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Editorial Juni-sensor: Bemerken Sie auch, wie Wiesbaden sich entsockelt?

Alt trifft Jung, Leidenschaft trifft Leidenschaft. Regisseur Wim Wender (77) plauderte im Wiesbadener Caligari-Kino einen Nachmittag lang mit Jugendlichen aus aller Welt, hier eine Schulklasse aus Paris, über seine und über ihre Filme. Foto: Dirk Fellinghauer

Bemerken Sie auch, wie Wiesbaden sich entsockelt,

liebe sensor-Leser:innen? Mehr und mehr von dem, was lange bestimmten Kreisen in Wiesbaden, also etablierten, arrivierten, konservierenden Kreisen, vorbehalten war, zumindest von ihn maßgeblich bestimmt und geprägt war, öffnet sich.

Mehr und mehr treten, mal von sich aus, mal von der Stadt und Verantwortlichen ausdrücklich animiert, neue junge frische ambitionierte und tatendranggeladene Akteure hervor, die bislang unter dem Wiesbaden-Radar unterwegs waren. Und die, wenn sie sich denn mal zu Wort meldeten, gerne überhört wurden von jenen, die sich nicht aus ihrer Wiesbaden-Ruhe bringen lassen wollten.

Da ändert sich was. Das tut sich was.

Beispiel Maifestspiele. Klar ist dieses Internationale Theaterfestival, das gerade seine 127. (!) Ausgabe feierte, nach wie vor auch ein Ort tradierter Rituale, mit Pagen, rotem Teppich, teuren Roben und Sektchen, Sehen und Gesehen werden. Die Maifestspiele sind inzwischen aber auch Plattform für die freie Wiesbadener Szene, die Außergewöhnliches, Aufregendes, Aktuelles und Zeitgemäßes beisteuert zu diesem traditionsbeladenen Festival.

Beispiel Kunstsommer. „Runter vom Sockel, rein in die Stadt“ ist die Überschrift unserer Titelgeschichte über sieben Wochen, die Wiesbaden mal wieder aufmischen dürften. Auch hier wieder: eine erfreuliche Einbeziehung der Wiesbadener und ganz speziell auch der jungen Kunstszene. Und dass die Stadt die Leitung dieses Megaprojektes mit 460.000-Euro-Etat und 150 Programmpunkten von 70 Künstler:innen an 23 Orten einer 1993 geborenen jungen Frau, Jana Dennhard, anvertraut, ist einfach nur großartig.

Beispiel Walhalla. Auch das Dauerthema wird endlich von der jungen freien Szene entdeckt, und die junge freie Szene wird zunehmend von maßgeblich Verantwortlichen entdeckt und einbezogen. Ein starkes Zusammentreffen war hier „Der visionäre Frühschoppen“ Mitte Mai im bis auf den letzten Platz besetzen Walhalla im EXIL – hören Sie mal rein in den Podcast „Walhalla-Zukunft – Auf der Suche nach dem Best-Case-Szenario“. Ach ja: Vom „Meine Walhalla Geschichte“-Wettbewerb haben Sie gehört? Schauen Sie mal hier.

Ein aktuelles „Jugend vor“-Beispiel aus der Stadtpolitik. Ein 24-jähriger wird in einer Landeshauptstadt Chef einer Regierungsfraktion. Das wäre lange, in Wiesbaden vielleicht noch mehr als andernorts, kaum denkbar gewesen. Silas Gottwald übernimmt das Amt des SPD-Fraktionsvorsitzenden im Rathaus, in einer insgesamt seit der letzten Kommunalwahl deutlich verjüngten Stadtverordnetenversammlung. Auch das macht sich bemerkbar.

Junges, Neues, Anderes, wohin man schaut in unserer Stadt. Das tut Wiesbaden gut.

Dass ich den Wahrnehmungs-, Einbeziehungs- und Verantwortungsturbo der Jungen feiere und hoffe, dass es so weitergeht, soll nicht heißen, dass die Älteren und Alten aufs Abstellgleis gehören. Im Gegenteil. Im vergangenen Monat durfte ich mehrfach dem 84-jährigen Volker Schlöndorff begegnen (verpassen sie nicht die ihm gewidmete Ausstellung im Bellevue-Saal – und die vorerst letzte Gelegenheit, ihn livehaftig in seiner Geburtsstadt Wiesbaden zu erleben, heute um 18.30 Uhr im Caligari).

Der gerade 85 gewordene Wiesbadener Kunstsammler Frank Brabant servierte mir in seiner museumsgleichen Wohnung Kaffee – und Geschichten.

Wim Wenders – 77 Jahre, einer meiner Lieblingsregisseure und im persönlichen Erleben nach wie vor eine einfach durch und durch coole Socke – war kürzlich in Wiesbaden und plauderte im Caligari-Kino einen Nachmittag lang mit dreihundert 8- bis 18-Jährigen aus aller Welt über seine und – das war ihm noch wichtiger – über deren im Rahmen des bemerkenswerten Programms  „Le Cinéma, cent ans de jeunesse“ (CCAJ) innerhalb eines Schuljahrs entstandene Filme. Was für ein Erlebnis, diesen Mann und seine ansteckende Leidenschaft aus nächster Nähe zu erleben.

Alte weise Männer, die nicht nur was zu erzählen haben und besonders gut erzählen können, sondern die nach wie vor auch nach vorne schauen. Interessiert, hellwach, energiegeladen, frisch und erfrischend – da können sich dann manche Junge auch schon wieder eine Scheibe abschneiden.

Dirk Fellinghauer, sensor-Verjünger