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Aufatmen mit aber: Wiesbadens Kulturszene bleibt von Kürzungen verschont – auf den ersten Blick

Klare Botschaften rund um die Haushaltsverhandlungen in Wiesbaden auch im Kulturpark am Schlachthof. Foto: Dirk Fellinghauer

Von Dirk Fellinghauer.

Die Verzweiflung war groß, der Protest intensiv und kreativ. Und er hat sich gelohnt. Die Kulturszene der Landeshauptstadt bleibt – wie auch der soziale Bereich – von angedrohten und befürchteten Kürzungen verschont. Nach langen, aufreibenden Haushaltsverhandlungen verkündeten die Vorsitzenden der Kooperations-Fraktionen Grüne, SPD, Linke, Volt im Rathaus: Keine Kürzungen der institutionellen Zuschüsse, keine Abstriche vom Status quo 2023.

Griffe und Kniffe

Geschafft haben Wiesbadens Haushaltspolitiker:innen das lange Undenkbare mit ihrerseits kreativen und manch überraschenden Griffen und Kniffen: nur ein Haushaltsjahr statt Doppelhaushalt und zum Beispiel Schieben des Multimillionen-Projektes Rathaus-Sanierung, Erhöhung der Gewerbesteuer um 1,3 Prozent, Einführung „Nachhaltigkeitsbeitrag Wassersparen und Klimaschutz“ (90 Cent pro Kubikmeter), Anpassung Elternbeiträge für Kita-Mittagessen und Betreuungsgebühren, Sparvorgabe 5 Prozent Sachkosten und 5 Prozent Energie in der kompletten städtischen Verwaltung, keine neuen Stellen in der Stadtverwaltung, Reduzierung im ESWE-Liniennetz, Abruf Mittel der städtischen Holding WVV.

Ein fast schon euphorisches Aufatmen war in Wiesbadens freier Kulturszene zu spüren, Erleichterung nach bangen Wochen mit vielen schlaflosen Nächten: (Wie) können wir überleben? Mit etwas Abstand schleicht sich nun auch manches „aber“ ein.

Kulturszene dankt Politik

„Das Verhandlungsergebnis schafft deutlich erleichternde Klarheit“, kommentiert der AK Stadtkultur, der Zusammenschluss eines Großteils der frei-gemeinnützigen Träger Wiesbaden, und spricht auch von „Dankbarkeit allen gegenüber, die in ihren Fraktionen, im Kulturbeirat und in der Öffentlichkeit für die Kultur gestritten haben“. Es sei dem Vierer-Bündnis in Wiesbaden hoch anzurechnen, dass ihm – mit dem ausdrücklich vermittelten Ansatz: „Den Bestand nicht verlieren“ – die Investition „in die Menschen und Betriebe, die sich in der Zivilgesellschaft für den Zusammenhalt, kulturelle Bildung und Attraktivität engagieren“, wichtig sei. Der Arbeitskreis Stadtkultur hatte in starker Einigkeit mit Plakaten, Gesprächen und Aktionen die Öffentlichkeit auf die Bedeutung der Wiesbadener Kulturlandschaft aufmerksam gemacht und vor den Folgen von Kürzungen gewarnt.

Bipolare Auswirkungen

Auf den zweiten Blick rücken die Probleme in den Fokus, die jetzt auf alle Kulturträger zukommen. Für sie sei die Wirkung der Stagnation der Förderung bipolar: Positiv, da es keine Kürzung gibt. Negativ, da die Förderung seit jeher vergleichsweise gering sei und bei vorhersehbar steigenden Kosten Defizite drohten. In Erinnerung an einen von einem breiten Konsens von Kulturpolitik und Kulturbetrieben getragenen Kulturentwicklungsplan – die Mittel für dessen Umsetzung wurden auf 200.000 Euro gestutzt – bedeute das Ergebnis eine faktische Kürzung, („Stadt hatte Dynamisierung der jährlichen Förderbeträge auf der Grundlage der Preisindexsteigerung des Vorjahres zugesagt“), Aufgabe der Planungssicherheit, Nicht-Umsetzung der der Empfehlungen des vom Kulturamt beauftragten externen Fachkuratoriums für die Höhe der institutionellen Zuschüsse 2024/25.

Aus für „Wiesbaden tanzt“ und Kunstsommer

Welcher Spielraum den Kulturträgern bleibt, die ihr Angebot bisher nur mithilfe der in 2024 stark gekürzten städtischen Projektfördermittel leisten können, sei noch nicht absehbar. Fest steht, dass auch städtische Kulturaktivitäten nicht verschont werden. „Wiesbaden tanzt“ und Kunstsommer etwa werden komplett strichen, erfuhr sensor auf Nachfrage.

„Lachendes und weinendes Auge“ im Kulturbeirat

Auf der letzten Sitzung in diesem Jahr diskutierten in dieser Woche auch die Kulturbeiratsmitglieder über die Ergebnisse der Haushaltsberatungen zum Kulturhaushalt für das Jahr 2024. Auf Nachfrage des Beirats erläuterte Kämmerer und Kulturdezernent Dr. Hendrik Schmehl die Ergebnisse der Haushaltsberatungen für den Kulturhaushalt. Gekürzt wird demnach durchaus an einigen Stellen im Kulturhaushalt, u.a. bei den freien Projektmitteln, die von 500.000 € in diesem Jahr im Haushalt 2024 auf 150.000 € zusammengestrichen wurden.

„Wir nehmen die Ergebnisse mit einem lachenden und einem weinenden Auge zur Kenntnis“, resümiert Dorothée Rhiemeier, stellvertretende Vorsitzende des Beirats. „Lachend, weil das zunächst im Raum stehende Ausmaß an Kürzungen für die Kultur abgewendet werden konnte. Dafür spreche ich auch in meiner Rolle als Stadtverordnete einen Dank an die aktive Kulturszene aus, die sich in der schwierigen Lage sachlich, transparent und gewinnbringend in den Prozess eingebracht hat. Weinend, weil es dennoch auch schmerzhafte Einschnitte für die Kultur geben wird und die verlässliche Planbarkeit für die Kulturbetriebe weiterhin nicht gegeben ist.“

Projektmittel für Kultur von morgen

Eine besondere Bedeutung misst der Beirat den freien Projektmitteln im Kulturhaushalt bei. Aus diesem Grund empfiehlt das Gremium, nicht verausgabte Mittel aus dem Kulturhaushalt 2023 zur Verstärkung für 2024 zur Verfügung zu stellen und nicht in die allgemeine Finanzwirtschaft der Stadt zurückfließen zu lassen. „Mit den Projektmitteln, die auch von nicht-geförderten Einrichtungen und Personen beantragt werden können, finanzieren wir die Kultur von morgen. Hier finden oft wichtige Innovation und Experimente statt“, bekräftigt Rhiemeier die Wichtigkeit der Mittel.

Kulturszene wird weiter mitreden

Mit der Entscheidung für einen einjährigen Haushalt anstelle des üblichen Doppelhaushalts wird schon bald wieder und weiter diskutiert werden. Der Arbeitskreis Stadtkultur kündigt bereits sein Mitreden an, wenn der Etat 2025 ab März 2024 konzipiert wird. In diesem Zusammenhang erinnert der AK auch an die Feststellung des Kulturbeirats vom Oktober 2023 – „Die bestehende kulturpolitische Förder- und Verteilungssystematik ist ursächlich für die aktuelle Problemlage“- und die Aufforderung an die Kulturpolitik, „eine Fördersystematik zu entwickeln, mit der alle anerkannten und seit Jahren erfolgreichen Kulturakteure gleichbehandelt werden – unabhängig davon, ob sie in öffentlich-rechtlicher oder frei-gemeinnütziger Rechtsform aufgestellt sind.“

Aufatmen? Wohl eher Luft holen!