Text Kea von Garnier. Fotos Simon Hegenberg
Wiesbaden ist die vielleicht einzige Stadt Deutschlands, in der ein „First Dog“ im Rathaus seinen eigenen Platz im OB-Büro hat. Auch jenseits der Schlagzeilen kümmern sich die Wiesbadener um Tiere in der Stadt, sei es als Halter, im Beruf oder als Ehrenamtler.
Es dauert circa dreißig Sekunden. Dann tritt er ein, der Knopfaugeneffekt. Treue braune Augen verfolgen die Besucher des Tierheims mit sehnsuchtsvollen Blicken, die von kraulenden Händen oder atemlosem Ballspiel auf grünen Wiesen erzählen. Damit im Überschwang der Tierliebe keine übereilten Entscheidungen getroffen werden, steht Tierheimleiterin Nadine Bernardy den Suchenden zur Seite. So wie heute einem jungen Paar, das seinem Hund einen Spielgefährten aussuchen will. Die anvisierte Labradorhündin interessiert sich beim ersten Hundedate aber nicht so recht für den Rüden, und überall gibt es lange Gesichter. Doch Frau Bernardo kennt ihre Pappenheimer und weiß Rat: „ Ich bringe ihnen noch mal den Ayk, das könnte besser passen.“ Und wirklich, kaum wird der schwarze Mischling von der Leine gelassen, toben die beiden Hunde über die Wiese, dass dem Betrachter schwindlig wird! Wer weiß –vielleicht beginnt hier gerade eine Freundschaft fürs Leben?
Im Tierheim Wiesbaden kann man aber selbstredend nicht nur auf den Hund kommen: Neben Hunden und Katzen erfreuen sich vor allem Kleintiere wie Meerschweinchen und Kaninchen immer größerer Beliebtheit. Die intensive Betreuung der tierischen Gäste durch die 20 Mitarbeiter verschlingt rund 2700 Euro pro Tag. Ohne die zahlreichen ehrenamtlichen Gassigeher, Katzenschmuser und Pflegestellen wäre die Arbeit kaum zu stemmen. Bei der Fundtieraufnahme gibt es durchaus mal ungewöhnliche Stippvisiten wie eine von der Feuerwehr abgelieferte, ausgewachsene Schnappschildkröte. Das Tier „saß neben einer Bushaltestelle“ lautet es im Anzeigentext. Die Schildkröte durfte schließlich zum deutschlandweit einzigen privaten Halter dieser nicht ungefährlichen Tiere umsiedeln.
Vermittlungsstopp vor Weihnachten
Aus guten Gründen gibt es vor Weihnachten einen Vermittlungsstopp im Tierheim, denn leider landen immer wieder Tiere als Geschenke unterm Christbaum. „ Für eine glückliche Vermittlung ist es unumgänglich, dass alle Menschen, die später mit dem Tier Kontakt haben, vorher ihr Einverständnis geben“, so Bernardy. Wer in der Adventszeit etwas Gutes für die besten Freunde der Menschen tun möchte, dem sei die Fressnapf-Aktion empfohlen: Am Weihnachtsbaum mit Spendenkugeln ist jede Kugel mit einem Foto und dem Weihnachtswunsch des Tierheimtiers gestaltet. Hier können nach Herzenslust Spielzeug, Futter oder Pflegeprodukte ganz individuell verschenkt werden.
Fans von Wildtieren kommen in Wiesbaden in der Fasanerie auf ihre Kosten, Sommers wie Winters gewähren Luchse, Waschbären und Wisente in dem großen Gelände jährlich etwa 250000 Besuchern Einblicke in ihre Lebenswelt. In Wiesbaden geht Tierpark aber auch noch kuscheliger. Im Tiergarten Mainz-Kastel im Biotop Petersberg, mit nahtlosem Übergang zum benachbarten Cyperus Naturpark, erleben große und kleine Tierfreunde ehemalige Zirkustiere, aufgepäppelte Frettchen oder flauschige Hasen ganz hautnah. Sabine Böhringer, Vorsitzende des 1968 gegründeten „Vereins zur Erhaltung und Förderung des Tiergartens Mainz-Kastel“, ist stolz auf den in den 1950er Jahren entstandenen lebendigen Treffpunkt für Tier und Mensch, den sie schon seit Kindesbeinen kennt und liebt.
Ziegenbock Travolta ist der Chef im Ring
Kindermagnet ist der Streichelzoo, in dem Ziegenbock Travolta ganz klar der Chef im Ring ist. Seine Ziegenschar hat übrigens ebenfalls teilweise Hörner. „ Dass nur Böcke Hörner haben und Ziegen nicht, ist ein Märchen“, räumt Sabine Böhringer mit einem Klischee auf. Überhaupt sei es manchmal erschreckend, wie wenig Großstadtkinder über Tiere wissen. Von einer Gruppe 12-jähriger Mädchen, die den Tierpark kürzlich im Rahmen einer Geburtstagsparty besuchten, sahen einige Teenager das erste Mal in ihrem Leben ein Schaf. In der naturpädagogischen Ausrichtung des Parks, der den direkten Kontakt mit den Tieren ermöglicht, sieht Böhringer deshalb auch ihre Hauptaufgabe. Von der Straße aus nicht einsehbar, befinden sich im hinteren Teil des zwei große Ententeiche, Unterwasserheimat stattlicher Koikarpfen und Schildkröten, sowie Inselparadies der Gänsefamilien – abends werden letztere allerdings in ihr Gehege gebracht, denn in Kastel herrscht Fuchs-Alarm. Für Wiesbaden jedenfalls ist der Tiergarten eine echte Bereicherung, die jedes Jahr immerhin rund 10.000 Besucher anlockt.
Nicht alle Tiere in der Landeshauptstadt sind auf den ersten Blick so sichtbar wie die Vierbeiner in Kastel. Auf 2500 bis 3000 verwilderte Katzen schätzt Monika Schernau, Vorsitzende der Arbeitsgruppe Verhütung von Katzen-Nachwuchs (kurz VKN), den Bestand der in Wiesbaden lebenden Tiere. Katzen sind exzellente Nachwuchsproduzenten, und so vermehren sich die herrenlosen Exemplare immer weiter – unkastrierte Freigänger verschärfen diese Problematik zusätzlich. Der Verein hat sich die Eindämmung der Fortpflanzung und die Betreuung der wilden Katzen zur Aufgabe gemacht. Werden unbekannte Katzen an den rund 20 Futterstellen gesichtet oder an den VKN gemeldet, rücken die Mitglieder mit Lebendfallen aus. Mitunter werden das lange Nächte im Auto, denn die Katzen haben mit dem Menschen oft schlechte Erfahrungen gemacht und sind sehr vorsichtig. Die Tiere werden auf Chip und Tätowierung untersucht und, sofern kein Besitzer auszumachen ist, beim Tierarzt kastriert.
Freiwillige Ehrenamtler für Futterstellen oder Fangaktionen werden immer gebraucht. „ Festes Schuhwerk und Geduld sind gute Grundvoraussetzungen“, schmunzelt die zweite Vereinsvorsitzende, Renate Weber. Von der anstehenden Novellierung des Tierschutzgesetzes erhoffen sich die Frauen, dass die Kastration von Freigängern endlich rechtlich verpflichtend eingeführt wird. Bis dahin kommt es im nächtlichen Wiesbaden wohl weiter zu teilweise kuriosen Situationen: Da wird ein 80-jähriges Vereinsmitglied auch mal nachts von der Polizei im Straßengrün aufgelesen, weil sie die Futterschalen bevorzugt zu später Stunde befüllt, wenn die Hunde der Spaziergänger als Futterneider nicht mehr unterwegs sind. Etwas geruhsamer geht es an der Futterstelle in den Schrebergärten zu. Dort unterbricht die sonntägliche Stille das Geräusch eines nahenden Autos, das vielen spitzen Öhrchen hier bereits genauso vertraut ist, wie die lockende Stimme der Fütterin: „ Tooooommy! Liiiisa!“ Wo eben noch träges Herbstlaub und Novembernebel die Szenerie bestimmten, kommt plötzlich Leben in die Gärten. Von allen Seiten nähern sich Katzen mit knurrendem Magen der Futterstelle. Besonders zahme Streuner-Exemplare werden über den VKN mit Schutzgebühr und Vertrag in verantwortungsbewusste Hände weitervermittelt. Der Verein freut sich nicht nur zur Weihnachtszeit über Geldspenden, Futterspenden und überflüssig gewordene Müslischälchen.
Die Wut des Schlangenbesitzers
Katzen sind vertraute Klassiker unter den Haustieren. Das sieht bei exotischeren Tierarten wie Schlangen schon anders aus. Sie brauchen nicht nur ein spezielles Klima, auch die Lebendfütterung mit Mäusen oder Ratten ist nicht jedermanns Sache. Die Boa Constrictor Imperator aus Mexiko ist nicht ganz so gewaltig wie der Name es vorgaukelt, die kleine Schwester der Würgeschlange Boa Constrictor wird aber immer noch bis zu 1,60m lang. Bülent Dülger hat sein Exemplar bereits seit 1992. Im warmen Mikroklima des Terrariums mit hoher Luftfeuchtigkeit fühlt sich die Schlange offensichtlich wohl, denn wie bei Kaltblütern üblich, kann sie selbst keine Wärme erzeugen und ist somit auf externe Wärmequellen angewiesen. Dass immer wieder Schlangen im Zoohandel von Menschen gekauft werden, die kein Fachwissen über diese sensiblen Tiere haben, macht Bülent Dülger wütend: „ Da wird den Kindern eine Schlange zu Weihnachten geschenkt und ein halbes Jahr später ist das Tier krank oder tot. Das ist verantwortungslos.“ Früher besaß der Schlangenfan mehrere Tiere, sogar Schlangennachwuchs gab es im Hause Dülger. Einen Namen hat Bülent seiner langjährigen Mitbewohnerin trotzdem nicht gegeben, seine Frau nennt sie manchmal Esmeralda. Auf Zuruf kommen wird die Boa aber so oder so nicht- Schlangen können im klassischen Sinn nicht hören, sie nehmen nur Vibrationswellen, zum Beispiel der nächsten tippelenden Mäusemahlzeit, auf dem Boden wahr.
Wo Mensch und Tier gemeinsam leben, kommt es, wie in allen Beziehungen, auch zu Konflikten. Das Anwaltsehepaar Cäsar-Preller hat sich aus der Liebe zum Tier auf die Rechte jener Lebewesen spezialisiert, die sich nicht selbst vertreten können. Was zum Beispiel geschieht mit dem gemeinsam gekauften Familienhund, wenn Herrchen & Frauchen sich scheiden lassen? Nicht selten kommt es dann zum Machtkampf über den Verbleib.
Mediation für Scheidungstiere
„Es gibt Fälle, in denen die Tiere als Beziehungsaufrechterhaltungsmittel fungieren, weil sie Kontakt zum Ex-Partner garantieren. Oder aber ein wütender Verlassener sinnt auf Rache, frei nach dem Motto: Wenn ich dich schon nicht haben kann, kriege ich wenigstens den Hund!“, erzählt Birgit Cäsar-Preller aus ihrer Tätigkeit als Tiermediatorin in der Kanzlei. Denn nicht alle Fälle müssen vor Gericht enden. Oft hilft es schon, die Streitparteien an einen Tisch zu bringen und einen Kompromiss zu suchen. Und auch wenn es gerne verdrängt wird, spricht Joachim Cäsar-Preller auch das Thema Testament an: Wie das Tier nach dem Ableben der Besitzer versorgt werden soll, sollte zusammen mit einem Fachmann schriftlich festgehalten werden. Vererben kann man seinem Haustier die eigenen Millionen übrigens nicht. Was Mooshammer seiner Daisy zukommen lassen wollte, ist auch für Ottonormalbürger nicht möglich- wohl aber kann ein Verwalter bestimmt werden, der dann eine bestimmte Summe im Sinne des Tieres verwenden muss.
Dass Haustierhaltung ungeahnt teure Folgen haben kann, musste eine Hundebesitzerin schmerzlich erfahren, die ihren Liebling während eines Metzgereibesuches vorm Geschäft anleinte. Das wartende Tier hielt eine sich nähernde Rentnerin für eine willkommene Abwechslung von der öden Warterei und forderte sie freundlich, aber lautstark zum Spielen auf. Die ältere Dame erschrak derart, dass sie das Gleichgewicht verlor und stürzte – die Behandlungskosten der zahlreichen Knochenbrüche beliefen sich auf 12.000 Euro – zu zahlen von der Hundehalterin. Weil Tierbesitzer grundsätzlich für derlei Schäden haftbar gemacht werden können, empfiehlt das Anwaltspaar, das auch gemeinsam das im Kosmos Verlag veröffentlichte Buch „Das können wir doch klären – Rechtshilfe und Streitvermeidung für Hundehalter“ geschrieben hat, Hundebesitzern, eine Tierhalterhaftpflichtversicherung abzuschließen. Um sich für die Rechte der Tiere stark zu machen, braucht es auch nicht gleich ein Prädikatsexamen. In der Villa Justitia bietet die Kanzlei ab kommenden Januar die Möglichkeit, sich zum Tiermediator ausbilden zu lassen.
Die Faszination für Tiere bleibt für den Menschen ungebrochen, das ist in Wiesbaden nicht anders als im Rest der Welt. Und vielleicht gilt das, was Zoologe Alfred Brehm einst sagte, auch heute noch: „ Noch sind wir weit entfernt, das tierische Leben erkannt zu haben, und noch studieren wir an Tieren, in der Absicht, uns selbst kennenzulernen“.
www.katzeinnot.com, www.tierschutzverein-wiesbaden.de, www.tierpark-mainz-kastel.de, www.caesar-preller.de