Von Jürgen Heimann. Fotos Michael Wagner.
Sein Atelier ist der Himmel, rasant schrumpfende 4000 Meter über dem Erdboden. Seine Motive rasen mit 300 km/h Mutter Erde entgegen. Michael Wagner ist Fotograf unter extremen Bedingungen.
Es gibt Tausende hervorragender Fotografen in Deutschland, aber nur wenige wie den Wiesbadener Michael Wagner. Als Freifallfotograf ist der 42-jährige ein gefragter Mann unter Skydivern. „Freeflying“ ist eine zumindest in Deutschland noch relativ junge, ungemein rasante Variante des Fallschirmspringens, die extrem hohe Anforderungen an die Akteure stellt. Die Springer erreichen im freien Fall vertikale Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 300 Stundenkilometern. Da bleibt wenig Zeit für Korrekturen und zum Posieren. Im Gegensatz zum „normalen“ Fallschirmspringen sind sie nicht an eine fixe Fluglage gebunden, sondern können und sollen diese variieren. Basisfiguren sind der „Headdown“, eine Art Kopfstand, „Standup“ (Stehen) und „Sitfly“ (Sitzen). Wenn diese miteinander kombiniert und variiert werden, sieht dieses Ballett der Lüfte mitunter aus, als würde Major Tom völlig losgelöst mit RoboCop Samba tanzen. Die irrwitzig scheinenden Choreografien erfolgen nach exakt vorgegebenen Bewegungsprofilen. Jeder Handgriff, jede Drehung, jede Rotation, jedes Manöver ist festgeklopft. Und jeder Sprung in verschiedene Blöcke unterteilt, die so kryptische Bezeichnungen wie „Caterpillar“, „Double Sit to Feetgrip“ oder „Double Grip Vice-Versa“ tragen.
35 Sekunden für den flotten Dreier
Beim „Freeflying“ besteht die Crew je nach Wettbewerbsklasse aus zwei oder vier Springern und einem Videomann, der das Ganze hautnah dokumentiert und auf dessen Arbeit sich später die Jury stützt. Der Kamerakollege ist also von immenser Bedeutung für Erfolg und Misserfolg. Die Absprunghöhe beträgt 4000 Meter. Für einen „flotten Dreier“ bleiben nach dem Exit – der Mann mit der Kamera springt Sekundenbruchteile vor den anderen – genau 35 Sekunden, um sein Programm abzuarbeiten. Danach wird „separiert“: die einzelnen Teammitglieder fliegen in Freundschaft auseinander.
Es ist schon nicht jedermanns Sache, sich aus einem intakten Flugzeug zu stürzen. Dabei und während des freien Falls aber noch zu filmen und zu fotografieren, dazu gehört schon viel Erfahrung und Technik. Michael Wagner besitzt beides. Seit 2007 geht er im Luftraum vieler Länder Europas auf Fotosafari. Sein Equipment besteht aktuell aus einer GoPro Hero-3-Helmkamera für Videos, die während der gesamten Sprungs läuft, und einer zusätzlichen Spiegelreflexkamera (DSLR Canon 7D) für Fotos, die per Zungenauslöser aktiviert wird. Die Pixel-Beute, die der selbstständige Entwickler für E-Learning-Software so mit nach unten bringt, genügt nicht nur den hohen Erwartungen der Preisrichter, sondern ist auch für sich allein genommen von wuchtiger Ausdruckskraft; bestechend, authentisch, ungekünstelt – kunstvoll. Es sind Schnappschüsse voller Drive und Leidenschaft, spannend, situationskomisch, dramatisch, emotional und mitunter im wahrsten Sinne des Wortes haarsträubend. Auf Sekundenbruchteile verdichtete Momentaufnahmen, die den gesamten ästhetischen Reichtum des Fallschirmspringens visualisieren.
Bei Wettbewerben ist es Michael Wagners Job, die einzelnen Phasen des Sprungs seiner Kameraden lückenlos abzubilden. Verpasst er dabei auch nur eine Sequenz, oder ist diese nachher nur unzureichend sichtbar, bedeutet das Punktabzüge. Patzt der Filmer, können die beiden Anderen so gut drauf sein, der Durchgang ist für die Katz. Deshalb sind fähige Freifallkameraleute bei Meisterschaften auch so begehrt, als fester Bestandteil des Teams. Des Wiesbadeners Heimatbasis ist Breitscheid im Lahn-Dill-Kreis. Im Dreiländereck von Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen unterhält der Verein „Skydive Westerwald“ eines der am meist frequentierten Sprungzentren der Region. Diesem Club entstammen mit Matthias Kraft und Saskia Richter auch die beiden anderen Mitglieder seines Teams. Mit ihnen sicherte sich der Wiesbadener Pixel-Athlet letzten Herbst bei der Fallschirmsprung-DM in der Einsteigerklasse der „Freeflyer“ mit seinem Team den Vize-Meistertitel.