Interview: Dirk Fellinghauer. Foto: Umweltamt Wiesbaden.
Nachhaltig produzierte Kleidung aus Bio-Baumwolle, Kaffeekapseln aus biologisch abbaubaren Holz-Kunststoffen – da kann man doch ruhigen Gewissens zugreifen, oder? Allzu oft wird unser Konsumverhalten durch den Einsatz von vermeintlich „nachhaltigen Materialien“ legitimiert. „Es gibt keine nachhaltigen Materialien – Rethink, Reduce, Reuse, Recycle“ lautet der Vortrag des Nachhaltigkeitsexperten und Materialscouts Karsten Bleymehl beim 12. Nachhaltigkeitsdialog. Der Gründer und Inhaber von MRC – Materials Research & Consulting spricht am 7. November um 18.30 Uhr in der IHK. Das Umweltamt lädt alle Interessierten zur Veranstaltung und zur offenen Diskussion mit Karsten Bleymehl und Umweltdezernent Andreas Kowol ein. Vorab haben wir mit Karsten Bleymehl gesprochen. Im sensor-Interview mit Dirk Fellinghauer plädiert der Fachmann für eine konsequente Kreislaufwirtschaft („Circular Economy“). Er konstatiert: „Mit dem Begriff Nachhaltigkeit wird viel Schindluder getrieben“ und fragt: „Was ist passiert, dass wir so hemmungslos konsumieren?“. Gleichzeitig stellt er in Sachen Umdenken fest: „Es geht rasend schnell“.
Nachhaltige Materialien – vom Duschmittel über Zahnbürsten und Einweggeschirr bis zu Klamotten – sind im Trend und verschaffen immer mehr Menschen ein gutes Gewissen im Alltag und beim Shoppen. Nun kommen Sie nach Wiesbaden mit der Behauptung: „Es gibt keine nachhaltigen Materialien“. Warum sind Sie der Spielverderber?
Mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ wird leider so viel Schindluder getrieben, dass es meines Erachtens nötig ist, etwas Aufklärung zu betreiben. Wenn ein Produkt zum Beispiel aus natürlichen Materialien wie Holz, Papier oder Biopolymeren hergestellt wird, denken viele Konsumenten, dass es nur gut für die Umwelt sein kann. Einweggeschirr ist und bleibt aber eine Umweltsünde, egal ob es aus Maisstärke hergestellt ist oder als biologisch abbaubar beworben wird. Die eingesetzten Rohstoffe gehen nach einmaligem Gebrauch verloren. Mich stört, dass mit dem guten Gewissen der Verbraucher Kasse gemacht wird, sich damit aber die prekäre Rohstoff- und Abfallsituation nicht verbessert.
Ihre Lösung lautet „Rethink, Reduce, Reuse, Recycle“. Vier knackige Schlagworte. Und wie, bitteschön, soll das in der Praxis funktionieren?
Ganz einfach. Erst nachdenken und dann handeln. Reduzieren, Wiederverwerten, Recyceln. Wir haben ein generelles Konsumproblem. Der Mensch braucht und will ständig etwas. Ein neues Handy, einen neuen Computer, neue Schuhe … .Vor hundert Jahren besaß ein Haushalt in Deutschland durchschnittlich 100 Dinge. Heute sind es 10.000! Machen uns Dinge etwa glücklich? Was ist da passiert, dass wir so hemmungslos konsumieren? Wenn jeder Mensch auf der Erde so leben würde wie die Deutschen, bräuchten wir drei Erden, um die Ressourcen dafür bereitzustellen. Das ist kein Modell mit Zukunft.
Wie gut gelingt es Ihnen ganz persönlich?
Es gibt immer Luft nach oben und ich versage in manchen Situationen natürlich auch. Was ich jedoch feststelle ist, je länger man sich mit einer Sache beschäftigt, desto besser wird man.
Wo lauern die größten „Materialsünden“, welches sind die vermeidbarsten?
Es liegt nicht singulär an den Materialien. Es ist der falsche Einsatz der Werkstoffe in den Produkten. Es macht zum Beispiel keinen Sinn, biologisch abbaubare Kunststoffe für Verpackungen oder Produkte einzusetzen, die in der Realität nie im Kompost landen oder gar gut etablierte Recyclingrouten verunreinigen. Wir arbeiten auch mit biologisch abbaubaren Kunststoffen, aber eben nur da, wo es auch Sinn macht.
Wo machen biologisch abbaubare Kunststoffe Sinn?
Zum Beispiel bei Mulchfolien die nach dem Einsatz auf dem Acker einfach untergepflügt werden. Ziel einer Circular Economy ist es, die Entnahmen aus der Natur zu minimieren, Produkte und Materialien, so lange es geht, in der Nutzungsphase zu halten und Ressourcenverluste zum Beispiel durch Verbrennung oder Deponierung zu minimieren.
Wie viel bringt es eigentlich wirklich, Otto-Normal-Konsumenten die Laune am Shopping und Konsum zu verderben? Wo können denn, in weitaus größerem Ausmaß, Wirtschaft und Industrie ansetzen, um Materialien zu reduzieren?
Es funktioniert nur, wenn sich alle Beteiligten engagieren. Wir stecken mitten in einem globalen Wandel. Jede Branche und jedes Unternehmen ist davon betroffen. Viele große Unternehmen handeln bereits und verkünden als Zielsetzung nicht weniger als CO2-Neutralität. Das Commitment zur Circular Economy ist in allen Industriebereichen weit verbreitet. Kunststoffhersteller weltweit kaufen zum Beispiel Recyclingunternehmen und sehen „Abfall“ als eine neue Rohstoffquelle.
Sie sind mit Ihrem Unternehmen ganz nah dran am „Materialgeschehen“. Wie ist Ihre Wahrnehmung: Findet ein Umdenken statt? Und wenn ja, tut es dies rasant und rechtzeitig genug?
Es geht rasend schnell. Unternehmen wie Lidl oder Aldi wollen ihren Verpackungsverbrauch bei den Eigenmarken bis 2025 um 20 bzw. 30% senken und stellen sich mit ausgearbeiteten Maßnahmenkatalogen an die Spitze der Mission: Vermeiden, Wiederverwenden, Recyceln. Auch die Politik hat mit dem neuen Verpackungsgesetz in Deutschland dazu beigetragen, dass es nun endlich voran geht. Ich bin sehr optimistisch und rate jedem Unternehmen sich zu engagieren. Kreislaufwirtschaft ist kein Modetrend, sondern die Zukunft.
Sie versprechen mit Ihrem Unternehmen „maßgeschneiderte Materiallösungen“ – welches war Ihre bisher abgefahrenste, aufregendste, spektakulärste Materiallösung?
Leider darf ich über die meisten Projekte, bei denen ich mitgearbeitet habe, nicht sprechen. Aktuell beeindrucken mich Materialien, die neben positiven Umweltauswirkungen auch unmittelbar für soziale Gerechtigkeit sorgen. Die indische Firma „Plastics for Change“ hat durch den Einsatz einer einfachen App für Preistransparenz im Recyclingsektor Indiens gesorgt. Dadurch werden gleich drei Probleme gelöst. Die Ärmsten der Armen werden vor Ausbeutung durch Zwischenhändler geschützt und fair entlohnt, es entsteht weniger Müll vor Ort, und die gesammelten Plastikverpackungen gelangen nicht in die Flüsse und Meere. Unternehmen wie BodyShop, die diese Rezyklate einsetzten, können auf neu produzierten Kunststoff verzichten und engagieren sich unmittelbar sozial.
Welches sind Ihre drei Top-Tipps in Sachen Materialoptimierung bzw. -reduzierung für
- Verbraucher:
Sich zu fragen: Brauche ich das wirklich?
- Unternehmen:
Sich zu fragen: Funktioniert meine Unternehmens-/Produkt-/Materialstrategie in einer Circular Economy?
- Politik:
Sich zu fragen: Habe ich alles getan, um Anreize für Ressourcenschonung und Emissionseinsparung zu unterstützen?
Und für uns als leidenschaftlich gedrucktes Magazin? Tut sich – jenseits von der Umstellung auf digitale Medienerzeugnisse – im Papierbereich etwas, um guten oder wenigstens besseren Gewissens der „Print lebt“-Philosophie zu frönen?
Ich hoffe, Sie drucken auf Recyclingpapier? Ansonsten gibt es neben Papier aus Elefanten- und Schafsdung auch Papier aus heimischem Heu was neben dem natürlichen Geruch auch eine verbesserte CO2-Bilanz besitzen soll.
Zur Person: Karsten Bleymehl, Inhaber, MRC-Materials Research & Consulting.
Karsten Bleymehl studierte nach seiner Lehre zum Industriemechaniker für Maschinen- und Systemtechnik an der Hochschule der Bildenden Künste, Saarbrücken Produktdesign. Diplomarbeit: „Neue Materialien im Produktdesign“. Durch die Zusammenarbeit mit den Brüdern Francesco und Alessandro Mendini sammelte er in Mailand erste internationale Erfahrung als Produktdesigner. Seit Eröffnung der deutschen Niederlassung der renommierten New Yorker Materialbibliothek Material ConneXion, in Köln, leitete Bleymehl von 2005 bis 2013 die Abteilung Library & Materials Research von Material ConneXion Cologne.
2013 eröffnete Karsten Bleymehl sein eigenes Beratungsunternehmen, MRC – Materials Research & Consulting. Neben kundenspezifischen Material- und Technologierecherchen sowie dem Projektmanagement von F&E- Projekten bietet MRC Workshops und Vorträge zu neuen Materialien und Technologien an.
Im Wintersemester 2009/10 erhielt Karsten Bleymehl einen Lehrauftrag an der FH Köln und unterrichtete die Masterklasse (M.A.) im Bereich Corporate Architecture. Seit 2013 hat er einen Lehrauftrag (Materialdesign & Technologie) für Masterstudenten im Fachbereich Integriertes Produktdesign an der Hochschule Coburg.