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Armut trifft viele Wiesbadener Kinder und Jugendliche: „Oft fehlen schon ein paar Euro für die Fahrkarte“

Fast 32 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Biebrich sind von Armut betroffen, die Arbeitslosigkeitsquote liegt mit fast 8 Prozent über dem Wiesbadener Durchschnitt. In Deutschland erlebt jedes fünfte Kind Armut oder lebt an der Armutsgrenze. Laut einer gerade veröffentlichten Analyse der Bertelsmann Stiftung sind das in Deutschland 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die Corona-Krise verschärft die Situation. Menschen aus Wiesbaden, die in Kitas, Schulen oder Kinder- und Jugendzentren arbeiten, erleben Kinder- und Jugendarmut hautnah, zum Beispiel Gabi Reiter: Sie ist Leiterin des Kinder-Jugend- und Stadtteilzentrum (KiJuZ) Biebrich, das täglich Anlaufpunkt für etwa 50 bis 60 Kinder ist. Im Interview erzählt sie von ihren Erlebnissen in ihrer täglichen Arbeit.

Wie zeigt sich Kinder- und Jugendarmut in Ihrer täglichen Arbeit?
Wir erleben fehlende oder mangelnde Fürsorge der Eltern, aber auch materielle Armut, die etwa anhand der Kleidung sichtbar wird, aber auch bei der fehlenden Freizeitgestaltung: Kinobesuche, Mitgliedschaften im Verein, Stadterkundungen oder Museumsbesuche sind nie oder kaum möglich. Oft fehlen schon ein paar Euro für eine Fahrkarte.

Gabi Reiter leitet das Kinder-Jugend- und Stadtteilzentrum (KiJuZ) Biebrich, das täglich Anlaufpunkt für etwa 50 bis 60 Kinder ist.

Wie unterstützen Sie Betroffene?
Durch das Engagement der Initiative der Lebensmittelrettung, mit der wir kooperieren, wird regelmäßig gekocht und manchmal auch Essen zum Mitnehmen verteilt. Im Kinderzentrum gibt es einen Mittagstisch und Hausaufgabenbetreuung für angemeldete Grundschulkinder. Im „Laden Parkfeld“ wird zudem eine Hausaufgabenunterstützung angeboten, die auch während des Lockdowns digital weitergeführt wurde.

Welche Möglichkeiten schaffen Sie außerdem?

Unsere Ferienreisen, Seminare, Exkursionen oder die Internationalen Kinder- und Jugendbegegnungen sind kostenfrei oder sehr günstig. So ermöglichen wir Kindern jenseits des Alltags Erfahrungen zu machen, die sie aus ihren Elternhäusern nicht kennen. Wir unterstützen Eltern bei der Antragstellung zur Übernahme der Kosten. Es gibt leider Kinder und auch Jugendliche, die noch nicht mal 5 Euro erhalten, um etwa an einer Übernachtung oder einem anderen Ausflug teilnehmen zu können. Oder es fehlen 50 Euro, wenn es um Ferienreisen geht.

Welche konkrete Unterstützung oder Veränderung wünschen Sie sich, um den Herausforderungen von Kinder- und Jugendarmut besser begegnen zu können?
Der Umgang mit Geld ist in den Familien ein großes Problem: fehlendes Planungsverhalten, keine Kontrollmechanismen, mangelnde Haushaltsführung. Hier muss man ansetzen. Die Familien müssen lernen und bestärkt werden, bewusster mit ihren Ressourcen umzugehen. Ein kostenfreier ÖPNV für bedürftige Familien oder kostenfreie Mitgliedschaften in Vereinen wären darüber hinaus wünschenswert.

Wie haben Sie sich im KiJuZ auf die Corona-Pandemie eingestellt?
Wir haben auf digitale Formate und Ansprache umgestellt. Jetzt, wo wieder soziale Kontakte möglich sind, können Kinder und Jugendliche auch mit einem/r Mitarbeiter*in etwas unternehmen – natürlich mit Abstand, aber dafür mit viel Herz.

Hintergrund:
Fast 32 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Biebrich sind von Armut betroffen, die Arbeitslosigkeitsquote liegt mit fast 8 Prozent über dem Wiesbadener Durchschnitt. Die Mitarbeiter*innen des KiJuZ helfen bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, bieten Beratung und Hilfe in Krisensituationen und fördern mit ihren Angeboten die Stärken von Mädchen und Jungen. Gabi Reiter leitet das KiJuZ in Trägerschaft der Stadt Wiesbaden seit 30 Jahren.

(sun/Interview: Nicole Nestler/Bilder: Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, privat)

3 responses to “Armut trifft viele Wiesbadener Kinder und Jugendliche: „Oft fehlen schon ein paar Euro für die Fahrkarte“

  1. Erschreckend, dass in dem Interview in erster Linie ein Fehlverhalten der betroffenen Familien als Problem genannt wird (die können halt nicht sparen, nicht mit Geld umgehen etc.). Wer von Sozialleistungen lebt, hat nicht nur einfach zu wenig Geld für Klassenfahrten und gesundes Essen, sondern wird oft auch noch stigmatisiert und für sein Elend selbst verantwortlich gemacht. Da ist einfach nichts zu sparen, Leute. Finde ich schade, weil das Kijuz wichtige, tolle Arbeit macht. Ein anderer Blick auf die Familien und die strukturellen Ursachen von Armut statt Victim Blaming wäre schön.

    1. Liebe Clara, ich verstehe den kritisierten Punkt.
      Weder Gabi Reiter noch das KiJuZ würden die „Schuld“ einseitig bei den betroffenen Familien suchen. Der Aspekt wird daher auch nicht als Schuldzuweisung thematisiert, sondern es wird ein notwendiger Unterstützungsbedarf in diesem Bereich benannt.
      Für solche Veröffentlichung muss aber natürlich auch immer fokussiert und zuspitzt werden. Das ist in dem Fall vielleicht unglücklich gelaufen.
      Nichts desto trotz ist dies aber eben doch auch eine Erfahrung, die in der praktischen Arbeit gemacht wurde. Da tauchten nicht nur bei diesem Interview auch kritische Aspekte auf… Es war unser Anliegen in dieser Reihe ehrlich aus der Praxis zu berichten. Aber ich nehme das ernst. Danke

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