einen Fluxus-Pavillon realisieren. Dieser soll als Aufenthaltsort, zentraler Informationspunkt sowie als Café und Mediathek dienen. Hier werden Performances stattfinden, hier soll man sich treffen, hier soll Fluxus gefeiert werden. Man erwartet – zeitgleich zur „dOCUMENTA(13)“ in Kassel – Besucher aus aller Welt.
Aus der Weltmetropole ins Wiesbadener Westend
Patterson, der am 29. Mai seinen 78. Geburtstag feiert, ist die zentrale Figur des Festivals, ein vielbeschäftigter Künstler, vor allem im Fluxus-Jahr 2012. Der seit Anfang der neunziger Jahre fest in Wiesbaden lebende US-Amerikaner ist ein klassischer Avantgardist: Er war seiner Zeit oft um Dekaden voraus. Das Multitalent, 1934 in Pittsburgh geboren, ließ sich nie einengen. Der studierte Musiker spielte einige Jahre Kontrabass in verschiedenen Orchestern, 1960 zog er nach Köln – und stürzte sich in die zeitgenössische Musikszene. 1962 organisiert er mit Maciunas die „Festspiele Neuester Musik“ in Wiesbaden. Bald zog er nach Paris, dann nach New York, wo er stellvertretender Kommissar für Kultur wurde. Nach 25 Jahren in der Weltmetropole kehrte er 1990 nach Wiesbaden zurück, wo er bis heute im Westend lebt und arbeitet. Die Verleihung des Wiesbadener Kulturpreises in diesem Jahr kommentiert er im Gespräch so: „Damals, 1962, hätten sie uns am liebsten im Rhein versenkt, heute bekommt man für Fluxus einen Preis!“ Fluxus, sagt er, ist „offene Interpretation“, „ständige Überraschung“.
Im Sommer fluxt es allerorten
Wenn Wiesbaden Fluxus feiert, dann richtig. Diesmal sind mehr Institutionen und Kultureinrichtungen beteiligt denn je, Gelder kommen unter anderem auch von der Kulturstiftung des Bundes. Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz freut sich: „Es ist großartig, dass sich so viele Kunst- und Kulturinstitutionen zusammengefunden haben. So konnte ein großes und vielfältiges Kulturpaket zusammengestellt werden, in dessen Genuss nicht nur die Bürger unserer Stadt kommen werden, sondern auch die vielen Besucher.“ Und so fluxt es in Wiesbaden einen ganzen Sommer lang, ab Juni geballt, mit Ausstellungen, Vorträgen, Performances, Konzerten, Filmen, Lesungen, Theater sowie und Kinder- und Jugendaktionen.
„Das Neben- und Miteinander der verschiedenen Aktivitäten ist eine wunderbare Sache, spiegelt es doch die von Fluxus eingeforderte Öffnung der Kunst in die soziale gesellschaftliche Dimension“, schwärmt auch Elke Gruhn vom Nassauischen Kunstverein: „Besonders erfreulich ist die Kooperation mit dem Museum Wiesbaden. Erstmals nach 50 Jahren erhalten die Protagonisten der ersten Stunde mit ihren Werken wieder Einlass.“ Eine vom Wiesbadener Klangkünstler Axel Schweppe kuratierte Ausstellung im Bellevue-Saal zeigt Instrumente und Zeichnungen von Joe Jones. Vor allem seine legendären, zum Teil motorisierten Musikmaschinen sind international bekannt geworden. Sie erzeugen, so der Kurator, „poetische Momente voller Überraschung und Unvorhersehbarkeit“. Kinder können als Nachwuchs-Fluxisten aus Kartons, Dosen, Blechdeckeln und Röhren eigene Rhythmusmaschinen bauen.
Die Bedeutung von Fluxus für Wiesbaden unterstreicht das vom Nassauischen Kunstverein in Kooperation mit der Stadt vergebene Stipendium „Follow Fluxus“, das mit 10.000 Euro dotiert ist. Der jeweilige Stipendiat lebt in Wohn- und Atelierräumen des Kunstvereins. Ab Juni werden die „Interventionen“ des diesjährigen Stipendiaten Stefan Burger sichtbar werden, bevor der Künstler ab September in einer Einzelpräsentation seine Ausstellung eröffnet.
Ebenfalls im Nassauischen Kunstverein wird am 2. Juni die erste deutsche Retrospektive von Patterson unter dem Titel „Ben Patterson – Born in the State of FLUX/us“ eröffnet – unter anderem mit Arbeiten, die schon im Jahr 1962 entstanden sind. Seine Kunst führt bis heute den Fluxus-Gedanken auf humorvolle, hintergründige Weise weiter. Die Ausstellung – nach Houston und New York ist Wiesbaden die einzige europäische Station – versammelt Werke aus etwa fünfzig Jahren. Auch neue und neueste Arbeiten direkt aus dem Atelier des Künstlers in der Westendstraße werden gezeigt. Und natürlich die Installation „Ben’s Bar. Why People Attend Bars: To Be Heard, To Be Seen, To Be There”, seit 2007 als Dauerleihgabe im NKV: ein beachtliches Sammelsurium vieler Dinge, die zu einem guten Teil aus Antiquitätengeschäften der New Yorker Canal Street stammen. Patterson kommentiert, das Werk sei zu einer Zeit seines Lebens entstanden, in der er „viel Zeit in Bars“ verbrachte. Warum? „Um gesehen zu werden, um gehört zu werden, um da zu sein.“
Ben Patterson laboriert in seiner Ausstellung
Innerhalb seiner eigenen Ausstellung wird Patterson andere Fluxuskünstler einladen – in eine Art Fluxus-Labor, wo Performances und Aktionen stattfinden. Patterson versteht Fluxus als „kollektive Episode“ und so soll auch eine von ihm entwickelte Meinungsumfrage im Internet klären helfen, was uns Fluxus heute bedeuten kann. Elke Gruhn, künstlerische Leiterin des Nassauischen Kunstvereins: „Für die meisten Wiesbadener wird es eine erste Begegnung mit der vielschichtigen Kunst des weltweit agierenden Benjamin Patterson sein – sicherlich eine erhellende!“
Ute und Michael Bergers Liebe zu Fluxus reicht in die siebziger Jahre zurück. Ihre Sammlung wuchs und bald wurde in Wiesbaden-Erbenheim auch ein Ort dafür gefunden: 1986 wurde das „Fluxeum“ in einer alten Kirche eröffnet, das damals erste Museum für Fluxuskunst. Heute ist die Kirche das Depot der hochkarätigen Sammlung. Immer wieder haben Ute und Michael Berger auch die Wiesbadener Aktivitäten rund um Fluxus als Mäzene unterstützt. 2002 gründeten sie den Verein „Freunde der Fluxuskunst“ und bis heute pflegen sie enge Kontakte zu vielen Fluxus-Künstlern. Sie betreiben in Erbenheim das hochironische, kuriose „Harlekinäum“: ein „Lachmuseum“. Jüngst wurde im alten Pfarrhaus noch das „Klooseum“ eröffnet.
Auch Schloss Freudenberg versteht sich in diesem Jahr als ein Fluxus-Kunstwerk. Auf dem Programm stehen tägliche Fluxus-Aktionen: 366 Tage Fluxus-Musik, Fluxus-Führungen, ein Fluxus-Gedeck im Schlosscafé und jeden Tag um 16.33 Uhr eine „öffentlicher Fluxus“ in der Eingangshalle.
Das Staatstheater führt im Museum „SAM“ von Katharina Schmidt auf. Das von Tilman Gersch inszenierte Stück erinnert an die extremen Performance-Arbeiten des Künstlers Tehching Hsieh. Das Stadtmuseum beteiligt sich mit einer Ausstellung über die Geschichte der Fluxus-Bewegung und thematisiert die engen deutsch-amerikanischen Beziehungen, die Wiesbaden nicht zufällig zum Fluxus-Zentrum werden ließen.
Und das alles ist nur ein Teil der Ausstellungen und Präsentationen, die in diesem Sommer in Wiesbaden zu sehen sein werden. Ein Veranstaltungsheft und die Webseite der Stadt informieren über alle Programm-Details. Benjamin Patterson lächelt nachdenklich, wenn er auf 50 Jahre Fluxus zurückblickt: „Wir hatten Pre-Fluxus, Fluxus, Post-Fluxus und bald auch Future-Fluxus. Und wir werden auch Eternal-Fluxus haben.“ Fluxus – eine Geschichte, die nie aufhört.
Was in diesem Jahr alles stattfindet und wann und wo, steht auf der soeben live geschalteten Homepage www.fluxus50wiesbaden.de
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